Achtes Capitel. - Die vierzig Reiter, die den andächtigen Bittgang der Ramsauer hindern sollten, kamen zu spät, um den heiligen Zeno vor Zulauf zu behüten. Bei der Haller Grenzverschanzung im Schwarzenbachtal war die Mautschranke hinter dem letzten Karren der Ramsauer schon gefallen. ...

Achtes Capitel. - Die vierzig Reiter, die den andächtigen Bittgang der Ramsauer hindern sollten, kamen zu spät, um den heiligen Zeno vor Zulauf zu behüten. Bei der Haller Grenzverschanzung im Schwarzenbachtal war die Mautschranke hinter dem letzten Karren der Ramsauer schon gefallen. Drei Gadnische Hofleute setzten im Schuß des Rittes über den Grenzbaum hinüber. Dann rasselten die Torbalken herunter. Und während die ausgesperrten siebenunddreißig Reiter ein zorniges Geschrei erhoben, kam es innerhalb des Tores zwischen der Besatzung des Grenzwalles und den drei Abgeschnittenen zu einem Scharmützel, in dem der heilige Zeno Sieger blieb; aber zwei von seinen Soldknechten mußten ins Gras beißen, was bei dieser mitternächtigen Finsternis kaum zu sehen war.

Die siebenunddreißig hatten sich bis zum Berchtesgadnischen Grenzwall zurückgezogen, der ein paar hundert Schritte von der feindlichen Mauer entfernt lag. Sie waren in großer Sorge um die abgeschnittenen Genossen und hielten Kriegsrat. Der junge Hundswieben, der noch den Pulverdampf der Annasusanna in den Nasenlöchern hatte, wollte stürmen und gebärdete sich so berserkerisch, daß ihn seine besonnenen Stiftsbrüder nur mit Mühe von diesem sinnlosen Beginnen abhalten konnten. Jeder Angriff war aussichtslos. Wohl zählte die Besatzung des feindlichen Werkes kaum mehr als ein Dutzend Helme. Doch bei der Enge des Tales konnte dieses Dutzend den Wall so lange halten, bis Verstärkung vom heiligen Zeno kam. Und die Gadnischen sahen auf dem Bord der Zenonischen Mauer das kochende Wasser in den Kesseln dampfen und die Pechkränze brennen.


Wie der erfahrene Malimmes im Runotterhofe, so hatte der staatskluge Franzikopus Weiß bei der Schwarzbachwacht des heiligen Zeno ein bißchen vorgesorgt für alle Fälle und hatte aus Herrn Otmar Scherchofers hilfreichem Reisewagen zwei Faustbüchsen mit Pulver und Blei zurückgelassen. Auf jeder Seite des Tores drohte solch eine mit roter Mennige angestrichene Blitzröhre.

Die Besatzung des Gadnischen Grenzwalles war ohne Feuerwerk. Wohl besaß der heilige Peter zu Berchtesgaden schon seit einigen Jahren acht Faustbüchsen. Die hatte man aber bei diesem Nachtritt nicht mitgenommen, weil der junge Hundswieben im Hirschgraben auch das letzte Körnlein Pulver verschossen hatte, das im Arsenal des Stifts aufzufinden war.

Aber die abgeschnittenen Kameraden im Stich lassen? Das ging nicht an. Man mußte parlamentieren. Herr Jettenrösch, der die hübscheste Pfennigfrau zu Berchtesgaden und vielleicht aus diesem Grund ein ruhiges Blut besaß, ritt mit dem weißen Fähnlein, begleitet von zwei Fackelträgern, vor die feindliche Mauer. Hier sah er beim Schein der Pechflammen drei Männerköpfe zur Strafe des Friedensbruches auf der Mauer stecken. Ohne seinen Antrag auszurichten, wandte er das Roß und ritt mit blassem Gesichte zurück.

In der Berchtesgadnischen Schanze entlud sich die Wut der Herren gegen den unglücklichen Wallmeister, der die andächtigen Bittgänger durch Tor und Schranke gelassen hatte. Der Mann verteidigte sich, es wären voraus die vielen Weiber und Kinder gekommen mit einer so lauten und inbrünstigen Litanei, daß man den Lärm der nachfolgenden Viehherden und Karren nicht hätte vernehmen können; solch eine fromme Wallfahrt durfte man doch nicht stören; und eh man Verdacht schöpfen konnte, waren an die zweihundert Mannsleut und Buben in Wehr und Eisen da, trieben Holzkeile in die Nuten des Falltores und sicherten den Durchzug des letzten Ochsen. Vierzehn Spießknechte – gegen zweihundert Männer? Und gegen die eignen Landsleute? Diese unanfechtbare Logik reichte nicht aus, um den Wallmeister der Berchtesgadnischen Schwarzbachwacht vor einem üblen Schicksal zu bewahren; er wurde seines Amtes entsetzt, an Händen und Füßen gebunden und auf einen Gaul geladen. Sechs Reiter blieben zurück, um bis auf weiteren Befehl die Besatzung der Schanze zu verstärken, zwölf Reiter wurden am Taubensee und in der Ramsau den Exekutierern beigegeben, die Herren mit dem übrigen Gefolge und mit dem gefesselten Wallmeister ritten nach Berchtesgaden.

Noch ehe sie heimkamen und Herrn Peter Pienzenauer den mißlichen Ausfall ihres Unternehmens berichten konnten, war aus der fürstlichen Kanzlei des heilgen Peter an die Adresse des heiligen Zeno ein höfliches Dankschreiben für die nachbarliche und barmherzige Hilfe abgegangen, die Herr Konrad Otmar Scherchofer dem Marimpfel und seinen Leidensgenossen geleistet hatte.

