Der Abend des 18. Jahrhunderts ist für die Juden des europäischen Westens zur Morgendämmerung einer neuen Zeit geworden

Der Abend des 18. Jahrhunderts ist für die Juden des europäischen Westens zur Morgendämmerung einer neuen Zeit geworden, einer Zeit, welche verrostete Ketten des Vorurteils zerbrochen und altehrwürdige Irrtümer in die Rumpelkammer menschlicher Wahnvorstellung verwiesen hat, einer Zeit, die sich verpflichtet hielt, auch die Juden von der ein Jahrtausend alten Schmach des Geknechtetseins, die auf ihnen lastete, allmählich zu befreien und zu erlösen. In den fränkischen Landesteilen des Königreichs Bayern ist es ein katholischer Priester, der die Ehre und das Verdienst für sich in Anspruch nimmt, als Erster an diese Pflicht gemahnt und erinnert zu haben. Dr. Franz Oberthür, Professor der christlichen Dogmatik in Würzburg, ein geschätzter Gelehrter und Politiker, der eine nicht unbedeutende Rolle am Hofe des aufgeklärten und humanen Fürstbischofs Franz Ludwig V. Erthal (1779 — 95) gespielt hat, berichtet: „Unter Bischof Franz Ludwig’s Regierung hatte ich selbst es veranlasst, dass auf dem fränkischen Kreisconvent in Nürnberg die erste Stimme von der Notwendigkeit einer Verbesserung der Lage der Juden erscholl und der erste Strahl der Hoffnung, dass man einstens daran denken werde, in Franken blitzte“.1)

Im Jahre 1792 waren die Gesandten der fränkischen Staaten zur Beratung von wichtigen Fragen der Weltpolitik in Nürnberg versammelt. Die Herren mögen nicht wenig die Köpfe geschüttelt haben, als sie auf der ihnen vorgelegten Tagesordnung einen Punkt lasen, der ihrer Weisheit die Frage zur Beratung vorlegte: „wie ist der sittliche und bürgerliche Zustand der Juden im fränkischen Krayss zu verbessern?“ Das war jener erste Blitzstrahl der Hoffnung, welchen bezüglich der Lage der Juden Prof. Oberthür damals in Franken bemerkte. Drei Bekenner des alten Bundes hatten zu diesem Punkte in eigener Sache das Wort ergriffen und im Namen der jüdischen Gemeindevon Fürth und aller jüdischen Einwohner von Franken an den Kreiskonvent eine vom 14. Februar 1792: datierte Bittschrift gerichtet, in welcher es am Schlüsse heißt: „Wir preisen uns glücklich, dass wir den Zeitpunkt endlich erlebt haben, wo die Juden selbst von weisen christlichen Fürsten und Ständen wieder als Menschen mit Liebe, angesehen und behandelt werden, und wir hoffen dereinst vor dem Throne des Gottes, den auch wir in Staub und Asche anbeten, noch denjenigen Menschenfreunden einen feurigen Dank zu bringen, welche die Erleichterung und Verbesserung unseres sittlichen und bürgerlichen Zustands auf dieser Erde mit Wärme umfasst und mit Weisheit befördert haben“.2)


Dieser allererste Versuch, den die Juden von Franken im Jahre 1792 aus eigener Initiative zur Verbesserung ihres Loses unternommen, hat eine wohlwollende Aufnahme gefunden. Der Gesandte des Fürstbischofs von Bamberg und Würzburg berichtet seinem Herrn darüber: „Die in Ansehung des 9. Beratungspunktes gegenwärtiger Kreisversammlung von drey Deputirten der Judengemeinde zu Fürth im Nahmen der gesamten Judenschaft in Franken zur Verbesserung des sittlichen und bürgerlichen Zustands der Juden im allgemeinen übergebene Vorstellung wird von dem Convente so schön gefunden, dass man sich nächstens in Conferentia darüber zu vernehmen den Entschluss gefasst hat“.3)

Leider ist es aber allem Anscheine nach zur Beratung dieser wichtigen Kulturfrage damals nicht gekommen. Die Gesandten des fränkischen Kreistages hatten damals andere Schmerzen. Es blitzte nicht bloß in den Köpfen, es krachte auch über den Köpfen. Schwere Wolken bedrohten die Existenz der fränkischen Kleinstaaten, welche in den Stürmen der nachfolgenden Kriegsjahre ihren Untergang fanden, während die in denselben wohnenden Juden einer neuen Zukunft entgegenlebten. Der Erbe der fränkischen Kleinstaaten aber war Bayern.

