Dritte Fortsetzung

Die Organisation des jüdischen Volkes im Osten wird aber auch eine vollkommenere Lösung der jüdischen Frage mit sich bringen müssen, als die Judenemanzipation im neunzehnten Jahrhundert.

Vor hundert Jahren fing die jüdische Emanzipation an. Aber wie ich schon früher andeutete, war das eine persönliche Emanzipation; man emanzipierte jeden einzelnen Juden besonders. Und da man doch noch von dem Vollwert der Juden als Menschen nicht ganz und aufrichtig durchdrungen war, unterschied man unter den Juden einzelne Gruppen. Erste, zweite, dritte Klasse. Die Überreste dieser Auffassung finden sich ja noch in Russland, wo man gewissen Gruppen von Juden mehr Privilegien gewährt als anderen.


Im neunzehnten Jahrhundert haben wir eine Emanzipation der einzelnen Juden erlebt; im zwanzigsten Jahrhundert werden wir Zeugen einer Emanzipation des jüdischen Volkes. Ich möchte es auch so ausdrücken: War das neunzehnte Jahrhundert das Zeitalter der persönlichen Emanzipation, so wird das zwanzigste Jahrhundert das Zeitalter der völkischen Emanzipation werden.

Die Emanzipation des neunzehnten Jahrhunderts war auch eine Zeit, in welcher der einzelne Jude sich hervortat. Das lag eben im Wesen der persönlichen Emanzipation begründet, welche die Entwicklung jeder kräftigen Persönlichkeit im Rahmen der allgemeinen politisch-staatlichen und wirtschaftlichen Organisation ungemein förderte; das war um so mehr möglich, als die neue Wirtschaftsform und gleichzeitig der moderne Rechtsstaat sich erst im Werden befanden. Es entstand in der Folge eine große Assimilationsbewegung, da die Resistenz der völkischen Massen nicht vorhanden war; es gab auch politisch und wirtschaftlich kein jüdisches Volk.

Das neue Zeitalter, das zwanzigste Jahrhundert, wird durch die Organisierung der jüdischen Massen die Entwicklung der jüdischen Persönlichkeit auf dem Gebiete der jüdischen Öffentlichkeit zu einer ungeahnten Blüte bringen. Es wird möglich sein, innerhalb der jüdischen, politisch und wirtschaftlich vollkommenen Organisationen alle jüdischen Talente zu entwickeln, den jüdischen Tatendrang in jüdischer Beschäftigung sich voll und ganz ausleben zu lassen und dem Einzelnen und der Gesamtheit Würde und Ansehen zu verleihen.

Kurz: Die jüdische Persönlichkeit war es, die das große Wort im neunzehnten Jahrhundert in der jüdischen Geschichte führte; von den Taten eines jüdischen Volkes haben wir herzlich wenig gehört. Dem jüdischen Volke ist aber erst im zwanzigsten Jahrhundert eine Zukunft beschieden.

Ich habe schon erwähnt, dass der moderne Rechtsstaat und die moderne Wirtschaftsform sich im neunzehnten Jahrhundert erst im Werden befanden. Überall, wo die Juden sich aufhielten, gab es mächtige Lücken, die ausgefüllt werden mussten. Es gab auch keine größeren Massen von Juden wie heute in Osteuropa, wo Millionen Juden zusammenwohnen. Es lag damals im Interesse des Staates und der Wirtschaft, einzelne Juden auf verschiedenen Gebieten innerhalb des ganzen Staates sich betätigen zu lassen — diejenigen Juden, die eine ältere wirtschaftliche Kultur besaßen und den Geist der neuen Wirtschaftsform sozusagen verkörperten. Es war ferner auch den Juden möglich, sich, dank ihrer Intelligenz und Kultur, zu den führenden Stellen heraufzuarbeiten. Heutzutage ist die Sachlage ganz anders. Wie im Interesse des Staates, so auch im Interesse der Wirtschaft wird es von Vorteil sein, wenn die Juden in ihren alten wirtschaftlichen Stellungen beharren und in ihrem alten Aufenthaltsorte die Blüte der Industrie und des Handels fördern.

Es kommt noch ein anderes Moment hinzu: Im vorigen Jahrhundert gab es nur eine soziale jüdische Klasse — ein sozial differenziertes jüdisches Volk existierte noch nicht. In meinem Buche über die „Wanderbewegungen der Juden" habe ich ausgeführt, was für eine große Bedeutung die soziale Differenzierung für die jüdischen Wanderungen hat. Dieses Moment wird auch einen ungeheuren Einfluss auf die wirtschaftliche Betätigung und auf die rechtliche Gestaltung des jüdischen Volkes in Osteuropa ausüben müssen.

