Rassentheorie und Rassen

Hass ist Hass und bleibt Hass, ist und bleibt Affekt, ob er sich auch wissenschaftlich maskiert. Judenhass auf Grund der Rassentheorie ist Judenhass, Hass, Menschenhass — so wie Judenhass auf Grund der christlichen Religion Judenhass, Hass, Menschenhass gewesen. Aber in der Tat, der schlechte, der unehrbare, der im Staate ungerechte, der grundhässlichste aller Affekte gebärdet sich immer wissenschaftlicher — man merkt es denn doch, dass wir im Zeitalter der allgemeinen Bildung und Wissenschaft stehen. Antisemitismus klang schon um ein ganz Teil feiner und gebildeter als Judenhass, nun aber gar erst Rassentheorie! Die Rassentheorie ist eine Frucht der Wissenschaft.

Ei, das ist ein interessanter Bescheid; und es wäre am Ende nützlich zu hören: welcher Wissenschaft eigentlich? Übrigens nicht bloß einer Wissenschaft, sondern zweier Wissenschaften, zu denen dann noch als Drittes, Hauptsächliches — aber zunächst freilich fing es an mit einer Wissenschaft, mit der Sprachwissenschaft, und damit wollen denn auch wir anfangen. In der Tat, so harmlos gings an, damals im vorigen Jahrhundert, als nach dem Aufkommen der Sanskritphilologie die großen Sprachforscher den Versuch unternahmen, alle die mannigfaltigen Sprachen auf drei Sprachenurstämme, auf drei Sprachrassen zurückzuführen. Wer hätte das gedacht, dass auf diese Hypothese eine derartige Spekulation von den drei Menschenrassen gepfropft werden könne à la Sem, Ham und Japhet! Kein Mensch hätte jemals wieder an diese biblische Dreiteilung gedacht, wenn nicht die Sprachforschung, durch gewisse Übereinstimmungen in den grammatischen Formen und im Grundbau der Sprachen und infolge der neu aufgestellten Gesetze vom Lautwechsel, auf drei Ursprachen, auf die drei Ursprachstämme des Semitischen, Hamitischen und Japhetitischen gekommen wäre. (Man sagte früher Japhetitisch, auch wohl Skythisch, neuestens sagt man Arisch, Indogermanisch, Indoeuropäisch; der Adam des Namens Semitisch ist Eichhorn, dem aber dieses nur auf einen Sprachenverband gehende Wort anders als heute, in aller jungfräulichen Unschuld dastand).


Drei Ursprachen also und drei Rassen. Wären tatsächlich einmal drei Ursprachen gewesen, so brauchten deswegen natürlich noch nicht auch drei Urrassen gewesen zu sein — das ist wohl ein bedenklicher Schluss, die Eine Sprache Redenden auch als Eine Rasse anzusehen, z. B. die Irländer oder die Neger englischer Kolonien, weil sie englisch reden, als Angelsachsen. Und jene drei Ursprachen freilich haben nicht zusammengehalten und im Laufe der Geschichte einigermaßen sich verändert; die Tatsache wird zugegeben, dass sie als Ursprachen überhaupt nicht mehr vorhanden sind und in die etwa fünfzehnhundert Sprachen der Erde sich aufgelöst haben: aber die drei Rassen, die man entsprechend jenen drei konstruierten Ursprachen sich konstruiert, Sem, Ham und Japhet, die sollen radikal geblieben (früher führte man das Wort Rasse auf radix zurück, wodurch wenigstens die Bedeutung des Wortes gegeben wird), da sollen alle die radikalen Eigentümlichkeiten erhalten geblieben sein; und, was verlangt man noch mehr? die Eigentümlichkeiten der Rassen, die man da hauptsächlich vergleichen möchte, entsprechen durchaus dem Verlangen der Vergleicher. Es geht doch nichts über den wunderbaren Ernst und die Unerbittlichkeit wissenschaftlicher Forschung; wer will jetzt noch leugnen, dass Sem genau so ist, wie Antisem von immerher schon behauptet hat? In der Tat, der vergleichende Rassenhass — das war das Resultat, das war der Ausgang, den es mit der vergleichenden Sprachforschung genommen, nachdem diese zunächst immer naturwissenschaftlicher und endlich völlig anthropologisch-antisemitisch geworden war. Und so lässt sich nun also wissenschaftlich dartun, wie edel die Rasse ist, der die Judenhasser angehören, die von jeher, schon zu den Zeiten des Tacitus so edel gewesen, allezeit nichts als die herrlichsten Tugenden bewährt hat, und wie ganz arg und niederträchtig die der Juden ist und ebenfalls immer gewesen ist: die Laster und das gesamte Schlimme ihres Tuns und ihres Nichttuns, wie es ihnen die Wissenschaft des Judenhasses nachsagt, gehört zu ihrem radikalen, fixierten oder konstanten Charakter. Früher war Brunnenvergiften, Hostiendurchstechen und Christenkinderschlachten ihr radikal-konstanter Charakter, und das Letzte (Christenkinderschlachten) pflegt es auch heute noch manchmal zu sein — wir hatten eben in Russland, in der Stadt Kiew, den Fall Justschinski; bei uns in Deutschland gab es vor noch nicht allzu langen Jahren den Xantener und den Konitzer Fall, und ein antisemitischer Schreiber (Max Bewer) schrieb: ,,Ich bitte dringend daran festzuhalten, dass es ein medizinisches Gesetz gibt, nach welchem der Blutbedarf der Juden zu erklären ist. Begehen sie Ritualmorde, so begehen sie die Morde nicht aus Fanatismus, nicht aus Irrsinn, sondern mit dem klarsten Bewusstsein und dem kältesten Raffinement. Die Juden haben nun den festen Glauben, dass durch das Blut derjenigen Völker, unter denen sie dauernd leben, ihr Blut, und zwar allein schon durch den bloßen Verkehr, verunreinigt werde. Um sich nun von Zeit zu Zeit zu reinigen, genießen sie nach dem Gesetz der Isopathie ganz minimale Dosen des fremden Blutes, das sie sich in seiner spezifisch wirkenden Reinheit durch Kindermord verschaffen.“

Nichts lässt sich sagen gegen das, was wissenschaftlich erweisbar ist, nichts gegen die Rassentheorie: die Rassentheorie ist eine Frucht der Wissenschaft. Eine nette Frucht — sie teilen sie mit einer Messerschneide, an der einen Seite vergiftet; und die vergiftete Hälfte der Frucht wird den Juden dargereicht, die andre Hälfte verzehren die wissenschaftlichen Theoretiker, die antisemitischen Gelehrten, die vergleichenden Rassenhasser. Eine nette Frucht der Wissenschaft ist dieser Schneewittchenapfel, und eine nette Wissenschaft ist diese Wissenschaft — eine Wissenschaft über Anfänge! Ich kann hier nicht auseinandersetzen, weswegen es keine Wissenschaft über Anfänge geben kann und Gedanken über Anfänge immer unwissenschaftlich sind. Von allem, was die Anfänge betrifft, soll man sich mit Denken davon lassen, und wenn da nun erst Menschen darüber geraten, die zu nichts weniger als zum Denken geboren sind (wozu nur Denkende geboren sind), so soll man sich von ihren Gedanken davon lassen; auf unbeantwortliche Fragen, die gar keine Fragen der Wissenschaft oder des Denkens sind, auf die Dinge ohne Warum antworten nur Narren. Man soll die Fragen nach ihrem Wert behandeln und nie tun, als müsste man antworten, wo Pflicht ist, den Unsinn der Fragstellung darzutun. Eine Wissenschaft über Anfänge ist die Rassentheorie, worüber nur nichtdenkende Köpfe reden, und eine Menscheneinteilung ist die Rassentheorie, wie sie gleichfalls nur von nichtdenkenden Köpfen erzeugt werden kann. Deren Art ist, hinauszugehen über das, was Unterschied macht, wie über das, worin Ähnlichkeit besteht, und das eine Mal, wegen der Unterschiede, nichts als Unterschied, das andere Mal, wegen der Ähnlichkeit, nichts als Ähnlichkeit zu gewahren. Man sehe die Väter der Rassentheorie: Denker und Männer der Wissenschaft sind es nicht; — und man lerne, was man noch nicht weiß: wie außerordentlich viel, seit der Herrschaft der allgemeinen Bildung, die Unfähigkeit in der Menschenwelt vermag! — Die Wissenschaft weiß nicht, was eine Rasse ist, das weiß nur die antisemitische Wissenschaft; allerdings ist es ihr Geheimnis, uns sagt und erklärt sie nichts davon. Genug, sie weiß es und — was ihr die Hauptsache ist — sie bringt mit ihrem Wissen die Theorie von Staat und Nationalität unter Dach und versteht frischweg für das Praktisch-Politische und Praktisch-Soziale wunderbares anzufangen, woran die Anthropologen, wenn sie von Rassen sprechen, im Traume nicht, woran sie ebenso wenig gedacht haben wie die Männer der vergleichenden Sprachforschung, die wirklich nichts als Sprachforschung wollten, die — Darwinisten der Sprachwissenschaft vor Darwin — alle die Sprachen auf wenige Urtypen zurückführen wollten; im Hintergrunde stand den meisten Forschern die eine Sprache, ganz so, wie der Rassenforschung das einheitliche Menschengeschlecht. Weil das so gewesen, deswegen konnte wohl weder die Rassenforschung noch die vergleichende Sprachforschung eine einwandfreie Wissenschaft werden: die ward erst, infolge der Verschmelzung, von den Judenhassern vorgenommen, wobei nun außer Rassenforschung und vergleichender Sprachforschung auch noch die gehörige Portion Menschenhass mitverschmolzen erscheint; daher die neue Wissenschaft, nach dem vereinigten Dreierlei, mit vollstem Rechte den Namen Vergleichender Rassenhass führen könnte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Judenhass und die Juden