In Bayern war am Anfang des 19. Jahrhunderts Frühlingszeit angebrochen, eine Zeit des Blühens von Humanitätsidealen, von welchen das Ideal der Glaubensfreiheit als Botschaft vom Throne herab mit besonderem Nachdrucke betont wurde.4) Offenbar angeregt, abgesehen vom Geiste der Zeit, durch Bittschriften der oberpfälzischen Judenheit, hat Maximilian Joseph, der Vater des gegenwärtigen

Bayernlandes, mit großem Ernste auch mit der damaligen Judenfrage sich beschäftigt und ist in seinem Herzen der durch Resolution vom 15. Januar 1801 zum ersten Ausdruck gebrachte Wunsch rege geworden, dass auch „dieser unglücklichen Menschenklasse — wie man damals die Juden nannte — nachdem man sie doch aus den Erbstaaten nicht verbannen könne, ohne sich einer Grausamkeit, und Ungerechtigkeit schuldig zu machen, eine solche Einrichtung gegeben werden möchte, durch welche sie allmählich zu nützlichen Staatsbürgern erzogen werden würde“. Zu diesem Zwecke sollten über diesen „in moralischer und bürgerlicher Hinsicht höchstwichtigen Gegenstand“ die Kreisregierungsstellen sachdienliche Gutachten ausarbeiten, welche als grundlegendes Material zur Ausarbeitung eines Verfassungsgesetzes über die Verhältnisse der Israeliten benutzt werden sollten.5)

Worte und Verheißungen, wie sie damals vom Throne herab verkündet wurden, hatten die Juden noch niemals vernommen. Kein Wunder, dass die zahlreiche Judenschaft des Fürstbistums Würzburg, als dasselbe 1803 an die bayerische Krone gekommen war, den neuen Herrn und die neue Regierung wie Boten messianischer Erfüllung begrüssen zu dürfen glaubte.6) Sie wandte sich an den schon oben genannten Prof. Oberthür, der den Ehrgeiz hatte, für die Juden von Franken dasselbe sein zu wollen, was sein Amtsbruder und Gesinnungsgenosse Grégoire für die Juden von Frankreich, mit der Bitte, der Interpret ihrer Wünsche vor dem Throne zu sein und im Namen der sämtlichen Vorsteher der Judenschaft von Franken eine Bittschrift entwerfen zu wollen, in welcher gleich im ersten Anlauf nichts mehr und nichts weniger gefordert werden sollte als „das volle Bürgerrecht und die gänzliche Gleichstellung mit den Christen“. Aus diplomatischen Rücksichten glaubte jedoch Oberthür, seinen Mandanten zur Mäßigung ihrer Wünsche und Verzichtleistung auf so weitgehende und unzeitgemäße Forderungen raten zu müssen. Die Einleitung des von ihm, wie er selbst eingesteht, keineswegs zur vollen Zufriedenheit seiner Auftraggeber ausgearbeiteten Entwurfs eines über die Lage der Juden sich weit verbreitenden Memorandums hat folgenden Wortlaut:7)

„Durchlauchtigster! Zutrauensvoll wagt es die Judenschaft in Franken, Ew. Durchlaucht um Erleichterung ihres sie schwer drückenden Looses zu bitten. Wir sind Menschen und Ihre Unterthanen, wie beides die Christen in Franken auch sind, und dürfen also getrost von dem menschenfreundlichsten Fürsten und dem so väterlich gegen alle seine Unterthanen gesinnten, von dem gnädigsten, weisesten und gerechtesten Landesherrn diese erwarten. Wir wollen auch beides, Menschen und Unterthanen, in vollstem Sinne und nach dem Wunsche jedes rechtschaffenen Mannes seyn, so weit es nur immer in unseren Kräften steht, und unsere, von der der übrigen Landesbewohner so verschiedene Lage es erlaubt, mit deren Verbesserung es uns auch leichter werden und mit mehrerem Rechte von uns gefordert werden kann.

Wir wiederholen hier zur Unterstützung unserer demüthigsten Bitte nichts von allem dem, was bis jetzt aufgeklärte Staatsmänner und Menschenfreunde zum Besten unserer Nation geschrieben und gethan haben. Dem menschenfreundlichen und landesväterlichen Herzen und den erleuchtetesten Einsichten unseres gnädigsten Churfürsten ist nichts fremd, was Menschenwohl und Unterthahen Glück betrifft. Es ist demselben genug, wenn wir Ihm unsere Lage schildern, und imsere Wünsche, unsere Bitte vorstellen. Wahr ist die Schilderung, die wir von jener machen, diese sind auf Gerechtigkeit, Billigkeit und Menschlichkeit gegründet, und in diesen wenigen Worten begriffen:

Wir wünschen und bitten, in Staatsauflagen, im Handel und Wandel, und in allen Vorteilen der bürgerlichen Gesellschaft, so viel es einstweilen noch tunlich und anderen Staatsrücksichten und Verhältnissen nicht entgegen ist, den übrigen Lanterthanen Ew. Durchlaucht gleich gehalten zu werden.“

Welche Aufnahme hatte aber eine solche Bittschrift zu gewärtigen in einer Zeit, in welcher an massgebender Stelle das Urteil ein feststehendes Dogma war, dass die Juden „nach ihrer dermaligen Verfassung“, d. h. nach ihrem sittlichen und religiösen Zustand, als Schädlinge des Staates und der Gesellschaft zu betrachten seien? Wie groß aber schon damals die Gemeinschädlichkeit und Gemeingefährlichkeit der Juden gewesen sein muss, das ist am deutlichsten aus der Tatsache zu ersehen, dass nur wenige Jahre verflossen waren, seitdem die Israeliten von Bayern der Ehre teilhaft geworden, als Vaterlandsverteidiger die Waffe tragen zu dürfen, als der Vorstand der israelitischen Kultusgemeinde München eines Tages folgende Zuschrift erhielt: ,,Se. Majestät der König haben in einem unterm 31ten October abhin Allerhöchst eigenhändig unterzeichneten Rescripte diesseitiger Stelle den angenehmen Auftrag erteilt, den jüdischen Einwohnern von München Allerhöchst Ihre Zufriedenheit mit dem Betragen ihrer bei dem Bürgermilitair dienenden Glaubensgenossen, bei der Weihe der dem Bürgermilitair allergnädigst verliehenen Fahnen, zu erkennen zu geben. Diese das brave Benehmen dieser Glaubensgenossen des mosaischen Gesetzes so sehr und ausgezeichnet ehrende Allerhöchste Gnade Sr. Majestät des Königs wird hiemit dem Abr. Uh1fe1der eröffnet, um selbe der hier wohnenden Gemeinde des isr. Glaubens bekannt zu machen. Uebrigens wird demselben bekannt gemacht, dass von diesem Allerhöchsten Belobungsrescripte der kommandirende Offizier des hiesigen Bürgermilitairs ebenfalls in Kenntnis gesetzt wurde. Am 9. November 1808. Kgl. Generalkommissariat des Isarkreises. Freiherr v. Weichs“.8)

Unterdess waren die Gutachten, welche die Unterlage und das Beratungsmaterial bieten sollten zur einheitlichen Regelung der Verhältnisse der israelitischen Landesuntertanen, von den verschiedenen Kreislegierungsstellen eingelaufen und wurden von den höchsten Staatsbehörden in Erwägung gezogen.9) Ob diejenigen, deren Schicksal und Zukunft dadurch bestimmt werden sollte, eine Ahnung davon hatten, in welcher Richtung der Wind in den oberen Regionen sich bewegte? Die Gemeinden waren damals im allgemeinen noch wie mit Brettern vernagelt. Was draussen war, außerhalb des Gemeindelebens, das war für sie eine terra incognita. Gefragt wurden die Gemeinden nicht nach ihren Wünschen, sie wurden als stummes Objekt der Gesetzgebung behandelt. Die Rabbiner lasen den Talmud und die Decisoren, aber nicht die Publikationen des amtlichen Regierungsorgans. Wenn sie es gelesen hätten und wenn sie aus dem Regierungsblatte vom Jahre 1809 erfahren hätten, dass in dem dort veröffentlichten Religionsedikt nur von der Gleichberechtigung der christlichen Bekenntnisse die Rede war (§ 28 — 29), wer weiss, ob sie bei der damals herrschenden Furcht vor der Möglichkeit destruktiver Wirkungen darüber sehr erschrocken gewesen wären? Der erste Alarmschuss, der auch den jüdischen Gemeinden den Anbruch einer neuen Zeit mit Umgestaltung ihrer Verhältnisse ankündigte, drang im Jahre 1809 in die stille Klause des Rabbiners Salomon Kohn in Fürth.10) Durch ein vom 3. Januar 1809 datiertes Schreiben des Kgl. bayer. Landgerichts erhielt derselbe nämlich unter Hinweis auf eine Allerhöchste Verfügung vom 8. Dezember 1808 (Regierungsblatt pag. 2803), nach welcher alle Einwohner der Stadt ohne Unterschied des Ranges oder der Religion und ohne Rücksicht auf seitherige Privilegien von nun an lediglich der Jurisdiktion des Stadtgerichtes unterworfen sein sollten, die Aufforderung, die laufenden Akten aller Prozesssacheh auszuliefern und sich mit seinem Kollegium in Zukunft aller Handlungen der streitigen und freiwilligen Gerichtsbarkeit zu enthalten. Dadurch war aus dem Gebäude der mittelalterlichen Verfassung der jüdischen Gemeinden ein Grundstein herausgebrochen und die Gemeinde Fürth, damals die Metropole der bayerischen Judenheit, die schon unter preussischer Landeshoheit einen hartnäckigen Kampf um die Erhaltung des Privilegiums eines eximierten Gerichtsstandes geführt hatte, war nicht gesonnen, die gute alte Zeit ohne Sang und Klang zu Grabe tragen zu lassen. Sie wandte sich an den Gnadenthron der Kgl. Majestät einstweilen mit der Bitte um Erhaltung der freiwilligen Gerichtsbarkeit des Rabbinats, während das altererbte Recht der Entscheidung auch in Prozess Sachen der Glaubensgenossen untereinander preisgegeben wurde. Aus der Begründung der bezüglichen Eingabe vom 27. Februar 1809 heben wir Folgendes hervor:

„Wenn je bürgerliche Handlungen Res Sacrae sive Religiosae genannt zu werden verdienen, so sind solches Vormundschaften, welche der Jude ohne alles Entgelt und bloss in Hinsicht auf göttliche Verheißung und Belohnung jenseits des Grabes, mit wahrer Aufopferung zu übernehmen hat. Bekanntlich ist die jüdische Nation aus religiösen Gründen geneigt, Testamente zu machen. Männer, Weiber, selbt von sehr geringen Vermögen, hinterlassen gewöhnlich Testamente, die zum Teil auf älterliche Verordnungen und Ehepacten sich beziehen, durchaus im Geiste der jüdischen Ritus und Storen11) abgefasst sind, und bei einem ehrbaren Gemeindsgliede verschlossen hinterlegt werden. Der Tod eines Israeliten muss auf der Stelle dem Monats Vorsteher angezeigt werden, dieser sendet sogleich die jüdischen Beglaubten in das Sterbehaus und lässt durch solche dief Erbschaft unter Siegel nehmen, um sie dem rechtmässigen Erben zu sichern.



1) Des Flavius Josephus Selbstbiographie, übersetzt von J. B. Frise, mit einer Vorrede von Oberthür (Altona 1806) S. 6.


2) Hugo Barbeck: Geschichte der Juden von Fürth und Nürnberg, S. 108 ff. Journal von und für Franken 1792, S. 354 ff.


3) Bamberger Kreisarchiv, Kreisakten November 1791 bis März 1792 Nr. 71.


4) Vergl. die churfürstliche Verordnung über die Ansässigmachung nichtkatholischer Religionsgenossen vom 26. August 1801 und das churfürstliche Edikt vom 10. Januar 1803 über Religionsfreiheit (der christlichen Konfessionen).


5) Döllinger: Sammlung der Verordnungen Vf. Vorwort S. XI (vergl. auch S. 57 § 65, S. 118 § 174 und S. 200 § 277). Die Jahreszahl 1802 bei Aretin: Geschichte der Juden in Bayern S. 96 ist ein Druckfehler für 1801, wie schon nach S. 99 zu vermuten, und aus Mayer’s Generaliensammlung 11 pag. 365 zu ersehen. Danach zu berichtigen Gottheit“: Histor.-dogmatische Darstellung der rechtlichen Stellung der Juden in Bayern S. 51 und Eckstein: Beitrage zur Geschichte der Juden in Bayern I S. 5. Dass schon ca. 1790 unter dem Kurfürsten Karl Theodor von amtlicher Seite Vorschläge zur „Verbesserung“ der jüdischen Verhältnisse gemacht wurden, ist neuerdings erst aus „Monatsschrift“ 1904 S. 746 ersichtlich geworden.


6) Döllinger’s Angabe (a. a. O. S. XI) eines Reskripts vom 22. Januar 1803, in welehem den Juden in Franken der landesväterliche Schutz verkündet worden sein soll, ist allem Anschein nach irrig.


7) Oberthür a. a. O. S. 10 ff.


8) Sulamith 1808 S. 359.


9) Ausführlich darüber Heimberger: Die staatskirchenrechtliche Stellung der Israeliten in Bayern S. 11 ff. Aus einem solchen G.A. ist das noch heute geschätzte Werk von Aretin: Geschichte der Juden in Bayern 1802 hervorgegangen.


10) Alles Nachfolgende, soweit keine andere Quelle angegeben, ist den Akten des Vorstands des israelitischen Religionsvereins, wie man damals die Kultusgemeinde von Fürth nannte, Rep-Tit. II Nr. 2, entnommen.


11) Star = Dokument.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Kampf der Juden um ihre Emanzipation in Bayern