Vierte Fortsetzung

Die jüdische Volkswirtschaft im Osten bekommt eine rechtliche Organisation. Es wird eine jüdische Sozialpolitik ins Leben gerufen werden müssen. Ein Beispiel: Die Wanderungen der Juden werden zwar nicht aufhören, aber man wird imstande sein, sie zu regulieren. Die jüdische Gesamtheit wird diese Angelegenheit in ihre Hände nehmen; sie wird nicht mehr privaten Gesellschaften überlassen. Die kolonisatorische Tätigkeit des jüdischen Volkes wird fortgesetzt werden müssen; sie wird mit einem besseren Menschenmaterial und mit anderen, großzügigen Mitteln eine Blüte erleben, von der wir jetzt schlechthin keine Ahnung haben.

Dies wird auch für das amerikanische Judentum — und für Amerika selbst — von ungemein großem Vorteil sein. Wenn auch die Wanderungen, wie gesagt, nicht aufhören werden, so wird die Stärkung der östlichen Judenheit und eine planmäßige Organisation der jüdischen Auswanderung eine sehr bedeutende Hebung des allgemeinen Niveaus der Auswanderer zur Folge haben. Amerika wird nunmehr nicht eine Masse von Einwanderern aufnehmen müssen, die ohne jeglichen Rat und Beistand die schwere Reise antreten, sondern man wird imstande sein, durch Verständigung in den beiden größten jüdischen Zentren — in Amerika und im Osten Europas — Ordnung und Planmäßigkeit in die Wanderbewegungen des jüdischen Volkes hineinzubringen.


Die Organisation des jüdischen Volkes im Osten wird vorbildlich sein für die anderen Zentren der Judenheit. Vor allem für das galizische Zentrum. Man wird dort einsehen, wie durch eine gerechte gesetzgeberische Regelung der Nationalitätenfrage der Nationalitätenkampf in seinen schlimmsten Wirkungen vermieden werden kann. Denn nur dadurch, dass man allen Nationen gleiche Rechte gewährt und keiner die ausschließliche Herrschaft verleiht, beugt man der Möglichkeit einer Unterdrückung kleinerer Völker durch stärkere vor und vergrößert so die Stärke und das Ansehen des Staates.

Bedeutend werden auch die Wirkungen der neuen Zustände im Osten auf die deutschen Juden sein. Man kann die Tatsache nicht wegleugnen, dass zwischen dem östlichen und dem deutschen Juden gewisse wesentliche Gegensätze bestehen. Wenn auch eine nicht zu starke Einwanderung der östlichen Juden nach Deutschland für das deutsche Judentum nützlich sein mag, ein Überfluten liegt weder im Interesse der deutschen Judenheit, noch im Interesse der deutschen Kultur und Wirtschaft. Durch eine den Lebensinteressen der östlichen Juden entsprechende Selbstverwaltung auf dem Gebiete der Wirtschaft und Kultur wird aber eine große Reihe von jüdischen Kräften im Osten in Anspruch genommen. Ein jüdischer Beamtenstand wird dadurch geschaffen werden, der, an seinen Aufenthaltsort gebunden, mehr Festigkeit und Ruhe in das jüdische Leben bringen wird. Eine jüdische Hochschule im Zentrum des jüdischen Lebens, eine Hochschule, die allen Anforderungen der europäischen Wissenschaft entspricht, wird entstehen müssen, um alle diejenigen jungen Juden aufzunehmen, die sonst an anderen Hochschulen ihre Lernbegier stillen mussten. Die Gründung einer solchen Hochschule wird aber nur ein stark organisiertes, lebenskräftiges jüdisches Volk vornehmen können. Viele jüdische Talente und wissenschaftliche Kräfte selbst aus Deutschland werden dann im Osten ein dankbares Betätigungsfeld finden.

Ich bin mir wohl bewusst, dass die Verwirklichung der neuen jüdischen Organisation im praktischen Leben auf ungeheure Schwierigkeiten stoßen wird — nicht nur auf objektive, sondern auch auf subjektive, auf Schwierigkeiten, die in den Juden selbst liegen. Wir wollen uns darüber klar werden und durch keine Illusionen uns den Blick trüben. Es liegt eine große Arbeit vor dem jüdischen Volke: in der Diaspora dasjenige für sich zu erreichen, was für seine Volksexistenz unbedingt notwendig ist.

Das jüdische Volk hatte im neunzehnten Jahrhundert eine schwere Prüfung zu bestehen. Aus seiner Geschichte kann man ersehen, worin sie bestand: Der Jude musste sich als vollwertiger Mensch in der neuen europäischen Gesellschaft legitimieren. Er hat das Examen glänzend bestanden, und zwar nach allen Richtungen. Das war ein Siegeszug der jüdischen Persönlichkeit. Und jetzt, in diesem großen Krieg, liefern die Juden den letzten Beweis ihrer Vollwertigkeit auf einem Gebiete, das ihnen Jahrhunderte lang entzogen war: sie kämpfen und sterben auf dem Felde der männlichen Ehre wie echte Helden. Das Vaterland und wir Juden danken diesen Helden.

Nun haben wir eine andere, viel schwerere Prüfung zu bestehen. Wir müssen zeigen, dass das jüdische Volk noch genug Kräfte in sich finden wird, um sich als Volk behaupten zu können. Im zwanzigsten Jahrhundert wird es sich darum handeln, zu beweisen, dass wir ein Volk sind.

Und das jüdische Volk wird diese Prüfung bestehen. Die Fragen der Organisation sind für es keine neuen Fragen. Die völkische Organisierung wird von ihm mit Geschick und Energie bewerkstelligt. Die große jüdische Arbeiterpartei (Bund) hat schon längst die untersten Massen des Volkes organisiert; die zionistische Organisation ist trotz der Behinderung seitens der Regierung die bestgebaute und die stärkste in Russland; neben ihr gibt es dort noch eine Reihe von starken jüdischen Organisationen. Fast jedes jüdische Städtchen besitzt mehrere gut organisierte Wohltätigkeitsvereine. Vor allem leben im Osten noch die Traditionen und die Erinnerungen an die große jüdische Selbstverwaltung der vorigen Jahrhunderte, an die „Synode der vier Länder", der die gesamte Zivilgesetzgebung nebst Steuerwesen und die gesamte Verwaltung der jüdischen Gemeinden oblag.

Es ist ja möglich, dass meine Zukunftsausblicke zu phantastisch erscheinen, obwohl ihnen die politischen und wirtschaftlichen Grundlagen keineswegs fehlen. Das ganze wäre zu schön, um Wirklichkeit zu werden. Nun bin ich der Meinung, dass man in jetzigen Zeiten aufhören muss, nur mit demjenigen zu rechnen, was natürlich, selbstverständlich ist. Wer mit den großen Ereignissen Schritt halten will und bei dem Ungewöhnlichen, das sich jetzt in Europa abspielt, mitdenken und mitschaffen möchte, muss vor allem Eins lernen: Das Nicht-Selbstverständliche zu begreifen. Das Nicht-Selbstverständliche! Man darf nicht denken, dass das Nicht-Selbstverständliche etwas ist, was nicht werden kann. Wer hätte vor hundert Jahren daran denken können, dass das zersplitterte deutsche Volk sich in dem herrlichen Deutschen Reich vereinigen würde? Die Zersplitterung war damals das Selbstverständliche. Und doch ist es anders geworden. Für den Handwerker der früheren Zeiten war das Selbstverständliche, dass der Bedarf gleichmäßig, dass seine Produktionsweise die beste war, und dass die Preise feststehend waren, — da kam der Kapitalismus und warf alles über den Haufen! Vor allem wollen wir uns von der Frage nicht abschrecken lassen: Wird sich unser Volk aufraffen und stolz aufstehen, um die schwere Arbeit zu vollbringen? Die Antwort werden nicht allein die östlichen Juden geben müssen, sondern die ganze Judenheit. Es werden Männer der jüdischen Volksstaat sich finden — und das Mögliche wird zum Ereignis. Wir hoffen es.