Das innere und öffentliche Leben des jüdischen Volkes hängt sehr stark von der inneren Organisation und Kultur des Volkes ab, in dessen Mitte die Juden einwandern oder durch politische Ereignisse verschlagen werden. Dieser geschichtlichen Wahrheit kann sich kein Historiker verschließen. Nun wird es zum ersten Male seit Jahrhunderten geschehen, dass die Juden, in kompakten Massen auf kleinem Gebiet dicht wohnend, im Besitze einer eigenartigen wirtschaftlichen und geistigen Kultur, nicht als einzelne Juden, sondern als geschlossene feste Volksmasse einem Staat einverleibt werden, der in seiner rechtlichen und wirtschaftlichen Organisation gewissermaßen vollkommen ist; dessen Wirtschaftsleben keine Lücken aufweist, wie etwa die Völkerorganisationen im Anfang und um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. So wird auch die Folge notwendigerweise die sein, dass man versuchen wird, dem neuen Volke an seinem Aufenthaltsorte eine Organisation zu gewähren, die im Einklang mit seiner vorhergehenden Entwicklung steht und ihm eine freie volkstümliche Fortentwicklung garantiert.

So erwarten die östlichen Juden mit der heißen Sehnsucht eines alten Volkes, das nach dem völkischen Ausdruck seiner Persönlichkeit seit Jahrhunderten ringt, von dem deutschen Sieg die Erfüllung ihrer innigsten Wünsche in der Diaspora: eine Volksemanzipation auf der Grundlage einer festgeschlossenen und durch oberste Reichsgesetze gesicherten Organisation.

Was wird dies für eine Bedeutung für die gesamte Judenheit haben? Sie wird so mannigfaltig sein, dass ich sie in meiner kurzen Arbeit unmöglich in ihrem ganzen Umfang zu schildern vermag.

Nur ein paar Worte: Die Stärkung des östlichen Zentrums der Judenheit wird die erste bedeutungsvolle Folge der neuen Zustände sein. Die kraftvolle Entfaltung des jüdischen Lebens in der Diaspora — soweit sie eben möglich ist — wird dem jüdischen Leben in allen anderen Ländern ein Rückgrat geben, eine moralische Stütze. Die jüdische Assimilation wird nicht mehr den Umfang und die Formen annehmen, wie bisher. Es ist fraglich, ob sie vollständig aufhören wird; sicher ist jedoch, dass dem Juden innerhalb der neuen Volksorganisation die Möglichkeit zu Betätigung geboten wird, welche er sonst nur auf dem nicht-jüdisch-nationalen Gebiete bekommen konnte; es wird dem Juden innerhalb der jüdischen Volksgemeinschaft möglich sein, in den Besitz derjenigen Werte zu gelangen, die er sonst nur bei Verzicht auf seine Nationalität erreichen konnte. Was dem jüdischen Volke also in früheren Zeiten durch die Assimilation verloren ging, wird nunmehr seinem Ruhm in tätigem Schaffen dienen. Infolge der neuen Lebensformen im Osten wird dort ein besseres Menschenmaterial erzogen. Das jüdische Volk wird schon in der Diaspora als solches anerkannt — wie alle anderen Völker. Auf welche Weise wird jedoch ein besseres Menschenmaterial herangebildet? Die Wirtschaftsform am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts erforderte einzelne freie Menschen. Man schuf freie Arbeiter, die nicht organisiert waren und sich überhaupt nicht zusammenschließen durften. Auch die Leiter der Wirtschaft wussten noch nichts von einer Vereinigung. Dies war damals im Interesse der Entwicklung. So schuf die jüdische Emanzipation — sagen wir kurz: nach französischem Muster — und darunter verstehe ich die Emanzipation jedes einzelnen Juden als Menschen — eine ungeheure Desorganisation im jüdischen Leben. Man warf sich in den Strudel des Volkes, in dessen Mitte man lebte. Es hieß: Assimiliere sich, wer kann! Der Jude verlor mehr und mehr an Volkswürde. Was jetzt aber not tut, sind: würdevolle Juden. Mehr Würde bekommen wir durch eine Organisierung des jüdischen Volkes im Osten. Auch mehr Ansehen werden wir dann haben, und nicht nur die Juden im Osten, sondern alle Juden in der ganzen Welt.