Der Mensch ohne Gedächtnis

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1926
Autor: Dr. M. Offner, Erscheinungsjahr: 1926

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Gedächtnis, Gehirn, Denken, Gedankenexperimente, Fähigkeit, Intelligenz, Bewusstsein, Sprache, Seele, Gedächtnisleistung, Erfahrungen, Verhalten, Handeln, Erziehung, Dressur, Vorstellung, Wahrnehmung, Fähigkeit, Phantasie,
Wer recht modern sein will, der schilt auf das Gedächtnis und auf das sogenannte gedächtnismäßige Lernen und weist darauf hin, dass Gedächtnis und Intelligenz miteinander wenig oder nichts zu schaffen haben. Denn es habe Idioten gegeben, die Zahlenreihen spielend leicht sich einprägten, die einen ganzen Kalender auswendig wussten und für jeden Tag im Jahr den Wochentag, auf den er fiel, anzugeben vermochten, die eine große Buchseite, die sie ein paarmal langsam durchlasen, auswendig heruntersagen oder vielmehr herunterbuchstabieren konnten, und zwar nicht nur deutschen Text, sondern auch einen ihnen völlig unverständlichen lateinischen. Und wiederum habe es sehr bedeutende Köpfe gegeben, die nicht imstande waren, ein mäßig langes Gedicht wörtlich zu memorieren. Auf diese Weise wird zwischen Gedächtnis und Intelligenz, zwischen Lernen und Denken eine Art Feindschaft festgestellt und von der Vernichtung der Intelligenz durch Gedächtnisarbeit geredet.

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Machen wir selbst einmal ein Gedankenexperiment und versuchen wir uns vorzustellen, wie es um einen Menschen stünde, der kein Gedächtnis besäße, dem jede Fähigkeit abginge, von einem Erlebnis eine dauernde Nachwirkung, gleichviel welcher Art, zu behalten. Er besäße - um mit dem Auffälligsten zu beginnen - keine Sprache. Denn wir erwerben uns eine Sprache nur dadurch, dass wir zu einem wahrgenommenen oder gezeigten Gegenstand uns ein bestimmtes Wort, das man uns dazu vorsagt, merken, anders ausgedrückt, dass sich beide Bewusstseinsvorgänge, oder genauer gesprochen: die von ihnen in der Seele zurückbleibenden Spuren miteinander verbinden oder assoziieren, so dass, wenn wir späterhin das Wort wieder hören, uns auch das Vorstellungsbild jenes Gegenstandes wieder in das Bewusstsein tritt, und dass umgekehrt, wenn jener oder ein gleicher Gegenstand uns wieder begegnet oder wir an ihn denken, ihn uns vorstellen, jenes Wort uns wieder einzufallen pflegt. Das ist natürlich eine Gedächtnisleistung. Auf dieser Möglichkeit, zwischen mehreren Erlebnissen oder Eindrücken, wie man etwas ungenau sagt, einen dauernden Zusammenhang herzustellen, beruht alles und jedes Lernen, mag es sich um das Einprägen von Worten handeln oder um das Erwerben von Anschauungen, um Ansammeln von Erfahrungen, Aufspeichern von Kenntnissen, Gewinnung von Fertigkeiten und Aneignung bestimmter Arten des Verhaltens und Handelns, jede menschliche Erziehung, auch jede Dressur.

Das Wiedervorstellen, das Wiedervergegenwärtigen eines einzelnen Gegenstandes oder Erlebnisses in Form eines bloß inneren Bildes, während der Gegenstand selbst uns in Wirklichkeit nicht mehr gegenübersteht und das Erlebnis längst vorüber ist, ist nur möglich dank unserer Fähigkeit, von jedem einzelnen Erlebnis, jeder einzelnen Wahrnehmung eine dauernde Nachwirkung, eine Spur, ein Erinnerungsbild zu bewahren, und ferner, weil eine Möglichkeit besteht, dieses Erlebnis, diesen Gegenstand uns wieder vorzustellen und ihn oft auf lange Zeit hinaus, manchmal fürs ganze Leben, zu behalten. Auf dieser Fähigkeit, unsere früheren Erlebnisse sich wie in ihrem ursprünglichen Zusammenhang wahrheitsgetreu wieder vorzustellen, beruht alles Erinnern. Wir sind aber auch imstande, diese Zusammenhänge zu lockern, die einzelnen größeren und kleineren Bestandteile in neue Ordnung zu bringen. Darauf beruht alles Phantasieren, alles Träumen, alles künstlerische Schaffen und genießende Nachschaffen. Für dieses Neubilden liefert nur das Gedächtnis den Baustoff.

