Der Kirchenschatz von St. Marien in Danzig

Aus Schatzkammern in Kirchen und Schlössern
Autor: Mannowski, Walter Prof. Dr. (1881-?) Direktor des Danziger Stadtmuseums, Erscheinungsjahr: 1937
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Danzig, Kirchenschatz, Schatzkammern, Kostbarkeiten, Marienkirche, Messgewänder, Chormäntel, Seidenweberei
Schatzkammern in Kirchen und alten Schlössern üben einen eigenen Zauber aus. Der Grund dafür liegt nicht im materiellen Wert der Dinge, die dort aufgespeichert sind, sondern was jenen Schatzkammern das besondere Geheimnisvolle gibt, das ist der Hauch der Vergangenheit, der auf ihnen liegt. Sie führen uns zurück in sagenumwobene Zeiten, ihre Kostbarkeiten lassen als unmittelbare Zeugen längst entschlafene Persönlichkeiten vor unseren Augen wieder lebendig werden, lassen uns hineinschauen in das Streben und Denken, das Fühlen und Handeln der Menschen jener fernen Epoche und lassen uns erkennen, daß bei aller äußerlicher Verschiedenheit der Zeiten doch der Mensch immer im wesentlichen sich merkwürdig gleich geblieben ist.

Unsere altehrwürdige Marienkirche birgt nun einen Schatz ganz einziger Art. Gerät aus Gold oder Silber, das in anderen Kirchen die erste Rolle spielt, erregt hier die Aufmerksamkeit nicht so sehr. Einst war auch an diesen Kostbarkeiten der Reichtum groß, und es klingt wie aus alten Märchen, was wir darüber in früheren Inventaren lesen. Noch 1552 werden da in der Marienkirche nicht weniger als 78 silberne, vergoldete Kelche, 43 Altarkreuze, 24 große silberne Heiligenfiguren und vieles andere aufgezählt. Aber schon wenig später bei der Belagerung der Stadt durch den polnischen König Stefan Bathory wird alles erreichbare Silbergerät aus öffentlichem und privatem Besitz eingezogen und eingeschmolzen, zu Münzen geprägt, um damit die Söldner zu bezahlen. Dabei verlor auch die Marienkirche fast ihren ganzen Edelmetallschatz. Nur wenige Stücke haben sich über diese schwere Zeit hinweg erhalten und was heute noch davon übrig ist, das gibt nur einen ganz schwachen Abglanz des einstigen Reichtums.

Aber einen Schatz besitzt die Marienkirche, der alles überragt, was an ähnlichen Dingen in den Schäden der Dome und den Schränken der großen Sammlungen in unsere Zeit hinüber gerettet wurde. Es sind Messgewänder und Chormäntel aus den köstlichsten Brokaten Chinas, des Orients. Italiens. Erzeugnisse der Blütezeit der alten Seidenweberei im 14. und 15. Jahrhundert, ferner Stickereien von ganz einziger Schönheit. Und das alles in einer Menge, in einer Vielseitigkeit wie nirgends sonst. Die Erhaltung ist so vorzüglich, daß man kaum glauben mag. daß uns heute 5 — 600 Jahre von der Entstehungszeit dieser Stücke trennen.

Von ihrer Schönheit, von den leuchtenden Farben, dem Glanz der Seide und des Goldes, von dem Reichtum der Zeichnung können Worte leider keine Anschauung vermitteln. Hören wir lieber, was diese Stoffe sonst uns erzählen aus der fernen Zeit ihrer Entstehung.

Da ist z. B. ein Brokat aus schwarzer Seide und Gold. Das Muster zeigt in kreisartigen Vielecken Vögel wappenartig gegen einander gestellt. Das ist ein Motiv, wie es die spät antike Textilkunst etwa vom 4. Jh. an ausgebildet hatte. Aber der Stoff erweist sich nach der Technik seiner Herstellung zweifellos als chinesisches Erzeugnis und auch die Einzelheiten der Zeichnung, die freien Ranken, die Lotospalmetten. die Zwickelfüllungen durch vielfach gewundene Drachen zeigen chinesische Art. Ähnliche Stücke sind in den Schatzhäusern von Nara und anderen Tempelschätzen Chinas und Japans noch erhalten. Sie zeugen davon, daß spätantike Formen bis in den fernsten Osten Asiens dort das Schaffen beeinflusst haben. Aber der Brokat kann noch mehr erzählen, denn auf den Flügeln der Vögel bemerkt man islamische Schriftzeichen, die sich entziffern lassen. Es ist ein Segensspruch auf einen Sultan Muhammed Jb Qualuun, einen der Mameluckensultane, die in Ägypten gegen Ende des 13. und im Anfang des 14. Jahrhunderts geherrscht haben. Der im fernen China gewebte Stoff war also für den Hof eines ägyptischen Fürsten bestimmt, er ist Zeuge für den regen Handelsverkehr, der gerade damals im Anfang des 14. Jahrhunderts über die Karawanenstraßen Innerasiens, durch Gebiete, die heute wüste und leer sind, den fernen Osten mit dem Mittelmeergebiet verband. Was der Westen dem Osten in spätantiker Zeit an formalen Anregungen gegeben hatte, das gab nun der Osten dem Westen im späten Mittelalter wieder zurück. Der Import chinesischer Seiden hatte damals einen recht großen Umfang. Das lehren uns die Inventare italienischer Kirchen, der Peterskirche in Rom etwa. Aber von jenem alten Reichtum ist in Italien selbst fast nichts mehr erhalten. Und auch im Orient fehlen solche Stücke. Nur im Norden, in Deutschland, vor allem in Regensburg, Braunschweig, Stralsund, Halberstadt, finden sich noch vereinzelte Gewänder aus diesen Stoffen und auch die Danziger Marienkirche bewahrt davon eine Anzahl.

Wichtiger noch als die Tatsache des direkten Imports ist die ungeheure Wirkung, die die hochentwickelte chinesische Webekunst auf die Seidenweberei in den westlichen Ländern ausübte. Die islamische Webekunst Vorderasiens, die in Bagdad und in Syrien ihren Hauptsitz hatte, und von der die Marienkirche an Reichtum und Erhaltung unvergleichliche Beispiele besitzt, steht unverkennbar unter chinesischem Einfluss. In den islamischer Herrschaft unterworfenen Ländern des Mittelmeergebietes, besonders in Sizilien und Spanien, entstanden neue Mittelpunkte, dieser islamischen Webekunst, und von dort aus drang sie im Anfang des 14. Jahrhunderts auch nach dem italienischen Festlande vor, wo sie vor allem in der damals blühenden Stadt Lucca in Toscana, unweit von Florenz, eine nie wieder erreichte technische Höhe und künstlerische Vollendung erlangte.

Stärker als die typisch islamischen Formen wurden von den italienischen Webern jener Zeit gerade die chinesischen Stilelemente dieser Kunst übernommen. Chinesische Fabeltiere: den Drachen, das Khilin, den Fonghoang, finden wir überall. Die chinesische Lotospalmette bleibt das herrschende Pflanzenornament. Vor allem aber war es der unsymmetrische, über die ganze Stoffläche sich ergießende freie Fluss der ostasiatischen Ornamentik, der von den Webern der italienischen Gotik als ihrem eigenen Formwillen verwandt empfunden wurde. So erklärt sich jene schrankenlose Aufnahme der ostasiatischen Formelemente in jener Zeit, die erst im Anfang des 15. Jahrhunderts allmählich durch abendländische Formen mehr und mehr abgelöst wurden. Jene Vorliebe für chinesische Ornamentik in der europäischen Textilkunst des 14. Jahrhunderts war nicht geringer als die weit bekanntere in den Zeiten des Rokoko, und sie übertraf bei weitem an Umfang die mehr oder weniger bewusste Anlehnung an japanische Formen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts.