Als Herr Jettenrösch seine Meldung von den Ereignissen bei der Schwarzbachwacht erstattete, sprach der Propst einige Worte, die bitter ernst gemeint waren und doch einen heiteren Anklang an einen berühmten Spruch des römischen Kaisers Augustus hatten: „Ruppert, Ruppert, gib mir meine Ochsen wieder!“

Um die Mittagsstunde traf ein Pergament des heiligen Zeno ein, der den heiligen Peter von Berchtesgaden zu versöhnlicher Güte mahnte, sich kräftig der zu Reichenhall erschienenen Bittgänger annahm und den Strafvollzug wider drei Friedensbrecher unter Hinweis auf die einschlägigen Gesetze meldete. In diesem Pergamente war mit keinem Wort das unanzweifelhafte Recht des seligen Seppi Ruechsam erwähnt. Solches Schweigen entsprach der Staatskunst des Franzikopus Weiß; er hatte, zur Beruhigung der Ramsauer, den grau und rot gefleckten Hängmooser Weidebrief in Verwahrung des heiligen Zeno nehmen wollen; doch die eiserne Truhe, welche die Rechtsschätze der Gnotschaft enthielt, war im Verlaufe des andächtigen Bittganges verschwunden. Der Hinterseer Fischbauer, obwohl er sich als schlechter Seiler erwiesen hatte, war ein Albmeister von geriebener Schläue. Kaplan Franzikopus war nicht gut auf ihn zu sprechen. Herr Otmar lachte. –

Am Abend, als sich der Himmel über allen Bergen dunkel zu überziehen begann, kehrten die Gadnischen Exekutierer aus der Ramsau in das Stift des heiligen Peter zurück. Mit ihnen kamen auch der Vogt und sein berittener Geselle, völlig trocken; die beiden meldeten getreulich den Überfall und die Entführung des Bösewichtes, der den roten Hahn auf das nach dem Ableben seines einzigen Sohnes wieder an das Stift zurückgefallene Lehensdach gesetzt hatte; doch sie verschwiegen – als unwichtig – ihren Purzelbaum in den Bach und sprachen auch nicht von dem reichlichen Wasser, das in ihren Hosen gewesen. Nach dieser Meldung litt sogar das Bild, das sich Herr Peter Pienzenauer von den Geschehnissen in der Ramsau machte, an einer unheilbaren Verzerrung, und er traute von Stund an dem Amtmann Ruppert Someiner wenigstens die Fähigkeit zu, gefährliche und heuchlerische Menschen richtig einzuschätzen.

Die Exekutierer brachten – wie der Amtsschreiber Pießböcker notieren mußte – das Vieh aus den Ställen des Runotterhofes und des Schupflehens am Taubensee; item einige Kühe, Kalben und Öchslein, die man am Abend noch abstechen mußte, weil sie die Nacht nicht überlebt hätten; item ein paar Dutzend Schweine, die gesund und vergnügt waren; item sehr viele, starr am Gürtel hängende Gänse, Enten, Hühner und Tauben. Die milchenden Geißen hatten die Exekutierer nach altem Rechtsbrauch und aus Barmherzigkeit den Kranken und Greisen gelassen, auch das zur Notdurft des Lebens nötige Brot und Mehl, samt Schmalz und Salz. Doch alle versteckten Spargelder hatten sie aufgestöbert. Acht Reiter konnten sich sogar in vier rheinische Goldpfennige teilen, die sie in den Strümpfen einer alten Frau gefunden hatten. Diese acht Reiter richteten dem mit verbundener Faust umherwandelnden Marimpfel wunderliche Grüße von seiner Schwägerin aus, vom Weibe des Mareiner.

In der Nacht begann es grob zu schütten. Viele Tage währten diese ruhelos wechselnden Gewitter. Die Bäche traten über die Ufer, die Straßen wurden zu dickem Morast, um alle Berge und Wälder hingen die schweren Nebel. Während dieser nassen Tage wanderten zwischen Berchtesgaden und den armen Chorherren von Hall die protestierenden Pergamente hin und her. Mit jeder Antwort verschärfte sich die Tonart.

In der nächtlichen Kapitelsitzung, bei der man zu Berchtesgaden die Entgegnung auf ein drohendes Schreiben des heiligen Zeno beriet, kam es trotz allem Ernste der Zeit zu einer großen Lustigkeit. Sie wurde verursacht durch ein Papier, das am dunklen Abend dem Propste mit einem stumpfen Bolzen in die Stube geflogen war. Hellsehende Augen hätten den Gram und Zorn eines zerbrochenen Menschenherzens aus diesem Brief herausgelesen; doch auf die Gadnischen Chorherren, die ihn durch die Brille dieser üblen Tage lasen, wirkte er belustigend in seinem weitschweifigen Stil, der mit dem Schwulste hochtrabender Herrenworte überladen war. Ein Bauer – für den Gadnischen Hof ein dem Strang verfallener Meutrer und landflüchtiger Brandstifterkündete in diesem Brief seinem einstigen Lehensfürsten die Treu und sagte ihm Fehde an, wider Blut und Leben, wider Gut und Land. Der Brief war unterschrieben: „Runotter der Ramsauer, ehmals Richtmann der Gnotschaft in Treu und Redlichkeit, itzt, nach Gotteswillen Feind und Widerpart der Herren, so da Mißtreu und Unrecht heißen und so man vertilgen muß von der Welt.“

Doch eines mußten die lachenden Herren zugeben: Der Bauer, der diesen drolligen Brief verfaßt hatte, konnte sich eines geschickten Botengängers rühmen. Dieser Bote hatte sich von irgendwo außer Lands bis an das Gadnische Stift geschlichen und war den Augen aller Wachen entronnen. Und ein guter Armbruster mußte das gewesen sein, der die um den stumpfen Bolzen gewickelte Epistel in der Abenddämmerung von der Straße außerhalb des Hirschgrabens durch die kleine Fensterluke der Fürstenstube zu schießen verstand.