Schon das einfache Wiedererkennen schließt eine Leistung des Gedächtnisses in sich. Besäßen wir nicht die Fähigkeit, von einem Erlebnis eine dauernde Spur in uns zu bewahren, dann müsste jeder Gegenstand, jeder Mensch, jede Landschaft uns immer wieder neu und unbekannt erscheinen, wenn wir sie auch schon hundertmal gesehen hätten.

Ein Mensch also, der gar kein Gedächtnis besäße, vermöchte niemand und nichts zu erkennen, vermöchte nichts zu lernen, nichts sich vorzustellen, an nichts sich zu erinnern. Er könnte keine Sprache erwerben und keine Gewohnheiten und Fertigkeiten. Er wäre unfähig jeder Abrichtung und Erziehung, hätte nicht Phantasie noch Erfindungsgabe. Er würde keine Furcht, keine Angst, keine Sorge und keine Reue kennen, aber es gäbe für ihn auch keine Erwartung, keine Hoffnung, keine Vorfreude und keine Nachfreude, kein Glück der Erinnerung. Kurz, er wäre wie ein Kind von zwei bis drei Monaten oder wie jene völlig verblödeten Geschöpfe, die wir in Irrenanstalten und Idiotenheimen sehen können, die alles, was sie je an Eindrücken, Erfahrungen, anerzogenen Gewohnheiten besaßen, verloren haben, die nur werden und noch unter den Tieren stehen. Ein kleines Kind in den ersten Monaten, ein Erwachsener im Stadium völliger geistiger Auflösung, das sind die beiden Zustände, die den Menschen ohne jegliches Gedächtnis zeigen.

Wir haben nun gute Gründe anzunehmen, dass unsere seelischen Vorgänge, unsere Bewusstseinserlebnisse, stets von physikalisch-chemischen Vorgängen im Körper, besonders im Großhirn, begleitet sind. Und es ist auch festgestellt, dass Bewusstseinsvorgänge bestimmter Art verbunden sind mit Vorgängen an ganz bestimmten Stellen des Gehirns, oder vorsichtiger ausgedrückt, dass bestimmte Bewusstseinserlebnisse nur dann eintreten, wenn ganz bestimmte Stellen (Felder, Bezirke) der Großhirnoberfläche (Rinde) heil sind. Denn bei Beschädigung oder Erkrankung bestimmter Rindenbezirke pflegen ganz bestimmte Arten von Bewusstseinserlebnissen auszufallen. Ist die Oberfläche des Hinterhauptlappens in weitem Umfange zerstört, dann nimmt der Patient das ihm gezeigte Objekt, obwohl sein Auge, sein äußeres Sinnesorgan des Sehens, unversehrt ist, nicht mehr wahr. Er ist seelenblind, erkennt nichts und kann auch, was dem augenblind Gewordenen noch möglich ist, früher Gesehenes sich nicht mehr vorstellen, mag er es ehedem noch so oft gesehen und vor der Erkrankung ein noch so klares Erinnerungsbild davon in sich getragen haben. Man nennt dieses wichtige Rindenfeld optisches Zentrum und vermutet, dass hier - wie, kann man sich noch nicht vorstellen - die physiologischen Nachwirkungen der Sehakte abgelagert sind. Bei Kranken, die trotz sonst ungestörter Intelligenz Gedrucktes und Geschriebenes nicht mehr lesen konnten, weil sie die Schriftzeichen nicht mehr erkannten (Wortblindheit), ergab der anatomische Befund Zerstörung einer seitlichen Stelle des Hinterhauptlappens. Und darum redet man auch von einem Lesezentrum (Wortsehzentrum, Schriftbilderzentrum).

Und ist das Rindengebiet, das hinter dem Schläfenbein liegt, zerstört oder erkrankt, etwa durch Geschwulstbildung oder Bluterguss, dann ist das Hören aufgehoben (Seelentaubheit). Eine Schädigung dieses Bezirks auf der linken Hirnhälfte ist verbunden mit dem Verlust der Fähigkeit, Gehörtes zu verstehen. Der Patient erkennt die ihm früher geläufigsten Wörter nicht wieder, obwohl sein Hörorgan, das Ohr, unversehrt ist (Worttaubheit). Natürlich kann er sich auch nichts Gehörtes mehr in der Erinnerung vergegenwärtigen. Wir haben also hier Erkrankung des akustischen Zentrums, speziell des sogenannten sensorischen Wortzentrums, des Worthörzentrums, wo wir uns die Nachwirkungen von akustischen Eindrücken, speziell von gehörten Wörtern, irgendwie festgehalten denken.

So hat jedes Sinnesorgan seine zentrale Stelle, von deren Unversehrtheit es abhängt, ob die durch einen äußeren Vorgang (Reiz) auf das Sinnesorgan ausgeübte Einwirkung auch von dem entsprechenden Bewusstseinserlebnis (Empfindungs- und Wahrnehmungsinhalt) begleitet ist. Und auch jedes einzelne andere Glied unseres Körpers hat seine Vertretung auf der Großhirnrinde. Durch diese steht es mit den Zentren der anderen Glieder und der Sinnesorgane in Verbindung, wie die einzelnen Fernsprechanschlüsse in der Umschaltzentrale ihre Nummer haben und hier mit anderen Anschlüssen verbunden werden. Man hat die Zentren festgestellt für die Bewegung von Füßen und Zehen, von Knien und Rumpf, Armen und Händen und Fingern, Kopf mit Kehlkopf, Lippen und Zunge, und hat damit natürlich auch das Feld gefunden, von dessen Unversehrtheit die Fähigkeit des Sprechens bedingt ist, das sogenannte motorische Wortzentrum oder Wortsprechzentrum.

Über die Funktion des einen und anderen Bezirks und noch mehr über ihre wechselseitige Verbindung sind die Forschungen noch nicht abgeschlossen. Immerhin besteht angesichts der fortschreitenden Erkenntnis die Hoffnung, dass diese Fragen in absehbarer Zeit entschieden werden. Aber unentscheidbar auf dem Wege der pathologischen und experimentellen Beobachtung ist die Frage, ob durchaus jeder seelische Vorgang auch von einem Gehirnprozess begleitet ist, wie wir anzunehmen gewohnt sind, ob es nicht doch auch Bewusstseinsvorgänge gibt ohne begleitende Gehirnvorgänge, wie es ja genug Gehirnprozesse zu geben scheint ohne begleitende Bewusstseinserlebnisse.

Wer überzeugt ist, dass Seele und Körper verschiedene Wesen sind und dass die Seele weiterexistieren wird auch ohne den Körper, an den sie bei ihrer Entstehung verhaftet wurde, der wird eine absolute, eine durchgängige Zuordnung der Bewusstseinserlebnisse zu Gehirnvorgängen nicht annehmen wollen, jedenfalls nicht annehmen müssen. Aber auch wenn er das zugeben wird und dazu noch, dass jedes Bewusstseinserlebnis in der Großhirnrinde seine Spur zurücklässt, so wird er sich doch nicht nehmen lassen, dass von jedem auch in der durchaus unstofflichen Seele entsprechende Nachwirkungen zurückbleiben und ihr das Erinnern des Erlebten ermöglichen. Wer aber die Sonderexistenz einer Seele außerhalb eines lebenden Organismus für unmöglich hält, wer seelisches Leben sich nicht anders denken kann als an körperliches Leben gebunden, für den ist jene Zuordnung absolut und durchgängig.

Zwingend beweisen kann seine Theorie der eine so wenig wie der andere. Beide arbeiten mit Gründen, die nicht für jeden gleich überzeugendes Gewicht haben. Daher denn auch noch heute um das Leib-Seele-Problem die Philosophen und Physiologen und Psychologen streiten wie vor Jahrhunderten.

Für dieses irdische Leben freilich - und dies allein ist der wissenschaftlichen Beobachtung und Untersuchung zugänglich - ist zur Entfaltung der seelischen Leistungsfähigkeit die Unverletztheit und Gesundheit des Großhirns unerlässlich, so unerlässlich wie für ein gutes Klavierspiel die Unverletztheit des Klaviers. Der beste Meister kann nichts leisten, wenn sein Klavier verdorben ist, wenn die Saiten verstimmt oder gar abgerissen sind. Das Gehirn aber können wir das Klavier der Seele nennen. Denken wir jedoch vor allem an das Gedächtnis, so mag uns zum Vergleich eine photographische Platte dienen. Der geschickteste Photograph bringt kein gutes Bild zustande, wenn die Platte verdorben ist. Und auch ein krankes Gehirn liefert nur verzerrte Bilder oder überhaupt keine mehr. So ruht im Hirn das Gedächtnis, und mit dem Gedächtnis hängt - das sahen wir - das ganze übrige Seelenleben des Menschen aufs engste zusammen.

Der Denker. Nach einer Plastik von Anna Spuler-Krebs. Neue Photographische Gesellschaft, Berlin-Steglitz.

Der Denker

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