Die in Lucca gewebten Brokate des 14. Jahrhunderts gehören zu den köstlichsten Erzeugnissen der Webekunst aller Zeiten. Der Reichtum und die Lebendigkeit der Zeichnung, die Unerschöpflichkeit der Einfälle wetteifert mit der zarten Schönheit der Farben und der zurückhaltenden Pracht des Goldes. Gerade wie auf Gemälden aus der Frühzeit der italienischen Malerei, etwa von Ciotto bis auf Simone Martini, werden in den Geweben fein abgetönte helle Farben bevorzugt, ein helles Erdbeerrot, ein zartes Grün sind die beliebtesten Töne und dazu gesellt sich ein Gold von ganz eigenartig weichem Glanz, das durch hauchfeine vergoldete Darmhäutchen erzeugt wurde, die man um dünne Leinenfäden wickelte. Wohlerhaltene Stoffe dieser Art gehören heute schon in kleinen Abschnitten zu den größten Seltenheiten. Die Danziger Marienkirche besitzt allein in ihrem Schatz über fünfzig vollständige Chormäntel und Messgewänder aus diesen Luccheser Brokaten und Damasten. Das ist mehr, als man in allen Kirchen und Museen des Ursprungslandes Italien zusammen heute findet.

Die Darstellungen auf den Stoffen nehmen keine Rücksicht auf den kirchlichen Verwendungszweck. Tierkämpfe, Jagd. Schiffe, lustige Grotesken, höfisches Leben spielen durchaus die führende Rolle. Kirchliche Symbole, Szenen aus der Heilsgeschichte, Legendendarstellungen finden sich nur ganz ausnahmsweise. Die Kirche war ja in jener Zeit noch untrennbar mit allen Äußerungen des Lebens verbunden, es gab hier keine Gegensätze. Auf Schönheit und Prachtentfaltung kam es an. Die reiche Hofhaltung der Fürsten hatte den stärksten Bedarf an immer neuen Mustern und Formen. Was diesen diente, galt auch als geeignet für die Schmückung des Gottesdienstes. Und wenn auch in Italien selbst wohl noch Unterschiede in der Ausstattung der Stoffe je nach ihrer Verwendung gemacht wurden, so fielen solche Sorgen völlig fort, wenn nordische Kaufleute von ihren Reisen die schimmernden Schätze südlicher Webekunst in ihre weniger prunkgewohnte Heimat gebracht hatten.

Gegen Anfang des 15. Jahrhunderts geht die Führung auf dem Gebiete der Webekunst von Lucca auf andere Städte Italiens über. Venedig vor allen andern ragt hervor durch Menge und Kostbarkeit

der hier entstandenen Prachtgewebe. Aber die freie Beweglichkeit der Luccheser Formengebung, ihre Jugendfrische und oft ungebärdige Kraft findet sich hier nicht mehr. Während früher der freie ununterbrochene Fluss des Musters die Grenzen der einzelnen wiederkehrenden Teile nicht erkennen ließ, werden nun die Formen klar geordnet und gesondert. Den neu aufkommenden Formgeschmack der Renaissance entsprach mehr die Zusammenziehung der Einzelformen zu großen deutlich gegliederten Formgruppen. Die symmetrische Anlage des Ornaments wurde immer beliebter. Aus der chinesischen Lotospalmette entwickelt sich das sogenannte Granatapfelmuster, das die Weberei des ganzen folgenden 15. Jahrhunderts beherrscht. Die Farben werden voller und lauter. Purpurrot, Tiefblau, saftiges Grün herrschen vor. Der glatte Seidengrund genügt dem gesteigerten Prunkbedürfnis nicht mehr. Der Samt, oft in mehreren Schichten reliefartig geschoren, tritt an seine Stelle und das milde Strahlen des Häutchengold macht dem gleißenderen Glänze des Metallgoldes Platz. Köstliche Brokate, Damaste und Samte auch aus dieser Zeit sind in der Marienkirche erhalten, zum Teil in einer Frische, als wären sie erst gestern aus der Werkstatt gekommen.

Aus Italien stammt der größte Teil der Gewebe dieser Messgewänder und zeugt von den Verbindungen, die damals im 14. und im beginnenden 15. Jahrhundert zwischen Danzig und dem Süden Europas bestanden. Teils direkt über Prag und Venedig, teils über den großen Umschlagplatz des italienischen Textilhandels für das nördliche Europa, über Brügge, mögen die Stoffe nach Danzig gelangt sein.

