Der Krieg. Eine Schicksalsstunde des jüdischen Volkes

Mit einer Karte des jüdischen Ansiedlungsrayons in Russland
Autor: Kaplun-Kogan, Wladimir Wolf (1888-1948), Erscheinungsjahr: 1915

Exemplar in der Bibliothek ansehen/leihen
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Gesellschaft, Nation, Judenheit, ostjuden, Polen, Russland, Deutschland, krieg, Umwälzungen, Zivilgesetzgebung, Gleichberechtigung, Freiheit, Gerechtigkeit, Befreiung, Europa,
In vollem Bewusstsein all der Schwierigkeiten, die das Thema in sich birgt, habe ich mich entschlossen, über den Krieg in seiner Bedeutung für die Judenheit zu sprechen. Aus der großen Fülle von Problemen, die infolge des Krieges für die Juden erwuchsen, werde ich versuchen, einige der wichtigsten herauszugreifen. Aber auch bei diesen will ich die Aufmerksamkeit nur auf das Wesentlichste lenken; dies erscheint mir schon deshalb angebracht, weil wir uns mitten im Werden von neuen Fragen befinden. Auch will ich von vornherein bemerken, dass ich keinerlei Schilderungen von Wirkungen des Krieges auf die Lage der Juden in verschiedenen Ländern zu geben beabsichtige. Mein Zweck ist, auf Grund einer historischen Betrachtung und unter Berücksichtigung der gegenwärtigen politischen Konstellation die Linien zu verzeichnen, auf denen sich die zukünftige Entwickelung der jüdischen politischen Angelegenheiten nach wahrscheinlicher Berechnung vollziehen könnte. Ich leugne nicht, dass meine Betrachtungen zum Teil Hypothesen sind; — wer vermag es aber, im Strudel der schwerwiegenden Ereignisse endgültige Urteile zu fällen?

Manchem werden meine Ausführungen unzeitgemäß, weil verfrüht erscheinen. Dem ist jedoch nicht so. Wir glauben ja alle felsenfest an den Sieg der deutschen Waffen; wir müssen also konsequenterweise uns schon jetzt mit den möglichen Zuständen vertraut machen, die die deutschen Siege zur Wirklichkeit machen werden. Und erst recht wir Juden, die wir nicht gewöhnt sind, die politischen Ereignisse der uns umgebenden Welt vom Standpunkt einer jüdischen Politik zu erfassen. Dieser Umstand allein macht eine rechtzeitige Erörterung der jüdisch-politischen Probleme zu einer fast unumgänglichen Notwendigkeit.

Der deutsche Krieg, ein heiliger Verteidigungskrieg, wird in seinen Schlusswirkungen den Frieden Europas in der Zukunft nur dann sichern können, wenn er zugleich die vielen Völker, die unter dem Joch der Russen leiden, befreien und dadurch ,,dasjenige Russland vor dem Jahre 1914" vernichten wird, welches nur von der Ausbeutung der Fremdvölker lebte.

Eines der vielen Fremdvölker Russlands, welches am längsten auf seine Befreiung wartet und am innigsten die Deutschen in Russland begrüßt, sind die Juden. Die Juden erleben jetzt einen unermesslich bedeutungsvollen Moment ihrer Geschichte. Das östliche Zentrum der Judenheit, das Reservoir des jüdischen Geistes, die Quelle, aus der alle anderen Zentren des jüdischen Volkes in Amerika, Deutschland, Palästina usw. gespeist werden, steht vor einer Umwandlung, die vorbildlich und maßgebend für die ganze Judenheit werden soll.

Um die Tragweite des gegenwärtigen Augenblicks richtig schätzen zu können, wollen wir uns ein Ereignis aus der Geschichte der Juden in Erinnerung bringen.

Vor hundert und einigen Jahren tobte auch ein großer Krieg in Europa. Die Lage der Juden zur Zeit der französischen Kriege am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts war grundverschieden von derjenigen, in der sie der jetzige Krieg angetroffen hat. Die prinzipielle Auffassung der jüdischen Frage hatte damals einen anderen Charakter; man kannte nämlich die Juden als Menschen noch gar nicht. Wenn ein Jude in eine Stadt kam, so wurde von ihm derselbe Zoll erhoben, wie von den Tieren.

Man wollte den Juden in die europäische Gesellschaft von damals unter keiner Bedingung aufnehmen; man bestritt bei ihm alle menschlichen Eigenschaften, die ihm das Recht einräumten, unter Menschen als Mensch zu leben. In seiner Freizügigkeit war er sehr stark gehemmt, und sogar die natürliche Vermehrung wurde durch Reglementierung eingeschränkt; die Erlaubnis zum Heiraten musste jedes mal speziell eingeholt werden — und nicht immer wurde sie erteilt. Eine äußerst harte Bevormundung des jüdischen Lebens war das Charakteristikum der Epoche.

Der Jude wurde als eine Ausgeburt der Menschheit betrachtet, und während der großen gesellschaftlichen Umwälzungen, die infolge der französischen Kriege eintraten, wurde die Frage zur Diskussion gestellt, ob Juden überhaupt Menschen seien, und man hat im Prinzip die Juden als Menschen anerkannt; man hat ihnen im Prinzip — ich spreche nicht von der langsamen Verwirklichung des Prinzips in der Praxis — die Gleichberechtigung gewährt. Aber man hat gleichzeitig ausdrücklich betont, dass die Juden kein Volk, keine Nation sind. In der nationalen Versammlung in Paris proklamierte man: „Den Juden als einer Nation muss man alles versagen; den Juden als Menschen muss man alles gewähren."*)

*) Clermont-Tonnère in der Sitzung der Nationalversammlung in Paris vom 23. Dezember 1789.

Das war das große, schwerwiegende Ereignis in der Geschichte der europäischen Juden: man erkannte sie als Menschen in der Zivilgesetzgebung an; man verbannte aber gleichzeitig den Begriff der jüdischen Nation aus der Staatsgesetzgebung. Nur unter diesem Gesichtspunkte ist die weitere Geschichte der Juden im vorigen Jahrhundert verständlich.

Ostjüdisches Antlitz

Ostjüdisches Antlitz

Ostjude

Ostjude

Bärtiger Jude

Bärtiger Jude

Alter Jude

Alter Jude

Lesender Jude

Lesender Jude

Jugendliche Jüdin

Jugendliche Jüdin

Ostjüdin mit Kind

Ostjüdin mit Kind

Ostjüdin mit Kopftuch

Ostjüdin mit Kopftuch