Negotiorum Gestio.

Diese Schrift ist nicht für Fachjuristen berechnet; darum kann ich meine Theorie vom Rechtsgrunde des Staates auch nur flüchtig andeuten, wie vieles andere.

Dennoch muß ich einiges Gewicht auf meine neue Theorie legen, die sich wohl selbst in einer rechtsgelehrten Diskussion wird halten lassen.


Rousseaus heute schon veraltete Auffassung wollte dem Staat einen Gesellschaftsvertrag zugrunde legen. Rousseau meint: „Die Klauseln dieses Vertrages sind durch die Natur der Verhandlung so bestimmt, daß die geringste Abänderung sie nichtig und wirkungslos machen müßte. Die Folge davon ist, daß sie, wenn sie auch vielleicht nie ausdrücklich ausgesprochen wären, doch überall gleich, überall stillschweigend angenommen und anerkannt sind usw.“
Die logische und geschichtliche Widerlegung von Rousseaus Theorie war und ist nicht schwer, wie furchtbar und fruchtbar diese Theorie auch gewirkt habe. Für die modernen Verfassungsstaaten ist die Frage, ob vor der Konstitution schon ein Gesellschaftsvertrag mit „nicht ausdrücklich ausgesprochenen, aber unabänderlichen Klauseln“ bestanden habe, ohne praktisches Interesse. Jetzt ist das Rechtsverhältnis zwischen Regierung und Bürgern jedenfalls festgesetzt.

Aber vor der Einrichtung einer Verfassung und beim Entstehen eines neuen Staates sind diese Grundsätze auch praktisch wichtig. Daß neue Staaten noch immer entstehen können, wissen wir ja, sehen wir ja. Kolonien fallen vom Mutterlande ab, Vasallen reißen sich vom Suzerän los, neu erschlossene Territorien werden gleich als freie Staaten gegründet. Der Judenstaat ist allerdings als eine ganz eigentümliche Neubildung auf noch unbestimmtem Territorium gedacht. Aber nicht die Länderstrecken sind der Staat, sondern die durch eine Souveränität zusammengefaßten Menschen sind es.

Das Volk ist die persönliche, das Land die dingliche Grundlage des Staates. Und von diesen beiden Grundlagen ist die persönliche die wichtigere. Es gibt zum Beispiel eine Souveränität ohne dingliche Grundlage, und sie ist sogar die geachtetste der Erde: Es ist die Souveränität des Papstes.
In der Wissenschaft vom Staate herrscht gegenwärtig die Theorie der Vernunftnotwendigkeit. Diese Theorie reicht aus, um die Entstehung des Staates zu rechtfertigen, und sie kann nicht geschichtlich widerlegt werden wie die Vertragstheorie. Soweit es sich um die Entstehung des Judenstaates handelt, befinde ich mich in dieser Schrift vollkommen auf dem Boden der Vernunftnotwendigkeitstheorie. Diese weicht aber dem Rechtsgrunde des Staates aus. Der modernen Anschauung entsprechen die Theorie der göttlichen Stiftung, die der Übermacht, die Patriarchal-, Patrimonial- und Vertragstheorie nicht. Der Rechtsgrund des Staates wird bald zu sehr in den Menschen (Übermachts-, Patriarchal- und Vertragstheorie), bald rein über den Menschen (göttliche Stiftung), bald unter den Menschen (dingliche Patrimonialtheorie) gesucht. Die Vernunftnotwendigkeit läßt die Frage bequem oder vorsichtig unbeantwortet. Eine Frage, mit der sich die größten Rechtsphilosophen aller Zeiten so tief beschäftigt haben, kann jedoch nicht ganz müßig sein. Tatsächlich liegt im Staat eine Mischung von Menschlichem und Übermenschlichem vor. Für das zuweilen drückende Verhältnis, in welchem die Regierten zu den Regierenden stehen, ist ein Rechtsgrund unerläßlich. Ich glaube, er kann in der negotiorum gestio gefunden werden. Wobei man sich die Gesamtheit der Bürger dominus negotiorum und die Regierung als den Gestor zu denken hat.

Der wunderbare Rechtssinn der Römer hat in der negotiorum gestio ein edles Meisterwerk geschaffen. Wenn das Gut eines Behinderten in Gefahr ist, darf jeder hinzutreten und es retten. Das ist der Gestor, der Führer fremder Geschäfte. Er hat keinen Auftrag, das heißt keinen menschlichen Auftrag. Sein Auftrag ist ihm von einer höheren Notwendigkeit erteilt. Diese höhere Notwendigkeit kann für den Staat auf verschiedene Weise formuliert werden und wird auch auf den einzelnen Kulturstufen dem jeweiligen allgemeinen Begriffsvermögen entsprechend verschiedenartig formuliert. Gerichtet ist die Gestio auf das Wohl des Dominus, des Volkes, zu dem ja auch der Gestor selbst gehört.

Der Gestor, verwaltet ein Gut, dessen Miteigentümer er ist. Aus seinem Miteigentum schöpft er wohl die Kenntnis des Notstandes, der das Eingreifen, die Führung in Krieg und Frieden erfordert; aber keineswegs gibt er sich als Miteigentümer selbst einen gültigen Auftrag. Er kann die Zustimmung der unzähligen Miteigentümer im günstigsten Falle nur vermuten.