Die Stickereien, die die Gewänder zieren, sind fast durchweg nördlich der Alpen entstanden. Das älteste Stück des ganzen Schatzes ist der Rest eines Altarvorhanges in Weißstickerei auf Leinengrund mit phantastischen Tierdarstellungen. Die Anordnung des Musters entspricht noch deutlich dem romanischen Formgefühl, während in den Einzelformen bereits gotische Anklänge sich zeigen. Diese Stickerei ist ein typisches Beispiel des Übergangsstils. etwa gleichzeitig mit den berühmten Skulpturen des Bamberger Domes. Um die Mitte des 13. Jahrhunderts wird die Arbeit wahrscheinlich in einem norddeutschen Kloster entstanden sein.

Dem Ausgang des 14. und dem beginnenden 15. Jahrhundert gehören dann eine Anzahl von Stickereien an, die im Südosten Deutschlands entstanden sind. Dort hatte ja am Hofe Karl IV. in Prag ein neues Zentrum deutschen Kulturlebens sich gebildet, mit dem gerade den Ordensstaat und Danzig enge Beziehungen verbanden. Die frühen Arbeiten dieser Gruppe, etwa die weißseidene Kasel mit der Darstellung der Auferstehung Christi im Gabelkreuz der Rückseite, gehören zum Besten, was überhaupt an Nadelmalerei der Gotik bekannt geworden ist. Zart und ungemein feinfühlig ist der Kontur, schwebend, völlig schwerelos sind die Gestalten, und so weit die spröde Technik es erlaubt, ist eine Vergeistigung der gestickten Darstellungen erreicht, die sie weit hinaushebt über nur handwerkliche Leistung.

Eine Gruppe anderer unter sich verwandter Arbeiten, die meist dem Anfang des 15. Jahrhunderts angehören, stammt aus England. Raffinierte Technik verbindet sich bei ihnen mit einer eigenartigen Herbigkeit und Strenge der Zeichnung und einer Art Wappenstil, wie er auch für die englische Buchmalerei der gleichen Zeit bezeichnend ist. Die Stickereien sind Beispiele einer Spätblüte der altberühmten englischen Stickerkunst des Mittelalters, von der nur wenig sich erhalten hat, und zugleich Zeugen der engen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen, die Danzig mit England in jener Zeit verbanden.

Auch in Danzig selbst blühte die Stickerkunst und schuf köstliche Werke, die auch außerhalb Liebhaber fanden. Im Schatz des Doms von Upsala und anderen schwedischen Kirchen finden wir z. B. eine Anzahl solcher Messgewänder mit Stickereien von Danziger Herkunft, und Danziger Stickmeister haben auch einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Stickerkunst von Stockholm genommen. Die große Anzahl von Altardecken, Kelchtüchern, Messgewändern und dergl. mit Danziger Stickereien, die in der Danziger Marienkirche selbst sich erhalten haben, legt Zeugnis ab von dem hohen Stande, den diese Kunst hier erreicht hat.

Diese frühen Bildstickereien sind besonders wichtig als alte Dokumente der Malerei aus einer Zeit, in der das Tafelbild noch nicht zur allgemeinen Herrschaft gekommen war und nur die Wände und die Pergamentseiten der Bücher malerischen Schmuck erhielten.

Wir wissen, daß Maler und Sticker damals vielfach in einer Zunft vereinigt waren. Die besten malerischen Kräfte waren tätig für den Entwurf und die Ausführung kirchlicher Stickereien, nur kleinere Decken und Ähnliches blieben der Handarbeit der Nonnenklöster überlassen, und was gerade in der Danziger Marienkirche an Beispielen dieser kirchlichen Stickerkunst erhalten ist, kann durchaus den schönsten Erzeugnissen der Malerei jener Zeit an die Seite gestellt werden.

In der Spätzeit des 15. Jahrhunderts wird die Technik der Sticker komplizierter und reicher. Man begnügt sich nicht mehr mit der Fläche. Man unterlegt die gestickten Gestalten, so daß sie in starkem Relief hervortreten und man schmückt die Figuren und Ornamente überreich mit Gold, Silber, Email und echten Perlen. Aber der erhöhte Reichtum, die größere Prachtentfaltung kann den Vergleich mit der feineren, zurückhaltenderen, aber mehr verinnerlichten Kunst der Frühzeit doch nicht aushalten. Eine Entartung ins Übertechnische und Überreiche setzt ein, die dann im 16. Jahrhundert schließlich zum völligen Niedergang der alten Stickkunst führt. Von diesen Erzeugnissen der Spätzeit besitzt die Marienkirche vergleichsweise nur wenig. Die erhaltenen Stücke beschränken sich vielmehr im wesentlichen auf eine Zeitspanne von nur ungefähr 150 Jahren, von etwa 1350 bis gegen 1500.

Wir fragen erstaunt, wie es dazu kam. daß gerade in der Danziger Marienkirche eine solch einzigartige Anhäufung dieser kostbaren Paramente des späten Mittelalters sich erhalten hat, während viel reichere Kirchen an anderen Orten nichts davon mehr besitzen. Eine ganze Anzahl von Umständen haben dazu beigetragen. Zunächst scheint es erstaunlich, daß gerade eine protestantische Kirche einen solchen Reichtum an kirchlichen Gewändern des katholischen Kultus besitzt, aber in der katholischen Kirche bestand die Verordnung, daß Messgewänder und andere Paramente, die schadhaft und zum Gebrauch nicht mehr dienlich seien, verbrannt werden sollten. Das erklärt, daß nur wenig von diesen Geweben und Stickereien aus mittelalterlicher Zeit auf uns gekommen ist. In den protestantischen Kirchen haben dann vor allem die Bilderstürme des 16. Jahrhunderts unter den Beständen der alten Messgewänder stark aufgeräumt. Auch Danzig ist davon nicht verschont geblieben, und in den Stürmen der Jahre 1525 und 1526 ist mancher Altar und vieles liturgische Gerät ein Raub der Flammen geworden. Die Opfer, die jene Zeit hier forderte, waren jedoch geringer als an anderen Orten. Das noch erhaltene Inventar von 1552 berichtet uns von einem Reichtum an kirchlichen Geweben und Stickereien, der den heutigen Bestand um das Vielfache übersteigt. Zu jener Zeit hatten nach den ersten Stürmen in einer friedlichen, aber darum nicht minder intensiven Weise mehr und mehr reformatorische Ideen gerade bei der Marienkirche Eingang gefunden. Bei allen Ständen hatten sie sich neben dem alten Glauben durchgesetzt, ohne daß man doch an den äußeren Formen des Gottesdienstes Wesentliches änderte. Der Rat hatte eine solche friedliche Entwicklung vielfach gefördert, und seit 1536 war neben dem katholischen Pfarramt an St. Marien ein protestantisches Predigtamt unter Bestätigung durch den bischöflichen Offizial eingesetzt worden. Diesen eigenartigen Umständen war es wohl im wesentlichen zu danken, daß die Geräte und Paramente des alten katholischen Gottesdienstes zwar mehr und mehr außer Gebrauch kamen, aber doch nicht der Vernichtung anheim fielen, wie an anderen Orten. Sie wurden wohl verwahrt in Kästen und Schränken und schließlich vergessen. Die späteren Inventare des 17. und 18. Jahrhunderts, von denen viele in großer Ausführlichkeit erhalten sind, erwähnen von dem Schatze nichts. Erst 1820 findet man bei der Öffnung einiger Schränke der Sakristei, deren Schlüssel nicht mehr vorhanden waren, eine Anzahl alter Messgewänder. Reliquiare und Stickereien wieder. In den dreißiger Jahren werden weitere Stücke gelegentlich gefunden und in den Jahren 1861 — 1864 gelingt es dem Küster Hinz in systematischer Nachforschung den größten Teil des heutigen Bestandes in Wandschränken und Truhen alter Kapellen, im Turm und den wenig betretenen Nebenräumen aufzufinden. Dieser jahrhundertlange Dornröschen-Schlaf erklärt die vorzügliche Erhaltung der sonst so empfindlichen Paramente. Ein letzter Fund gelang noch gelegentlich der Restaurierung des Innenraumes vor wenigen Jahren, der zwar keine Chormäntel und Messgewänder mehr zutage förderte, aber eine Anzahl von Altardecken und anderen kleinen Paramenten von einer Unberührtheit durch die Jahrhunderte, die ohne Beispiel ist.