Der Fehdebrief des heiligen Peter wider den heiligen Zeno war geschrieben und lag, gesiegelt und in einer Blechkapsel verschlossen, zur Albsendung bereit. Nur besseres Wetter mußte abgewartete werden. Und um Zeit zu gewinnen und rüsten zu können, wechselte man hoch immer Pergamente mit gereiztem Inhalt, doch mit höflichen Anreden.

Zum Schaden für Land und Leute machte die Arbeit des Friedens Feierabend, und die Arbeit für den Krieg begann. Herren ritten davon, um Geld zu borgen, wo es zu kriegen war. Söldlingswerber wurden mit zärtlichen Verheißungen nach vielen Orten gesandt. In den Korn- und Haferkammern wurde lärmend geschanzt. Die Backöfen und Selchereien rauchten durch Tag und Nacht. Die Schneider bekamen Schwielen an den Fingern, und ruhelos hämmerten die Hufschmiede, die Schwertfeger und die Wehrklempner. Mit liebevoller Sorgfalt behütete man die Annasusanne und erhielt sie bei geölten Rädern. Steinkugeln wurden gemeißelt und mit Blei umgossen. Sechs Karren sandte man nach Salzburg, um Pulver zu holen; sie kamen nicht leer zurück; doch sie brachten nur Salpeter und Schwefel; der Salzburger sagte: Da es in den bayrischen Landen zwischen Herzog Ludwig und Herzog Heinrich bedenklich gäre, könne er aus Vorsicht seines trockenen Pulvers nicht entraten. In dieser Ausrede war ein Körnchen Wahrheit; seit dem Konzil in Konstanz – auf welchem Herr Ludwig im Bart bei Beredung alter Händel den Vetter Heinrich von Landshut als ›Sohn eines Kochs‹ beschimpft, und Herzog Heinrich diese Schmach in einem meuchlerischen Überfall mit sieben Schwertstreichen an seinem Vetter Ludwig gerächt hatte –, seit diesem heiligen Konzil zu Konstanz erschienen die Dinge zwischen Ingolstadt und Landshut sehr bedrohlich. Aber Salzburg hatte noch andere Gründe, sich in den Streit, der zwischen St. Peter und St. Zeno entbrannte, nicht hilfreich für den ersteren einzumischen. Jede Schwächung des Stiftes zu Berchtesgaden war für Salzburg eine Verheißung kommender Gelegenheiten, die sich nützen ließen. Und statt den Gadnischen Herren, die schon hoch in der Kreide standen, das, teure, fertige Pulver auf Borg zu geben, kreditierte man ihnen lieber den schlechten Salpeter und Schwefel, den der vorsichtige Salzburger Büchsenmeister nicht mehr zu vermahlen wagte.

Also wurden zu Berchtesgaden, in sicherer Entfernung vom Stifte, flink drei Pulvermühlen errichtet und zu ihrer Bedienung in der aus allen Ländern zusammengewürfelten Knappschaft des Salzwerkes die Leute gewählt, die von solchen Dingen einige Kenntnis hatten. Gleich zu Beginn der Arbeit flog eine der drei Mühlen unter dumpfem Donnerschlag in die Luft. Dabei wurden zwei Knappen getötet. Der eine war ein Schwabe, der verblutend noch sagen, konnte: „I hab mer aber scho älleweil denkt, es wird emal pumpere!“ Der andre, der nimmer sprach weil er keinen Kopf mehr hatte, war Ulrich Eirimschmalz der Menzer. Sein früher Tod hatte zur Folge, daß man im Berchtesgadner Land für einige Jahrzehnte vom Tagdieb Henrichen Gänsfleisch zu Gutenberg kein Wort mehr hören sollte.

Das grauenvolle Geböller hatte die Frommen im ganzen Lande abergläubisch gemacht. Sie versahen sich keiner guten Dinge von dieser Fehde wider den heiligen Zeno. Doch die Herren, da sie, mit wenigen Ausnahmen, nicht zu den Frommen zählten, blieben von solch törichtem Aberglauben unberührt und setzten feste Hoffnung auf ihre hundertachtundsechzig Söldner und wehrfähigen Holden, auf ihre guten Grenzschanzen, auf die acht alten und zwölf neugeschmiedeten Faustbüchsen, auf die liebe Annasusanne und auf die unanzweifelbare Tatsache, daß die Gadnischen im Rücken von der Salzburger Seite her Gefahr nick zu befürchten hatten. Auch beim Hallturm war nur eine kleine Scharmützelei, kein ernstlicher Angriff zu besorgen. Hier schob sich zwischen den heiligen Zeno und den heiligen Peter der Burgfrieden der bayrischen Feste Plaien als ein breiter Riegel herein. Und wie Herr Pienzenauer bereits erkundet hatte, gedachte der Burghauptmann von Plaien sowohl den Gadnischen, wie auch den Haller Chorherren jeden kriegerischen Durchzug durch das Gebiet seines Herrn, des Herzogs Heinrich von Bayern-Landshut, mit strenger Unparteilichkeit zu verwehren. So hatte man’s nur beim Schwarzenbache ganz allein mit dem heiligen Zeno zu tun, dem der heilige Peter von Berchtesgaden an Helmen, Rossen, Feuerwerk und Kriegsbereitschaft unzweifelhaft überlegen war.

Am Abend des 13. Juli – als der Regen versiegte und die Nebel sich zu heben begannen – übersandten die Gadnischen Herren, die nicht abergläubisch waren, dem heiligen Zeno den seit einer Woche in Bereitschaft liegenden Fehdebrief.

