Der Marktflecken Ruhla

Der herrlichste Schmuck des Thüringer Waldes ist die Fülle seiner idyllischen Täler, welche, von silbernen Bächen durchrauscht, sich vom Rücken des Hochgebirges oft meilenlang nach allen Richtungen hin in die Fläche erstrecken. In einem der lieblichsten haben wir unsere Heimat aufgeschlagen. Das Tal des Erbstroms ist zwar nur kurz und kann bequem in drei Stunden durchwandert werden, gleichwohl birgt es den reichsten Zauber in seinem Schoße. Von Süden nach Norden hin vom Kamme des Waldes sich niedersenkend, wird es von tausendfußhohen steilen Bergwänden umgeben, die eng zusammengedrängt in mannigfachen Windungen zu beiden Seiten des Flüsschens bis hart an sein Ufer hinabsteigen, und erst bei dem Kloster Heiligenstein sich weiter von ihm entfernen. Zur Rechten lagert der machtvolle westliche Abhang des 2.200 Fuß hohen Breitenberges, eine halbkreisförmige Wand von fast zweistündiger Ausdehnung, welchem am unteren Ausgange des Tals der Schoßberg sich anschließt. Am linken Ufer des Flusses, jene Berge in unmittelbarer Nähe umragend, steigen in einem weiten Halbzirkel der Mühlrain, der Dornsenberg, der Engstieg, der Bermer und der Ringberg empor. Ein frischer Wiesenplan schmückt den schmalen Raum, den zu ihren Füßen die Berge am Flusse noch übrig gelassen.

Auf so einsamer Stelle liegt, rings umschlossen von dem undurchdringlich scheinenden Bergkessel, der Marktflecken Ruhla, im Landessprachgebrauche „die Ruhl“ genannt. Teils in die engen Wände fest eingeklemmt, teils an den Abhängen empor, steigt er die allmählich sich erhebende Talschlucht in fast einstündiger Länge hinan; an ihrem untern Ende 1.100, am oberen 1.400 Fuß über der Meeresfläche. Überall den Windungen des Flusses folgend, schlingt er sich an dessen Ufern, zumeist nur in einer einzigen Straße, durch die Berge fort. Bloß da, wo die zu seiner Linken gelegenen Höhen sich trennen, und wo sich ihre schroff herabfallenden Taleinschnitte am Ufer des Flüsschens zu kleinen Wiesen verflachen, ist ihm Raum zu Nebenstraßen gegeben. Dichte Buchenwaldung, durchmischt von nur sparsamen Tannengruppen, bedeckt am untern Eingange des Tals die Bergwände vom Gipfel bis zum Fuße hinab. Wo die Stadt beginnt, hat die majestätische Pracht dieses Waldes zumeist anderen Bedürfnissen weichen müssen. Hier umlagert sie nur noch die Gipfel der mächtigen Anhöhen, jedoch mit weit in das Tal hinabgehenden Kronen. Die unteren Teile der Bergwände, mehrere hundert Fuß hinauf, sind unmittelbar hinter den Häusern von Gärten, Feldern und Wiesen umzogen, deren Anblick uns neue Reize gewährt. Frische Buchenhecken in mannigfachster Form laufen dort malerisch auf und ab; helle Kieswege glänzen aus ihnen hervor; der reizende Schmuck buntfarbiger Blumen belebt sie, nicht minder die stolzere Pracht der herrlichsten Zierbäume, Eschen, Taxus, Ahorn, Eichen, Linden und Blutbuchen, die in reichen Gruppen aus dem verschlungenen Parkete der Hecken hervorschauen; alles im holdesten Wechsel durcheinander, und nach oben hin von den dunkleren Waldeskronen lieblich und ernst überragt.


Bequeme Parkwege führen über diesen Anlagen am Saume der Wälder auf den Bergwänden zu beiden Seiten des Fleckens hin, oft in schwindelnder Höhe über den tief unten liegenden Straßen, und bieten auf jeder ihrer Biegungen neue Ansichten über den großartigen Talkessel, der das Städtchen in seinem Schoße birgt. Ach, es ist ein gar zauberischer Anblick, wie es von dort herabgesehen so traulich daliegt in des Tales Enge auf saftigem Wiesenplane. Der sprudelnde Fluss durchrauscht es, die Straßen teilend, in tausenden von Wasserfällen, und aus jeder Talschlucht gesellen sich ihm neue kristallhelle Sturzbäche zu. Holländische Reinlichkeit schmückt die glänzenden Hauserchen, die, hier in weißem Abputz, dort schweizerartig in Fachwerk, zumeist zwei, bisweilen auch drei Geschosse hoch, mit ihren hellgrünen Fenster- und Gartengittern bunt durcheinander gewürfelt umherstehen. Ehrwürdig erheben sich seine beiden Kirchen auf sanften Hügeln, umkränzt von denkmalgeschmückten Friedhöfen. Herdengeläute ertönt von den Matten; lebendiges, gewerbtätiges Treiben klingt aus Häusern und Gassen herauf. Und ringsum die reizenden Gartenwände, die es mit reichschmückendem Kranze fest einfassen; und über ihnen die waldigen Riesenhäupter der festgeschlossenen Berge, die den blauen Himmelsdom als duftigen Baldachin darüber hinhalten! — Mit stets erneutem Entzücken, je öfter man an dem holden Bilde sich weidet, ruhet das Auge auf der berauschenden Schönheit, und sie schmiegt sich der Seele so innig an, dass kaum ein Losreißen vergönnt ist.

Billiger Weise widmen wir den soeialen Interessen des Städtchens, seinen inneren Einrichtungen und seiner Geschichte die beiden ersten Tage unseres dortigen Aufenthalts, und finden die Zeit vortrefflich genug angewendet.

Dasselbe fasst in ungefähr 6 — 700 Häusern etwas über 4.000 Menschen in sich. Es liegt teils auf Weimarischem, zum größten Teile jedoch auf Gothaischem Gebiete. Der Erbstrom, welcher der Länge nach mitten durch den Ort fließt, macht die Grenze; die Teilung wurde im Jahre 1640 unter den Söhnen Johanns von Weimar vollzogen, und ist leider der Grund, der die Erlangung von Stadtrechten an den immerhin bedeutenden Ort zu seinem Nachteile verhindert. Es bestehen demgemäß in Ruhla zwei besondere Gemeinden, jede unter anderer Hoheit, jede mit einer eigenen Kirche, einer eigenen Schule und mit eigenen Behörden. Zwischen beiden aber herrscht vollständige Freizügigkeit.

Was das Alter des Fleckens betrifft, so wird seiner schon in Urkunden des zwölften Jahrhunderts erwähnt, nur soll er höher hinauf an einer Stelle des Tals gelegen haben, die noch jetzt „die alte Ruhl“ genannt wird. Mannigfache Sagen knüpfen sich an seine Gründung, wie an seine fernere Geschichte. Hier war es, wo der im Jahre 1171 verstorbene Landgraf von Thüringen, Ludwig der Eiserne, unter dessen anfänglich allzumilder Regierung der Adel die Bauern gewaltig drückte, auf einer Jagdpartie verirrt, an die Werkstatt eines Schmiedes kam, und mit anhörte, wie dieser unter dem beständigem Ausrufe: „Landgraf werde hart,“ ein Schwert hämmerte. Erstaunt lauschte der Fürst, trat hinzu, forschte nach der Ursache der seltsamen Formel, und erfuhr nun zu seinem Schmerze, wie gerade seine Milde größte Grausamkeit gewesen. Die Geschichte lehrt, wie er die Worte des schlichten Bauern sich zu Nutze gemacht. Sie schildert ihn in der Folge als einen der kräftigsten Regenten, der dem Adel einen eisernen Zaum anlegte. Bei Freiburg an der Unstrut wird noch jetzt ein Feld gezeigt, welches die Edelinge, seine Vasallen, auf sein Gebot in Pflüge gespannt, selbst umgepflügt haben sollen. Es trägt bis heute den Namen: der Edelacker.

Die Gründung des Ortes soll fernhergekommenen Einwanderern zu danken sein. Aus welchem Lande? darüber liegen sichere Nachrichten nicht vor. Einige nennen Ungarn, andere Tirol, andere sogar Venedig als Mutterland der Ruhlaer. Von Leuten desselben Volksstammes scheinen außerdem die Orte Steinbach und Schweina, im Meiningischen, zwei Stündchen von hier, gegründet zu sein. Sprache, Sitte, Tracht, Körperbildung, Anschauungen und Auffassungen weisen auf eine gemeinsame Abstammung und Zusammengehörigkeit noch jetzt deutlich hin. Die Sprache insbesondere tragt unverkennbare Eigentümlichkeiten in sich, die sich teils in dem schnarrenden Idiom, teils in einer ganz besonderen Zusammensetzung einzelner Namen ankündiget. Die Tracht der Frauen zeichnet sich nicht minder aus, und wenn letztere in dem Rufe besonderer Schönheit stehen, so tragt zu dem Eindrucke, den sie machen, namentlich das turbanähnlich gewundene Kopftuch, mit den herunterhängenden Zipfeln am linken Ohre, nicht wenig bei. Auch ganz individuelle Liebhabereien charakterisieren die Bewohner Ruhlas von Alters her: Blumen-, besonders Nelkenzucht, Abrichtung von Singvögeln, vornehmlich von Finken, denen viele künstliche Sangweisen angelernt wurden, die wiederum eigentümliche Namen führten, als: Kühnöl, Wirrgesang, Weingesang, Murmeltier, Gutjahr u. s. w. Der Handel mit diesen Tierchen ging ins Thörigte über, und noch vor 50 Jahren gab Einer gegen einen Finken seine beste Kuh. Eine andere, etwas auffallende, Liebhaberei der Bewohner des Ortes ist das Glockenläuten. Noch jetzt gehen dieselben bis in entferntere Städte hin, um bei vorkommenden Gelegenheiten, weniger aus Liebe zum Erwerb, denn aus Neigung zur Sache selbst, als Läuter zu dienen.

