Abschnitt. 3 - Hurra, auf den Hasen im Galopp eine Stafette im Galopp, jedenfalls von der ...

Hurra, auf den Hasen im Galopp eine Stafette im Galopp, jedenfalls von der Regierung mit der allerneuesten politischen Neuigkeit an den Oheim Grünebaum abgesandt! Nach der Staubwolke, welche Roß und Reiter einhüllt, zu urteilen, muß entweder Serenissimus eine Nase vom Kaiser Nikolaus erhalten oder Serenissima das „angestammte Fürstenhaus“ durch einen neuen, apanagefähigen Sprößling allergnädigst vor dem Ausgehen gesichert haben. Was es auch sein mag – ein kindlich heiteres Vivat für Serenissimum und Serenissimam! Mögen sie alle die freudigen Überraschungen erleben, die wir unsererseits ihnen schuldig sind.
Aber die Höhe des Weges ist erreicht; da ist der knospende Wald, und alle ausgewachsenen Bäume schütteln im leisen Morgenwinde altväterlich gutmütig die Häupter über das vorwitzige Gesindel der Sträucher und Büsche, welches die Zeit nicht erwarten konnte, welches über Nacht grün geworden ist.
Natürlich standen Hans und Moses am Rande des Waldes still und blickten zurück auf den Weg, auf das Heimatstal und die Stadt Neustadt. Keine Spur mehr vom Nebel, nach keiner Seite hin! Alles klar und licht und frisch und sonnig! Man konnte die Ziegel auf den Dächern drunten im Tal zählen; – es schlägt eben sechs, und es ist so wunderlich, damit Abschied auch von den Glocken nehmen zu müssen.
Wie verschieden waren die Gedanken der beiden jungen Männer, welche an demselben Baumstamm lehnten! Licht und Schatten sind nicht so verschieden wie das, was durch die Seelen von Hans Unwirrsch und Moses Freudenstein zog. Der eine der Jünglinge hielt das Haupt gesenkt und bedeckte die Augen mit der Hand, der andere sah scharf hinab und lächelte. Sie standen beide und fühlten einen großen Hunger in ihrer Seele: alles, was in verschiedener Weise seinen Anfang genommen hatte, mußte auch in verschiedener Weise seinen Fortgang nehmen.
In einer langen Reihe wechselnder Bilder zog die Kinderzeit vor Hans vorüber. Alle die Gestalten, die ihm auf seinem Lebenswege bis jetzt entgegengetreten waren, glitten vorüber, und es fehlte niemand unter ihnen, nicht der Lehrer Silberlöffel aus der Armenschule, nicht die arme kleine Sophie, welche doch beide schon so lange tot waren.
Auch Moses hatte seine Toten drunten im Tal; aber er verscheuchte jeden Gedanken daran, und für die Lebenden hatte er nichts als jenes feine, böse Lächeln. Er haßte die Stadt Neustadt und hielt den guten Professor Fackler für einen albernen Pedanten. Der Professor Fackler würde aber auch die Art, wie sein früherer klügster Schüler den träumenden Hans durch eine spöttische Bemerkung aus dem Traum emporriß, für höchst unpassend erklärt haben.
Aber es war geschehen – ein Blick, ein Wort, und die Bilder der Kindheit, der ersten Jugend, verflüchtigten sich, die Gestalten lösten sich auf; Hans Unwirrsch hörte wieder die Lerche in der Luft, den Finken im Walde und vor allem das scharfe Lachen des Freundes neben sich. Noch ein Blick hinab ins Tal und dann vorwärts – hinein in den Wald, hinein in die weite Welt, das neue Leben.
Bald war die weiteste Grenze früherer Wanderungen und Ausflüge überschritten, unbekannte Täler durchwanderte man, unbekannte Höhen wurden erstiegen, unbekannte Kirchtürme lugten bald rechts, bald links hervor. Da mußte wohl das drückende Gefühl des Abschieds mehr und mehr schwinden und dem wonniglichen Gefühl der Wanderfreiheit Platz machen. Mehr und mehr merkte Hans Unwirrsch, daß er geschaffen sei, Wunderdinge zu erleben und sie, wie der Oheim Grünebaum sich ausdrücken würde, „richtig und gerecht zu taxieren“. Was erlebte der närrische Bursch alles an dem ersten Reisetage, wie sperrte er den Mund auf vor den allergewöhnlichsten Dingen! Wie lächerlich, närrisch und tölpelhaft erschien er dem scharfen, nüchternen Moses!