Gegen Mitternacht marschierten vom Hallturm dreißig Fußknechte ab, um die auf den nördlichen Hängen des Lattengebirges liegenden Bauernhöfe des heiligen Zeno, die ohne Berührung des bayrischen Landes zu erreichen waren, mit Krieg zu überziehen und zu brandschatzen. Die Bauern, von Franzikopus Weiß gewarnt, hatten sich rechtzeitig mit Weib und Kind und Vieh und Habe geflüchtet. In den leeren Stuben gab es keinen Kampf. Es gingen nur im Verlaufe dieses Nachtangriffes, bei dem die Nebel sich verzogen und die Sterne mit scheuer Neugier vom Himmel herunterblickten, achtundzwanzig Heustädel und sechzehn Lehenshäuser des Haller Heiligen in Flammen auf. Für Leute, die ferne drunten im Tal der Saalach wohnten, sah dieser erste Sieg des heiligen Peter aus, als wären vierundvierzig schöne Sterne vom Himmel auf die liebe Erde gefallen.

Im Grau des Morgens, der einen reinen Tag bescheren wollte, krachte auf der südlichen Seite des Lattengebirges, bei der Schwarzbachwacht, der erste ernsthafte Schuß der Annasusanne gegen das Torgemäuer des Haller Grenzwalles. Ein wundervolles Echo rollte über die steilen Waldgehänge des engen Tales hin. Fallende Steinbrocken polterten, und der heilige Zeno hatte ein böses Loch in seinem Mantelsaum. Die drei Mannsköpfe, die noch immer auf der Mauer staken und denen der vierzehntägige Regen die Haare glatt um die Schläfen frisiert hatte, machten bei geschlossenen Augen sehr kummervolle Gesichter.

Das Feuer der Gadnischen wurde, obwohl aus den Scharten, des feindlichen Walles, zwölf mennigrote Faustbüchsen drohten, von der Besatzung der Haller Schanze nicht erwidert. Und die Leute des heiligen Zeno deckten sich so gut, daß man nur ab und zu einen Helm hinter den Scharten huschen sah.

Der zweite Schuß der Annasusanne bohrte in die feindliche Mauer ein neues Loch, das flink wieder von innen mit Bruchsteinen zugestopft und verkeilt wurde.

Bis zur Mittagsstunde krachte die Annasusanne siebenmal. Immer wieder in dem engen Tal dieses wundervolle Gedonner mit rollendem Echo, indes die Sonne schön zu scheinen begann und den nassen Farbentopf der Welt in Frische glänzen machte. Doch an der feindlichen Mauer, obwohl sie schon sehr zahnlückig herüberguckte, wollte die Sache nicht flecken. War die Augsburger Kammerbüchse kein Meisterwerk? Oder fehlte dem zu Berchtesgaden fabrizierten Pulver die richtige Triebkraft? Mao sah, daß die Annasusanne noch sehr oft läuten mußte, bis da drüben eine sturmfähige Bresche entstehen würde.

Sigwart von Hundswieben, der als Büchsenmeister fungierte, wurde ungeduldig und hatte einen Einfall, den er als ›hannibalisch‹ bezeichnete. Im Kerne war’s ein ganz simples Rechenexempel: Soll man dreißig Gulden bezahlen, so muß man nicht dreißigmal einen Gulden auf den Tisch legen, man kann auch zehnmal je drei Gulden blechen.

Die brennheiße Annasusanne wurde mit kaltem Wasser gekühlt. Dann verabreichte man ihr die dreifache Ration Pulver. Man trieb den Holzklotz mit festen Schlägen ein und setzte drei Kugeln drauf. Da war die Annasusanne so gesättigt, daß ihr der letzte, mit Blei umgossene Steinbissen noch mit einem weißen Blink zum Munde herausguckte. Feinpulver wurde ins Weidloch gegeben, und auf des jungen Büchsenmeisters Kommando sollte der Luntenmann den langen, mit dem brennenden Schnürlein umwickelten Eisenzagel auf die Zündung senken. Diesem kriegegerischen Instrumente hatte Sigwart von Hundswieben in seiner scherzhaften Art den Namen ›Büchsenlebner‹ gegeben, weil dieser Funkenzagel im Schoß der Annasusanne hochzeitlich das feuersprühende Leben erzeugte.

Mit Ausnahme der Feuerwerker rückten alle Herren und Knechte vor den Wall, um bei Niederbruch einer starken Bresche gleich mit dem Sturm zu beginnen. Der erfinderische Büchsenmeister Hundswieben hatte sich auf eine Mauerkante geschwungen, um die Wirkung seines hannibalischen Einfalles besser erspähen zu können. Drüben hinter dem feindlichen Walle mochten die mit Bolzen und Pulver sparenden Helden des heiligen Zeno nichts Gutes ahnen; kein Helmbusch und keine Schaller war zu sehen; die gegnerische Mauer stand wie ausgestorben da und wartete des Schicksals, dem sie nimmer entrinnen konnte.

In Spannung und heiß erregt, lang den Hals streckend, kommandierte Sigwart von Hundswieben mit glockenheller Jünglingsstimme:

„Den Lebner an die Büchs!“

Eine Feuergarbe, ein grauenvoller Knall, ein Dröhnen der Berge, als wäre das Ende der Welt gekommen. Drüben rasselte das feindliche Gemäuer, die drei Köpfe mit den kummervollen Gesichtern verschwanden im qualmenden Mörtelstaub, das Tor des heiligen Zeno lag in Scherben, und mit dem Feldschrei „Hie Sankt Peter!“ begannen die Gadnischen Herren und Knechte den Sturm gegen die klaffende Bresche.

Von diesem Siegeslaufe blieb der junge Hundswieben ausgeschlossen. Er stand, wie von Schreck versteinert, gegen die Mauer gelehnt. Irgendein Fürchterliches mußte da geschehen sein. Während ihn der dicke Pulverdampf umqualmte, fühlte er etwas Heißes in seinem Gesichte. Das Blut rann ihm über Kinn und Brust herunter. Und als er mit scheuen Händen an sich herumtastete, vermißte er auch ein Stück seines Helmes, einen Lappen seines Haarbodens und dazu noch die Nasenspitze. Die Mauerkante, die jetzt ganz zerbröselt war, hatte ihn vor Üblerem behütet.

Aber wo war die Annasusanne? Der Platz, auf dem sie gestanden, war leer. Ihre Trümmer lagen in weitem Kreise zerstreut. Sie hatte bei diesem hannibalischen Schusse mehr geleistet, als man von ihr verlangte, hatte nicht nur nach vorne gegen den heiligen Zeno geschossen, auch nach rechts und links und nach hinten hinaus gegen den heiligen Peter. Die drei Feuerwerker lagen als regungslose Menschenpartikel in einer roten Lache.

Doch drüben bei der feindlichen Schanze hallte das Siegesgeschrei der Stürmenden. Jetzt ein kurzes, wunderliches Schweigen. Dann folgte ein wirrer Lärm, der sich mischte aus Zorngeschrei und Gelächter. Hinter der niedergebrochenen Tormauer lag ein Toter; sonst fanden die Sieger den Wallgang und das Mauthaus völlig geräumt. Nur die zwölf dräuenden Faustbüchsen waren noch da – hölzerne Brunnenröhren, die man mit Mennige rot angestrichen hatte. Und von der Schanze dehnte sich ein grüner, das ganze Tal von Wand zu Wand erfüllender See auf dreihundert Schritte hin. Der Feind hatte den Schwarzenbach durch einen Felsenwall gestaut und eine neue, feste Verschanzung hinter dem angelaufenen See errichtet, der das Land des heiligen Zeno vor jedem Einfall mit Rossen und schwerem Kriegsgerät behütete.

Draußen auf dem See, schon an die hundert Schritt weit, ruderte die kleine Besatzung der Mautschanze auf einem Balkenfloß der neuen Befestigung zu. Unter dem Geschrei der siegreichen Stürmer traten die Gadnischen Armbruster und Faustschützen an. Es schnurrte und knallte. Ein Hagel von Bolzen und Bleikugeln flog in den See hinein. Die Menge tat’s. Als die Floßbalken den Stauwall erreichten, trugen sieben leidlich gesunde Leute vier Schwerverwundete an das neue Ufer des heiligen Zeno.

Den Siegern blieb geringe Arbeit. Zu rauben gab es nichts. Man steckte das kleine Mauthaus in Brand und begrub die drei Köpfe mit kummervollen Gesichtern. Den Mann, den der heilige Zeno verloren hatte, warf man in den neuen See, um für die nahe Berchtesgadnische Schanze die Luft nicht durch Verwesung verpesten zu lassen.

Weiteren kriegerischen Unternehmungen war vorerst ein unbezwingbarer Riegel vorgeschoben. Über die steilen Waldgehänge des engen Tales brachte man weder Karren noch Roß hinüber. Und kletternde Fußknechte wären ein leichtes Ziel für die feindlichen Faustschützen und Armbruster geworden. Doch es war diesem sperrenden See, der dem heiligen Peter den Siegeslauf behinderte, auch etwas Gutes nachzusagen. Wie die Gadnischen da nicht hinüberkamen, so kam die Kriegsfurie der Herren von Hall auch nicht herüber. Man brauchte also in der Berchtesgadnischen Mautschanze keine große Besatzung zurückzulassen und konnte die Hauptmacht für die Ereignisse sparen, welche die Haller vermutlich an andrer Stelle vorbereiteten, weil sie hier am Schwarzenbach mit ihren Kräften so vorsichtig geknausert hatten.

Die drei Feuerwerker, denen der Heldentod beim letzten Knall der Annasusanne zu einem schnellen und schmerzlosen Vorgang geworden war, bekamen am Schwarzenbach ein gemeinsames Grab und Kreuz. Und so zog der heimkehrende Haupthaufe des heiligen Peter am Abend zu Berchtesgaden nur mit einem einzigen Blessierten ein, der ohne Helm geritten kam und auf soldatischem Leib einen jungen Frauenkopf mit weißer, nach aufwärts gerutschter Kinnbinde zu tragen schien.

Der Verlust der Kammerbüchse erregte in Berchtesgaden große Bestürzung bei Herren und Volk. Doch die Not ist ein Schmied, der die Schwachen zu Starken hämmert. Noch am Abend meldeten sich beim Propste zwei mutige Männer: ein Wagenschlosser, der eine neue Anna aus eisernen Stäben und Ringen schweißen wollte, und ein Erzformer, der eine neue Susanne aus Kupfer und Zinn zu gießen wagte. Weil es für solchen Guß an Speise fehlte, warf man noch vor Nacht eine schadhafte Glocke vom Turm der Pfarrkirche herunter.

Trotz der Hilfe, die sich da zeigte, blieb Herr Peter Pienzenauer sorgenvoll. Ein Späher hatte am Abend zwei Nachrichten gebracht, eine gute und eine böse. Die andächtigen Bittgänger aus der Ramsau, nachdem sie bei der Sperrung des Schwarzenbachtales um ihrer selbst willen kräftig mitgeholfen hatten und jetzt neben den Stiftsmauern zu Hall in Bretterschuppen und Zelten hausten, weigerten sich hartnäckig, mit bewaffneter Hand an einem Fehdezug gegen den heiligen Peter teilzunehmen; sie wollten nur fromm und gläubig zum heiligen Zeno beten, ihr Vieh betreuen und bessere Zeiten abwarten; sonst nichts. Das war die gute Nachricht, die einen Fehler in der staatsmännischen Rechnung des Franzikopus Weiß bedeutete. Aber sie stand in logischem Zusammenhang mit der bösen Kunde, daß Franzikopus am Morgen in Begleitung eines mit reichen Geschenken vollgepfropften Wagens nach Burghausen gezogen wäre, um Beistand bei Herzog Heinrich zu erflehen.

Goldene Geschenke pflegten in Burghausen immer zu wirken. Und da würde wohl eine hübsche Teilung beredet werden. Die Ramsau für den heiligen Zeno, das Land zwischen der Plaienburg und Bischofswies, vielleicht das ganze Gadnische Gebiet für Herzog Heinrich?

Propst Peter dachte in dieser Sorge an das gute alte Sprichwort: Stärker als zwei Wölfe ist der Bär.

Von den österreichischen Schirmvögten, die in der Ferne wohnten und mit den Hussiten zu schaffen hatten, war Hilfe in kurzer Frist nicht zu erwarten. Und Salzburg würde keinen Beistand leisten ohne schwere Verpfändung. Nur eine Hilfe gab’s: Man mußte den Bär über die Wölfe hetzen.

Ein verläßlicher Bote mußte reiten! Noch in der Nacht! Auf weitem Umweg durch das Straubinger Land nach Ingolstadt, zu Herzog Ludwig im Bart!

Fürst Peter wußte unter seinen Chorherren keinen, der ihm für solch einen gefahrvollen Ritt verläßlich genug erschien. Doch der bisherige Verlauf dieses Ochsenhandels hatte ihn bereits aufmerksam gemacht auf’ eine neue Kraft, in der sich Jugend und Besonnenheit miteinander zu paaren schienen.

Es war schon dunkle Nacht geworden. Klirrende Wachen machten die Runde, und in den Werkstätten des Stiftes wurde noch fieberhaft gearbeitet. In der Marktgasse hatten die vor den Schrecken des Krieges zitternden Bürger sich schon in ihre Häuser verkrochen und saßen hinter verriegelten Türen und geschlossenen Fensterläden. Nur an einem einzigen Haus der Marktgasse strahlte noch rötlicher Lichtschein aus einem Fenster zu ebener Erde. Herr Ruppert Someiner, seit vierzehn Tagen von einem krankhaft erscheinenden Ameisenfleiß befallen, saß zu später Stunde noch in seiner Amtsstube, addierte die neuen Schulden des Stiftes zu den alten und stöberte in vergilbten Pergamenten nach eingeschlafenen Rechten, die man wieder aufwecken und zu einem Goldsegen für das Stift verwandeln könne. Gefunden hatte er noch nichts. Doch von seiner ruhelosen Arbeit erwartete er mit Zuversicht einen raschen und mirakulösen Aufschwung des Berchtesgadnischen Landes.

Er war in eine Urkund aus alten Reiten, so vertieft, daß er den Klöppelschlag am Haustor, den Schritt des Knechtes und das Klirren des Riegels überhörte.

Als die Tür der Amtsstube sich öffnete und Fürst Peter im Licht der Lampe stand, verlor der Amtmann vorerst die Sprache. Und bevor ihm die Fähigkeit zurückkehrte, von seinen Goldmacherplänen zu reden, winkte der Propst mit der Hand. „Bleib, Ruppert! Bleibe bei deiner wichtigen Arbeit! Ich suche deinen Sohn. Wie geht es ihm?“

„Der Arm – sssssein Arm –“, Someiner, der seit vierzehn Tagen erschreckend abmagerte, schien auch vor der Gefahr zu stehen, ein Stotterer zu werden.

„So?“ nickte der Fürst. „Besser, also? Dann laß dich nicht stören, mein fleißiger Ruppert! Ich finde schon hinauf.“ Jede Antwort abschneidend, zog der Propst die Türe zu.

Droben, am Ausgang des Treppenschachtes begegnete er der weißen, aufgeregten Frau Marianne, die der Knecht von dem hohen Besuch, der ins Haus gekommen, verständigt hatte. Man sah ihr an, wie schwer sie unter dem schweigsamen, aber um so schmerzhafteren Kriege gelitten hatte, der seit zwei Wochen im Hause war und Vater und Sohn entzweite. Beim Anblick des Fürsten schoß ihr gleich wieder der Gedanke an eine neue Gefahr ins Herz. Auf die Frage des Propstes, wie es dem Kranken ginge, klagte sie: „Ach, gnädigster Herr, mit dem Buben hab ich ein Kreuz! Sein Arm, gottlob, der wird ja wohl bald wieder gut. Aber seine Seel will nimmer heilen. Allweil ist er so ein heller und froher Mensch gewesen. Jetzt ist er ein völlig andrer. Ist reizbar und jähzornig und hat kein Lachen nimmer. Die bösen Zeitläuft müssen ihm auf dem Herzen liegen wie ein Berg.“

Fürst Peter nickte stumm.

„Ich kenn mich in dem Buben schier nimmer aus. Ach, Herr! Noch nie ist ein böser Wunsch in mir gewesen. Aber den heiligen Zeno möcht ich jetzt am liebsten hinausschelten aus dem Himmel – Gott verzeih mir die Sünd!“ Frau Marianne öffnete die Stubentür und sagte sanft: „Schau, Bub, der gnädigste Herr ist da!“

Lampert, den linken Arm in schwarzer Binde, saß unter den flackernden Kerzen des Eisenreifens am Tisch, vor dem Kriegsbuche des Abraham von Memmingen. Er hob das ernste, blasse Gesicht mit den tiefliegenden Augen, die in schlaflosen Nächten heiß geworden. Beim Anblick des Fürsten sprang er vom Sessel auf.

„Wie geht’s dir, Lampert?“

„Gut, Herr!“ Lampert nahm den Arm aus der Binde. Seine Mutter wurde blaß und machte ihm hinter dem Rücken des Fürsten abwinkende Zeichen. Doch Lampert sprach weiter: „Bin ich nötig, so kann ich morgen in den Sattel steigen.“ Es lag noch immer ein rauher Schleier um seine Stimme; und wenn er sprach, kam immer wieder ein leichter Hustenstoß, wie von einem quälenden Reiz in der Kehle. „Mein rechter Arm ist gesund, der linke wird ausreichen für den Zügel.“

„Das hör ich gern. Aber dich brauche ich zu einem besseren Ding als zum Dreinschlagen. Hältst du dich kräftig genug für eine weite und anstrengende Reise?“

Frau Marianne hatte keinen Tropfen Blut mehr im Gesicht.

Lampert reckte sich. „Für alles, was nötige Arbeit ist!“ Diesem peinvollen Zerwürfnis mit dem Vater zu entrinnen, der ruhelosen Ängstlichkeit seiner Mutter und den quälenden Gedanken seiner untätigen Einsamkeit entrückt zu werden – das war wie Erlösung für ihn, wie Erfüllung einer brennenden Sehnsucht.

„Frau Marianne“, sagte der Fürst, „geh und richte, was dein Sohn für eine Reise braucht, die eine Woche dauern kann. In einer Stunde wird er reiten müssen.“

„Reiten?“ stammelte die Amtmännin. „In Feindesland?“

„Nein, gute Mutter!“ Der Propst lächelte. „Zur Beruhigung deiner Gluckenseele schicke ich deinen Sohn in friedsame Gegend.“

„Mutter“, fiel Lampert in Erregung ein, „ich bitte dich – das eilt.“

„Ja, ja, ja, Bub! So schau, ich geh doch schon!“ Frau Marianne huschte davon und klammerte sich an den Trost von der friedsamen Gegend, obwohl sie nur halb an diese Verheißung glaubte. Während sie in Lamperts Stube den Mantelsack und die Satteltaschen, packte, die nötigste Zehrung in einen Lederbeutel tat und sechs Goldstücke einzeln in den Saum des Wamses nähte, hörte sie unablässig aus der Wohnstube herauf den leisen Summ der beiden Männerstimmen. Was die zwei da bereden mochten? Frau Marianne hätte in der Qual ihrer Muttersorge ein Mäuschen sein und sich durch den Kammerboden hinunterbeißen mögen, um lauschen zu können. Bei solchem Wunsche wurde sie von einer galligen Erbitterung befallen. Diese Zeiten! Und diese Menschen, diese Narren, diese Ochsen! Und weil sie nicht wissen, was Redlichkeit und Frieden heißt, weil sie Torheit und Schlechtigkeit aufeinanderbauen wie Kinder die hölzernen Klötzlein, drum muß eine Mutter ihren Sohn, den sie mit Schmerzen geboren, den sie mit aller Zärtlichkeit einer guten Seele umklammert, hinausreiten lassen in Not, Gefahr und Elend! Bei finsterer Nacht! Denn daß da draußen der Vollmond freundlich schimmerte, das sah Frau Marianne in ihrem sorgenvollen Zorne nicht. Sie sah nur die schwarzen Dinge des Lebens und dachte: Wenn es nach Meinung der Mütter ginge, dann gäbe es bald keinen Krieg mehr, und ewiger Friede wäre auf der schönen Erde. Da sollten sich die Mütter einmal zusammentun, wie die Fürsten ihre Heerhaufen sammeln. Und sollten diesen unsinnigen Mannsbildern und Streithammeln so lange, die naßkalten Putzfetzen um die Ohren schlagen, bis sie zu Vernunft und friedlicher Besinnung kämen.

Als Frau Marianne ihr mütterliches Fürsorgewerk vollendet hatte und hinunterkam zur Tür der Wohnstube, klangen da drinnen noch immer die zwei Männerstimmen. Sie wagte nicht einzutreten. Doch in dieser brennenden Minute ihrer Muttersorge hielt sie es für keine unschöne Sache, an der Tür zu lauschen. Nur lauschen? Frau Marianne war eine von jenen Müttern, die fähig sind, für Wohl und Glück ihres Kindes das schwerste Verbrechen zu begehen und dabei des Glaubens zu sein, daß sie einem heiligen Gebot gehorchen.

Sie hörte Herrn Peter Pienzenauer mit ernsten Worten sagen: „Nein, Lampert! Als redlich fühlender Mensch magst du recht haben: Der Anfang dieses üblen Handels war eine Torheit, die man hätte vermeiden können. Aber nun sind die Dinge so, wie sie sind. Und da muß ich denken und fühlen als Fürst. Stehen große Werte auf dem Spiel, so scheiden Mitleid und Barmherzigkeit mit einzelnen Menschenschicksalen völlig aus. Nach dem, was du mir jetzt über den Runotter sagtest, denk ich anders von diesem wunderlichen Manne als vor einer halben Stunde noch. Aber das zählt nicht mehr. Ein paar Menschen? Was gut das? Jetzt muß ich mich wehren um mein Land. Und ich hoffe, da kann ich mich auf dich verlassen? Nicht?“