Die Gewerbetätigkeit Ruhlas war von Alters her von großer Bedeutsamkeit. In den frühesten Zeiten blühte hier der Bergbau auf Eisen, auf einer großen Anzahl von Hämmern die Eisenfabrikation und die Waffenschmiedekunst. Einer Volkssage nach soll das Material das vorzüglichste des Thüringerwaldes gewesen sein, und namentlich soll ihm das Eisen, welches bei dem später „Eisenach“ genannten Orte gegraben worden, nachgestanden haben, daher der Name: Eisen — nach. Später erhob sich die Messerfabrikation zu einem hohen Flore, und Friedrich der Große zog eine Anzahl Ruhlaer Messerschmiede nach Neustadt-Eberswalde, wo dieselben noch jetzt in einem abgesonderten Stadtteile ihren heimischen Sitten völlig getreu leben.

Alle diese Gewerbszweige, von denen unwissende Reisebeschreiber namentlich den letzteren als noch bedeutend hervorheben*), sind jetzt erloschen, und haben im wechselnden Strome der Bedürfnisse neuen Gewerben Platz gemacht. Seit ungefähr 60 bis 70 Jahren hat hier die Fabrikation von Pfeifen in Ton und Meerschaum begonnen, und hatte sich zu einer solchen Blüte entwickelt, dass Ruhla nicht bloß über das Gebiet aller europäischen Länder, sondern aller Erdteile hin, als klassischer Fabrikationsort dieser Artikel gilt. Zahlreiche Fabriken senden ihre Erzeugnisse auf alle Stapelplätze Deutschlands, von wo aus sie weiter gehen. Insbesondere verdienen die Meerschaumköpfe, in deren kunstvoller Bearbeitung Ruhla keine Konkurrenz hat, große Aufmerksamkeit. Elf Etablissements**) beschäftigen sich mit deren Anfertigung. 33 Meerschaumkopfschneider bringen dieselben in die köstlichsten Formen, und gestalten sie oft zu wahren Kunstwerken, so dass der Preis eines solchen Kopfes sich bisweilen auf 50—60 Thlr. beläuft. Im Zusammenhange hiermit steht die Anfertigung von Pfeifenröhren, Pfeifenspitzen und Pfeifenbeschlägen von Silber, Neusilber und Plattierung in Gold und Silber; desgleichen das Bemalen der Porzellanpfeifenköpfe. — Köpfe, aus Holz geschnitzt, werden hier nicht fabriziert, sondern zum weiteren Vertriebe aus dem Meininger Oberlande bezogen. — Wie bedeutend dieser Gesamtbetrieb des Pfeifenhandels hier ist, mag daraus hervorgehen, dass außer den Obengenannten damit beschäftigt sind: 190 Pfeifenkopfbeschläger, 10 Beschlägemaschinen-Besitzer, 34 Versilberer, 39 Horndrechsler, 24 Meerschaumfabrikarbeiter, 46 Holzkopf-Lakierer, 3 Tonkopffabrikanten, und 76 Porzellan-Maler: von den 890 hier existierenden Familienhäuptern also 466, mithin mehr als die Hälfte.

*) Nach einer amtlichen, mir mitgeteilten Statistik, auf welcher auch alle meine übrigen hierher bezüglichen Angaben beruhen, existieren jetzt in Ruhla im Ganzen nur 13 Messeranfertiger!

**) Unter ihnen zeichnen sich namentlich die Handlungen Ziegler und Greiner, Dreyß und Gebrüder Lux durch vorzügliche Leistungen aus. Die Letzteren haben die Preis-Medaille der Londoner Ausstellung davon getragen.


Leider aber haben auch bei diesem blühenden Geschäfte die Zeitumstände, und insbesondere der stärkere Gebrauch der Zigarren störend eingewirkt, und wenngleich sich dasselbe in den letzten beiden Jahren wieder ein wenig gehoben hat, so wird doch das Interesse der Staatsbehörden für den Flor der Ruhl noch längere Zeit zu wirken haben, wenn die frühere Lebhaftigkeit — und sei es auch in anderen neu aufzufindenden Branchen — wieder zurückgeführt werden soll.