Schon bald nach der Auffindung des Schatzes im 19. Jahrhundert machten sich Einflüsse geltend, die seinen Bestand stark minderten. Man hatte damals nur wenig Achtung vor solchen Stücken und ging deshalb leichtsinnig damit um. So konnte der beste Kenner der mittelalterlichen Paramentik in jener Zeit, der Kanonikus Bock aus Aachen eine Reihe der besten Stücke seiner Sammlung einverleiben, die nach seinem Tode 1853 in das Londoner Victoria- und Albert-Museum kamen und dort heute als wichtige Hauptstücke in der großen Textilsammlung prangen. Ende der siebziger Jahre und Anfang der achtziger Jahre wurden weit über 200 Stoffreste, aber auch ganze Altardecken und gestickte Borten an das Berliner Kunstgewerbemuseum verkauft und mehrfach fanden auch vereinzelte Abgaben an Private statt.

Erst später erkannte man die große historische und künstlerische Bedeutung des Schatzes für Danzig und ging vorsichtiger mit ihm um. Gegen 1930 wurde durch eine genaue Inventarisation und durch einen wissenschaftlichen Katalog sämtlicher Stücke jeder weiteren Zerstreuung ein hoffentlich für recht lange Zeit wirksamer Riegel vorgeschoben. (W. Mannowsky, Der Danziger Paramentenschatz, 4 Bde. Berlin 1930/33.)

Die Aufstellung, die der Schatz in der Barbarakapelle der Marienkirche gefunden hatte, war wenig befriedigend. Die Schränke waren unzureichend, die Beleuchtung ungleich. Nur ein kleiner Teil des Bestandes konnte sichtbar gemacht werden und auch gegen die zerstörenden Einwirkungen von Feuchtigkeit und Licht fehlte hinreichender Schutz. Pläne für eine Neuaufstellung waren längst vorhanden, aber Mangel an Mitteln und an Raum verhinderten bisher immer die Ausführung. Im Anfang des Jahres 1936 hat man sich schließlich entschlossen, wenigstens einen Teil des Schatzes in das Danziger Stadtmuseum zu überführen. Eine gotische Halle im Erdgeschoss des Museums wurde eigens dafür hergerichtet. Tageslicht wurde für die Beleuchtung völlig ausgeschaltet, denn gerade seine dauernde Einwirkung ist ja für die Erhaltung alter Textilien besonders schädlich. Rings an den Wänden ziehen sich mit großen Scheiben verglaste Schränke um den Raum hin und Einzelvitrinen stehen in seiner Mitte. Die Messgewänder sind in natürlichem Faltenwurf aufgestellt, so etwa, wie sie seinerzeit getragen wurden.

Für die Beleuchtung sorgen verdeckte elektrische Lampen verschiedener Art und Stärke je nach den Erfordernissen der einzelnen Stücke. Dadurch kommt die Schönheit der Farben und Formen, der Reichtum der Erfindung und die unerreichte Feinheit der handwerklichen Ausführung der Gewebe und Stickereien erst zur vollen Geltung.

Ausgestellt ist etwa ein Drittel des ganzen Bestandes, der Rest soll, nach der Beendigung der Bauarbeiten in der Kirche, dort eine möglichst würdige Aufstellung erfahren.

Wer heute den dämmrigen Raum im Museum betritt, in dem nur die Farben und das Gold der alten Gewänder hell erstrahlen, der wird den eigenartigen Zauber empfinden, der von diesen köstlichen, vielfach fremdartigen Dingen ausgeht. Aber nicht nur Augenfreude vermag dieser einzigartige Schatz zu vermitteln, nicht nur dem Geschichtskundigen, dem Künstler vermag er Anregung zu geben, sondern jeder, der unbefangen sich seiner Betrachtung widmet, wird die beglückende Werkfreude mitempfinden, die diese Zeichner und Sticker und Weber in jenen fernen Tagen beseelte, und die über alle Jahrhunderte hinweg bis auf unsere Zeit lebendig geblieben ist. Diese Freude möglichst allen zu vermitteln, ihnen davon etwas in das eigene Leben und Schaffen hineinzutragen, das war der eigentliche Sinn und Zweck der Neuaufstellung dieses Schatzes, der zum kostbarsten Kunstbesitz nicht nur des an alter Kunst so reichen Danzig sondern des ganzen deutschen Nordens gehört.