„Ja, Herr! Mit Leib und Seele!“ klang Lamperts heisere Stimme. „Aber den Gedanken, daß wir an einem Karren ziehen, der mit einem Wirrsal von Recht und Unrecht beladen ist, bringe ich nicht mehr aus mir heraus. Freilich, die andern da drüben, die machen es nicht anders als wir. Aber immer muß ich mich fragen, wie Gott das geschehen lassen kann, daß aus dem Unverstand einer Stunde das Elend vieler Jahre und das Leiden von tausend Menschen wachsen darf.“

Frau Marianne hörte ein kurzes Lachen und dann die Stimme des Fürsten: „Da bin ich überfragt. Und du, Lampert, du bist sehr neugierig, mehr, als nötig ist für die Ruhsamkeit eines Menschenlebens.“

„Herr?“

„Was?“

„In finsteren Nächten muß ich mich immer fragen, ob Gott, während die Menschen sinnlos hadern, in kühlem Schatten ruht oder in heißer Sonne liegt.“

Ein kurzes Schweigen. Und in Mutter Marianne schlugt das angstvolle Herz wie ein schmerzender Hammer.

„Lampert? – Das ist eine seltsame Frage. Vielleicht versteh ich sie. Vielleicht auch nicht. Im kühlen Schatten ruhen die Müden, in heißer Sonne liegen die Trägen. Das sind Eigenschaften des Lebens. Wenn Gott unermüdlich und immer werksam ist, dann müßte ihm das träge, müde Leben eine ferne, gleichgültige Sache sein? Nein! Lassen wir das! Da sind Abgründe. Gott hat uns Wahrheit gegeben. Manchmal fühle ich, wie du, daß sie nicht ausreicht. Aber bessere Wahrheit kann ich als Mensch nicht finden. So muß ich warten, bis Gott sie mir sagt. Schweigt er, so bleib ich ohne Neugier und nehme in Licht und Dunkelheit die Dinge des Lebens so, wie sie mir erscheinen. Aber solche Worte sind unfruchtbar wie alte Frauen. Und die Stunde drängt. Geh und sieh, Lampert, wie weit deine Mutter mit der Arbeit für deine Reise kam!“

Erschrocken, mit verstörten Augen, trat Frau Marianne rasch in die Stube und sah, wie Lampert einen gesiegelten Brief, der auf dem Tische lag, an seiner Brust verwahrte. „Alles fertig!“ stammelte sie. „Ist alles schon fertig!“

„Brav, Mutter Marianne!“ Der Propst legte ihr lächelnd die Hand auf die Schulter. „Und ganz ohne Sorge! Ich habe deinem Sohne sicheres Geleit verschrieben. Und gebe ihm von meinen Hofleuten den verläßlichsten mit, den Marimpfel.“

„Nein, Herr!“ sagte Lampert hart. „Den nicht! Ich nehme Heber den Stallknecht meines Vaters mit. Das ist ein guter und froher Mensch. Aber um drei feste Pferde muß ich bitten. Von unsern Gäulen ist nur der Moorle zu brauchen. Den reit ich, so lang er aushält.“

Fürst Peter nickte. Dann sagte er schmunzelnd: „Bei so langem Ritt in den Mondnächten wirst du Zeit haben, um über die Wahrheit nachzudenken, von der wir sprachen. Bringst du was heraus dabei, so sag mir’s, wenn du wieder heimkommst! Ich werde dir dankbar sein. Und jetzt eile dich, daß du in den Sattel kommst! Gott soll dich schützen auf der Reise – Gott, von dem ich auch nach diesem bösen Ochsenhandel noch glauben werde, daß er nicht trag ist und seiner Liebe nicht müde wird.“

Als Herr Pienzenauer das Haus verlassen hatte, blieb hinter ihm ein hetzendes Gewimmel. Nur Vater Someiner – als er vernahm, um was es sich handelte – beteiligte sich nicht an diesem Aufruhr und kehrte mit dem Anschein unerschütterlicher Ruhe zu seinen Pergamenten zurück. Sein abgemagertes Gesicht war gelb. Er empfand diese dunkle, zwischen Lampert und dem Fürsten spielende Vertraulichkeit, von der er sich ausgeschlossen sah, als eine neue, schwere Kränkung. Und der Sohn begann in des Vaters Augen zu einem wühlenden Feinde zu werden, der ihn aus Amt und Würden wie aus der Gnade des Fürsten zu verdrängen suchte.

Vom Stifte wurden drei gute Pferde geschickt. An zweien war Packung und Sattelzeug mit grauen Reiseschabracken überschnallt.

Mutter Someiners Abschied von Lampert wurde eine lange und harte Sache. Als der Sohn sich vom Vater verabschieden wollte, erhob sich der Amtmann gar nicht von seinem heiligen Sessel. Er nickte nur und sprach: „Ja, ja, schon gut! Reit nur! Auf der hohen Schul zu Prag ist wohl doziert worden, wie man sich schön Kind macht bei seinem Fürsten?“

Wortlos schwang Lampert sich in den Sattel, faßte mit der rechten Faust den Zügel und legte den linken Arm wieder in die schwarze Binde.

„Leb wohl, Mutter!“

Als die Pferde im Mondschein über das grobe Pflaster davonklapperten, kam es in der Amtsstube zwischen Frau Marianne und ihrem Gatten zu einem fürchterlichen Auftritt, der für die sorgenvolle Mutter mit heißen Tränen und für den tiefgekränkten Fürstendiener mit einem vernunftwidrigen Tobsuchtsanfall endete.

Zwischen dem heiligen Peter und dem heiligen Zeno stand der Krieg erst vor der Entwicklung. Doch in dem einst so friedsamen Hause Someiner schlug die um der Ochsen willen aufgebrochene Fehde bereits ihre grimmigen Schlachten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Ochsenkrieg. Erstes Buch.