Mit der Malerei auf Pfeifenköpfe hängt die auf Tassen und andere Porzellangefäße zusammen, welche gleichfalls hier in Blüte steht, und wozu das Material — wie ein Reisebeschreiber sagt — nicht aus Brotterode, sondern aus den berühmtesten Fabriken Thüringens und Bayerns bezogen wird.

Nennenswert sind ferner: die Porte-Monnaies-Fabrik des Bürgermeisters Bardenheuer, welche, durch Weimarische Staatsgelder unterstützt, schon jetzt gegen 50 Personen beschäftigt, und wöchentlich ungefähr 70 Dutzend fertige Portemonnaies und 250 Dutzend Stahlbügel produzirt, jedoch bei einer so beschränkten Anzahl von Personen den eingehenden Bestellungen kaum mehr genügen kann. Von vorzüglicher Schönheit, und mit den Lyonesern wetteifernd, sind die Stickereien, mit welchen diese Arbeiten ausgeziert sind; — sodann eine auf Gothaischem Gebiete so eben eröffnete Fabrik von Stahlfederhaltern und Taschenfeuerzeugen; — eine Fournierschneide der Handlung Katterfeld und Comp, mit englischen und deutschen Maschinen, welche in der Runde von 20 Meilen jeder Konkurrenz siegreich begegnet; — und endlich eine Drechslerei von Marmor- und Alabastergegenständen, wozu das Material teils aus dem Drusenthale bei Herges, teils aus dem Kittelsthaler Alabasterbruche bezogen wird, und welche ihre Erzeugnisse: Zigarrenbecher, Schreibezeuge u. dgl. weithin versendet. Von anderen städtischen Gewerben sind die gewöhnlichen, gegen 40 bis 50 verschiedener Art, hier vertreten. Ackerbau kann der bergigen Lage wegen nur wenig betrieben werden, dagegen ist bei den vortrefflichen Gebirgswiesen, die sich weit in die Thalschluchten hineinziehen, die Viehzucht im höheren Flor. —

Aus allen diesen Nahrungsquellen ist eine bedeutende Wohlhabenheit über einen Teil der Bewohner des Fleckens herabgeströmt; wie in den meisten Fabrikorten weilt aber auch hier neben dem Reichtum oft große Bedürftigkeit. Gleichwohl werden die Fälle hervorstechender Armut zu den seltensten Ausnahmen gehören, wenn bis zu dem Wiedereintritt günstiger Handelskonjunkturen, die jedem Arbeitslustigen aufs Neue hinreichenden Erwerb geben müssen, die belebende Fürsorge der Staatsbehörden mit gleicher Energie, wie jetzt, fortwirkt.

Eine Hauptquelle des Erwerbes scheint indessen das wieder ins Leben gerufene Bad werden zu wollen, ein Eisenbrunnen, den man nach langer Ruhe wiederum ausgiebig zu verwerten bestrebt ist. Den Erfahrungen der neueren Heilkunde gemäß hat man demselben eine Kaltwasserheilanstalt, ein Fichtennadelbalsamisches und Dampfbad und eine Molkenanstalt hinzugefügt. Als vorzüglichstes Heilmittel in Ruhla wird aber immer die reine schöne Gebirgsluft dienen, die, als Folge der reichen Waldpartien umher, gerade hier von wunderbar stärkender Kraft ist, und die verbunden mit der einfachen Lebensweise den Bewohnern des Tals die höchste Lebensdauer zu verleihen pflegt, so dass selbst 80jährige Personen zu keinen besonderen Seltenheiten gehören. Die Friedhöfe, die wir besuchten, zeigten uns zumeist nur Grabstätten von kleinen Kindern und von Leuten über 60 Jahre, bis zum 90sten Lebensjahre hinauf.

Der Ort kann daher nicht bloß dem Lustreisenden, und demjenigen, welcher danach strebt, seine Kenntnisse in den industriellen Verhältnissen zu erweitern, zum kurzen Aufenthalte empfohlen werden, sondern insbesondere dem in mancherlei Krankheit Hilfe Suchenden zum längeren Verweilen. Ein jeder von diesen wird reiche Ausbeute finden. Der Eine einen zauberischen Landaufenthalt in dem süßesten Tale, umringt von den reizendsten Punkten des ganzen Gebirges; der Andere eine Bereicherung seines Wissens, wie sie nach dieser Richtung hin kaum ein zweiter Ort zu geben vermag; der Dritte Kraft und Stärkung in gewünschter Fülle.

Sehen wir daher noch, wie es in Ruhla selbst sich leben lässt, und schließen uns dann dem Ersteren an, um mit ihm unsere Ausflüge von hier aus zu beginnen!