00 Rest eines Chormantels. Schwarz-Gold-Brokat, gewebt in China um 1325
01 Kasel aus Goldbrokat mit Schriftreihen, gewebt in Mesopotamien im 14. Jahrhundert
02 Kasel aus Weiß-Gold-Brokat, gewebt in Lucca (Toskana), 14. Jhdt.
03 Kasel aus Blau-Gold-Brokat mit Darstellung von Segelschiffen, gewebt in Lucca (Toskana). 14. Jhdt.
04 Kasel aus farbigem Seidendamast, gewebt in Italien im 14. Jhdt., mit Kreuz aus Kölner Borte
05 Kasel aus italienischem goldbroschiertem Seidenstoff. Rückenkreuz -Stickerei, Böhmen oder Österreich um 1400
06 Chormantel aus rotem Samt mit Stickerei in Seide und Gold. England Anfang 15. Jhdt.
07 Stickerei von einem Chormantel, Magdalena und die bösen Lüste. Gestickt in Danzig, 1. Hälfte 15. Jhdts.
08 Chormantel aus rotem Samt mit Stickerei in Seide und Gold. Danziger Arbeit, I. Hälfte 15. Jhdts.
09 Allardecke, sog. Mittelstück. Gestickt in Danzig, 1. Hälfte 15. Jhdts.

00 Rest eines Chormantels. Schwarz-Gold-Brokat, gewebt in China um 1325

00 Rest eines Chormantels. Schwarz-Gold-Brokat, gewebt in China um 1325

01 Kasel aus Goldbrokat mit Schriftreihen, gewebt in Mesopotamien im 14. Jahrhundert

01 Kasel aus Goldbrokat mit Schriftreihen, gewebt in Mesopotamien im 14. Jahrhundert

02 Kasel aus Weiß-Gold-Brokat, gewebt in Lucca (Toskana), 14. Jhdt.

02 Kasel aus Weiß-Gold-Brokat, gewebt in Lucca (Toskana), 14. Jhdt.

03 Kasel aus Blau-Gold-Brokat mit Darstellung von Segelschiffen, gewebt in Lucca (Toskana). 14. Jhdt.

03 Kasel aus Blau-Gold-Brokat mit Darstellung von Segelschiffen, gewebt in Lucca (Toskana). 14. Jhdt.

04 Kasel aus farbigem Seidendamast, gewebt in Italien im 14. Jhdt., mit Kreuz aus Kölner Borte

04 Kasel aus farbigem Seidendamast, gewebt in Italien im 14. Jhdt., mit Kreuz aus Kölner Borte

05 Kasel aus italienischem goldbroschiertem Seidenstoff. Rückenkreuz -Stickerei, Böhmen oder Österreich um 1400

05 Kasel aus italienischem goldbroschiertem Seidenstoff. Rückenkreuz -Stickerei, Böhmen oder Österreich um 1400

06 Chormantel aus rotem Samt mit Stickerei in Seide und Gold. England Anfang 15. Jhdt.

06 Chormantel aus rotem Samt mit Stickerei in Seide und Gold. England Anfang 15. Jhdt.

07 Stickerei von einem Chormantel, Magdalena und die bösen Lüste. Gestickt in Danzig, 1. Hälfte 15. Jhdts.

07 Stickerei von einem Chormantel, Magdalena und die bösen Lüste. Gestickt in Danzig, 1. Hälfte 15. Jhdts.

08 Chormantel aus rotem Samt mit Stickerei in Seide und Gold. Danziger Arbeit, I. Hälfte 15. Jhdts.

08 Chormantel aus rotem Samt mit Stickerei in Seide und Gold. Danziger Arbeit, I. Hälfte 15. Jhdts.

09 Allardecke, sog. Mittelstück. Gestickt in Danzig, 1. Hälfte 15. Jhdts.

09 Allardecke, sog. Mittelstück. Gestickt in Danzig, 1. Hälfte 15. Jhdts.