Der Staat entsteht durch den Daseinskampf eines Volkes. In diesem Kampfe ist es nicht möglich, erst auf umständliche Weise einen ordentlichen Auftrag einzuholen. Ja, es würde jede Unternehmung für die Gesamtheit von vornherein scheitern, wenn man zuvor einen regelrechten Mehrheitsbeschluß erzielen wollte. Die innere Parteiung würde das Volk gegen den äußeren Notstand wehrlos machen. Alle Köpfe sind nicht unter einen Hut zu bringen, wie man gewöhnlich sagt. Darum setzt der Gestor einfach den Hut auf und geht voran.

Der Staatsgestor ist genügend legitimiert, wenn die allgemeine Sache in Gefahr und der Dominus durch Willensunfähigkeit oder auf andere Art verhindert ist, sich selbst zu helfen.

Aber durch sein Eingreifen wird der Gestor dem Dominus ähnlich wie aus einem Vertrage, quasi ex contractu, verpflichtet. Das ist das vorbestandene, oder richtiger: mitentstehende, Rechtsverhältnis im Staate.

Der Gestor muß dann für jede Fahrlässigkeit haften, auch wegen verschuldeter Nichtvollendung der einmal übernommenen Geschäfte und Versäumung dessen, was damit im wesentlichen Zusammenhange steht usw. Ich will die negotiorum gestio hier nicht weiter ausführen und auf den Staat übertragen. Das würde uns zu weit vom eigentlichen Gegenstande ablenken. Nur das eine sei noch angeführt: „Durch Genehmigung wird die Geschäftsführung für den Geschäftsherrn in gleicher Art wirksam, als wenn sie ursprünglich seinem Auftrag gemäß geschehen wäre.“
Und was bedeutet das alles in unserem Falle?

Das Judenvolk ist gegenwärtig durch die Diaspora verhindert, seine politischen Geschäfte selbst zu führen. Dabei ist es auf verschiedenen Punkten in schwerer oder leichterer Bedrängnis. Es braucht vor allem einen Gestor.

Dieser Gestor darf nun freilich nicht ein einzelnes Individuum sein. Ein solches wäre lächerlich oder weil es auf seinem eigenen Vorteil auszugehen schiene — verächtlich.

Der Gestor der Juden muß in jedem Sinne des Wortes eine moralische Person sein.

Und das ist die Society of Jews.

Der Gestor der Juden.

Dieses Organ der Volksbewegung, dessen Art und Aufgaben wir erst jetzt erörtern, wird tatsächlich vor allem anderen entstehen. Die Entstehung ist eine überaus einfache. Aus dem Kreise der wackeren englischen Juden, denen ich in London den Plan mitteilte, wird sich diese moralische Person bilden. Die Society of Jews ist die Zentralstelle der beginnenden Judenbewegung.

Die Society hat wissenschaftliche und politische Aufgaben. Die Gründung des Judenstaates, wie ich mir sie denke, hat moderne, wissenschaftliche Voraussetzungen. Wenn wir heute aus Mizraim wandern, kann es nicht in der naiven Weise der alten Zeit geschehen. Wir werden uns vorher anders Rechenschaft geben von unserer Zahl und Kraft. Die Society of Jews ist der neue Moses der Juden. Die Unternehmung des alten großen Gestors der Juden in den einfachen Zeiten verhält sich zur unserigen wie ein wunderschönes, altes Singspiel zu einer modernen Oper. Wir spielen dieselbe Melodie mit viel, viel mehr Violinen, Flöten, Harfen, Knie- und Baßgeigen, elektrischem Licht, Dekorationen, Chören, herrlicher Ausstattung und mit den ersten Sängern.

Diese Schrift soll die allgemeine Diskussion über die Judenfrage eröffnen. Freunde und Feinde werden sich daran beteiligen — ich hoffe, nicht mehr in der bisherigen Form sentimentaler Verteidigungen und wüster Beschimpfungen. Die Debatte soll sachlich, groß, ernst und politisch geführt werden.

Die Society of Jews wird alle Kundgebungen der Staatsmänner, Parlamente, Judengemeinden, Vereine, die in Wort und Schrift, in Versammlungen, Zeitungen und Büchern hervorkommen, sammeln. So wird die Society zum erstenmal erfahren und feststellen, ob die Juden schon ins Gelobte Land wandern wollen und müssen. Die Society wird von den Judengemeinden in aller Welt die Behelfe zu einer umfassenden Statistik der Juden erhalten.

Die späteren Aufgaben, die gelehrte Erforschung des neuen Landes und seiner natürlichen Hilfsmittel, der einheitliche Plan zur Wanderung und Ansiedlung, die Vorarbeiten für die Gesetzgebung und Verwaltung usw. sind aus dem Zweck vernünftig zu entwickeln.

Nach außen muß die Society versuchen, wie ich schon anfangs im allgemeinen Teil erklärte, als staatsbildende Macht anerkannt zu werden. Aus der freien Zustimmung vieler Juden kann sie den Regierungen gegenüber die nötige Autorität schöpfen.

Nach innen, das heißt dem Judenvolke gegenüber, schafft die Society die unentbehrlichen Einrichtungen der ersten Zeit — die Urzelle, um es mit einem naturwissenschaftlichen Worte zu sagen, aus der sich später die öffentlichen Einrichtungen des Judenstaates entwickeln sollen.

Das erste Ziel ist, wie schon gesagt, die völkerrechtlich gesicherte Souveränität auf einem für unsere gerechten Bedürfnisse ausreichenden Landstrich.
Was hat nachher zu geschehen?

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Judenstaat