Nicht vor jedem Wirtshause, das ihnen am Wege mit langem Arm winkte, hielten die beiden fahrenden Schüler an, aber mancher Lockung konnten sie doch nicht widerstehen; die heißesten Mittagsstunden verbrachten sie jedoch wieder in einem Walde, abseits von der Landstraße. Auf dem weichen Rasen lagerten sie, und während Moses in seinem Taschenbuch allerlei Berechnungen anstellte, fiel Hans über einer Taschenausgabe des Virgil in einen Halbschlaf, in welchem er das ferne Posthorn für die römische Tuba nahm, die der Reiterei der Bundesgenossen das Zeichen zum Vorrücken gab. Aufgerüttelt, starrte er sehr verblüfft um sich und wußte während mehrerer Minuten nicht, wo er sich befand – er hatte zuletzt ganz fest geschlafen und von dem berühmten Schäferstudenten Chrysostomo und der schönen Marzella geträumt. Moses Freudenstein aber beglückte ihn mit einer Vorlesung über die Träume und ihr Verhältnis zum Gangliensystem; –er war über seine finanziellen Verhältnisse wieder einmal im reinen und daher zu allen Bosheiten und philosophischen Deduktionen aufgelegt. Im Laufe des Nachmittags wurde er sehr lebendig und nahm dadurch aufs innigste an den Schwärmereien und Entzückungen seines Gefährten teil, daß er sie auf die schändlichste Weise durch die verständigsten und trockensten Bemerkungen über den Haufen warf oder zu werfen suchte.
Er, Moses Freudenstein, träumte nicht von der schönen Marzella und dem Schäferstudenten, und die Wolken für allerlei Tiere oder gar schöne Göttinnen zu halten hielt er ganz unter seiner Würde. Von der schlafenden Prinzessin Dornröschen und dem Zauberer Merlin behauptete er nie ein Wort gehört zu haben, und der Alte mit dem langen weißen Bart und dem langen Stab, der auf dem Waldwege daherkam, war ihm ein verdammter, alter Topfbinder und weiter nichts. Für ganz verruchten Unsinn erklärte er Hansens und der Romantiker „Waldeinsamkeit“; er war frech genug, zu behaupten, daß ihm bei dem lieblichen Wort stets ganz übel zumute werde.
So hatte Hans Unwirrsch Augenblicke, in denen er mit dem Freund, Reisegefährten und Studiengenossen gar nicht harmonierte, wo er sich sogar über ihn ärgerte und ihn von seiner grünen Seite so weit als möglich wegwünschte; aber diese Augenblicke gingen stets sehr schnell vorüber, und nachdem am Abend im Wirtshaus einige naseweise Gesellen den Versuch gemacht hatten, den klugen Moses an seiner Adlernase zu ziehen, und nur durch das energische Verhalten des guten Hans davon abgehalten worden waren, wurde das freundschaftliche Verhältnis zwischen den beiden angehenden Studenten fernerhin kaum durch einen Mißton gestört. Am Morgen des dritten Tages ihrer Wanderung standen sie wiederum auf einer Anhöhe am Rande eines Gehölzes und sahen in ein Tal hinab, in welchem eine andere kleine, aber viel- und hochgetürmte Stadt lag; und Moses, der nicht nur die alten Sprachen innehatte, sondern auch einige neue, deklamierte mit ironischem Pathos:
„Ma quando il sol gli aridi campi fiede
Con raggi assai ferventi, e in alto sorge,
Ecco apparir Gierusalem si vede,
Ecco additar Gierusalem si scorge,
Ecco da mille voci unitamente
Gierusalemme salutar si sente.“
Er teilte dem aufgeregten Hans mit, daß er sich augenblicklich zwar viel mehr als Kreuzfahrer denn als Jude fühle, daß er aber vor allem froh sei, daß die langweilige Wanderschaft endlich zu Ende sei; und während Hans auf dem nun betretenen heiligen Boden gerne die Schuhe ausgezogen hätte, sprach jener seine Meinung sehr maßgeblich dahin aus, daß manches faule oder ausgeblasene Ei in dem morschen Nest da unten liegen möge. Und als nun gar ein alter Herr von sehr gelehrtem, professorlichem Ansehen, der eine Driburger Brunnenkruke im Arm trug, ihnen entgegenstieg, da murmelte Moses Freudenstein, daß er – Moses – sich so leicht nicht imponieren lasse.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor