Abschnitt. 2 - Nimm Abschied von dem alten gekitteten und vernieteten Kaffeetopf, ...

Nimm Abschied von dem alten gekitteten und vernieteten Kaffeetopf, Hans; – nimm Abschied von den henkellosen blauen Tassen. Nimm vor allen Dingen Abschied von der Glaskugel, und trotz allem Hunger nach der Ferne wirst du dich oft sehr, gar sehr nach ihrem vertrauten Leuchten zurücksehnen. Nimm Abschied von der verweinten Mutter und von der Base, die eine so schöne Haube zu Ehren der feierlichen Stunde aufgesetzt hat. Fasse dich, mein Junge; nimm dir ein gutes Beispiel an dem Oheim Grünebaum, der als ein erfahrener Mann weiß, daß man zu einer langen Wanderung der Stärkung bedarf, und der zwischen Kauen und Schlucken recht jovial ein Wanderburschenlied summt und dich mehr als einmal versichert, daß du froh sein kannst, aus dem Nest und Käfig herauszukommen. –
Es klopft an der Tür – Moses Freudenstein ist’s. Er könnte zwar mit Extrapost fahren, aber aus alter Freundschaft hat er sich entschlossen, mit dir, Hans Unwirrsch, das neue Leben zu Fuß zu beginnen. Sei ein Mann, Hans, fahre schnell mit dem Ärmel über die Augen, daß der Schulgenosse dich nicht auslache wegen deiner Weichmütigkeit! –
Moses Freudenstein sah die Träne im Auge des Freundes nicht, er befand sich im Geist bereits auf der Landstraße; ungeduldig schwang er den Wanderstab:
„Auf, auf, Hans! Es ist die höchste Zeit, daß wir aufbrechen. Es ist nicht angenehm, in der vollen Sonnenhitze auf der Landstraße zu schwitzen.“
„Na denn, Christine“, rief der Oheim Grünebaum, „haue deinem Lamento den Schwanz ab und gib jetzt den Jungen frei. Habt Euch nicht, Base Schlotterbeck, Ihr seid doch sonsten ein fermes Frauenzimmer. O Weibsen, Weibsen, ihr seid mir ein paar rare Exemplare, und nun hat der Junge auch wieder an die Zwiebel gerochen. Ach du liebster Gott, wenn das nicht über alle Fontänen geht, so will ich mir meine eigene Nase besohlen, beflecken und vorschuhen! O du grundgütiger Heiland, Herr Freudenstein, wie nannten doch die alten Griechenländer solch einen Gesang?“
„Vielleicht würden sie ihn durch das Wort Threnodie bezeichnet haben.“
„Richtig! Ganz recht! Ich konnte mir nur nicht gleich darauf besinnen! Eine Tränodie! Und jetzt ist es aus und zu Ende damit, sage ich euch; der Deibel hole euere Wasserwerke! Packe auf, Hans, und marsch! Die Weiber bleiben zurück von wegen dem öffentlichen Anstand; ich als unaffizinierter Vormund marschiere mit bis zum Tor, und dann Gott befohlen und ‘n fröhliches, fideles Wiedersehen!“
Hans Unwirrsch sackte den Tornister des Vaters auf: drei Minuten später bog er zwischen Moses und dem Oheim um die Ecke der Kröppelstraße, und ungestört konnten die beiden armen Frauen ihrem Kummer und – ihrer Freude Luft machen.
Vor der verschlossenen Tür des Trödelladens hatten sich drei alte Judenweiber, gegen welche der verstorbene Samuel dann und wann den barmherzigen Samaritaner spielte, samt der Haushälterin Esther eingefunden, um dem Sohne ihres Wohltäters ihren Segen und ihre Glückwünsche auf den Weg mitzugeben. Wir haben schon gesagt, daß dem armen Moses wenig davon geboten wurde; aber er zeigte auch jetzt wieder, daß er selbst das wenige gründlich verachtete. Höchst mißmutig hielt er sich die Ohren zu vor dem heisern Geschrei der Alten, und mit schlecht verhehltem Ekel und Verdruß entriß er seine Rockschöße ihren Händen; – wehe ihm!
Sie ließen den Taler, den er ihnen zuwarf, liegen auf der Erde. Auf der Schwelle des Trödelladens kauerten sie wie vier Schicksalschwestern, die über ein großes Unglück nachsannen. Moses Freudenstein mußte sehr böse Worte zu ihnen gesprochen haben, daß sie so erschreckt, erstarrt die Hände zusammenschlugen, daß sie ihm ein Gebet nachsandten, welches zur Hälfte ein Fluch war. Wehe riefen sie über ihn, wie im Tal Achor über Achan, den Sohn Serah, gerufen wurde; – sie verglichen ihn mit Absalom, dem Sohne Davids, und manchem anderen alttestamentlichen Übeltäter.
„Hat er gelernt zu viel, ist er geworden zu klug, wird er werden ein Verräter an seinem Volk!“ seufzten sie, als sie davonhumpelten.
Aber da war das uralte Tor, umsponnen von uraltem Efeu. Und die Morgensonne strahlte durch den dunklen Bogen, und das inhaftierte Vagabundenpaar im oberen Stock sang hinter den grünen Ranken ganz idyllisch sein Morgenlied: „Sind wir wieder mal beisamm gewest!“ und schien mit seinem Los ungemein zufrieden zu sein. Groß war des Oheims Verdruß über diese jubilierenden Lumpen, und in der sittlichen Entrüstung, welche ihn darob befiel, ging der letzte Tropfen Abschiedswehmut ohne Bodensatz auf.
„Wer es nicht hört, der glaubt es nicht!“ knurrte er. „Jedweder moralische Mensch und honorable Handwerksmann muß jetzt an seinen sauern Schweiß und schwere Arbeit, und dies Pack und Exkrement von der sozialen Gesellschaft wälzt sich auf dem Stroh und hat sein Pläsier auf öffentliche Unkosten. Nun, ihr beiden jungen Gesellen, macht euch auf die Beine und greift aus. Hans, mein Junge, ich sage dir nichts mehr. Du bist nun allgemächlich in die Zuständigkeit der Mündigkeit angekommen, und wenn du auch bei den Gelehrten noch nicht aus der Lehre bist, so weißt du doch schonst mehr wie unsereins vons Metier. Halte den Kopf in die Höhe und sieh scharf nach rechts und links, denn jedes Ding hat zwei Seiten, die Schusterei sowohl als imgleichen die Gelehrsamkeit. Bedanke dich nicht um das, was ich an dir getan habe, es ist nicht der Rede wert, und die Sorgen, die du mir in die schlaflosen Nächte gemacht hast, kannst du mir doch nicht ersetzen. Ich verlange es auch gar nicht, sondern beruhige mir für das in meiner Gewissenhaftigkeit, was ein sehr schönes Kopfkissen ist im Kinderfreund. Also – hier nimm ‘n Schluck auf ‘n gesundes Wiedersehen und schreib auch, wenn du mal Zeit hast, an die Weiber, sie möchten sich sonsten bei unpassender Gelegenheit vom Tage tun. Herr Freudenstein, bleiben Sie gesund; – stecke die Pulle nur ein, Hans, du bist in die Jahre, wo man schon dir und ihr allein zusammenlassen kann. Adjes und nun macht’s gut, ohne Schwanz und Umschweife.“
Schnellen Schrittes entfernte sich der Oheim; die beiden jungen Männer sahen ihm nach, bis er verschwunden war, dann schritten auch sie fort, entgegen der jungen Morgensonne, und bald hatten sie die Stadt hinter sich.
Die Sonne hielt, was sie versprochen hatte, sie sorgte für einen schönen Tag. Auf die Gärten der Bürger folgten die frischgrünen Felder, und die Landstraße, die sich zuerst in Schlangenlinien durch die Ebene wand, stieg allmählich zu den Höhen, zu dem Wald hinan.
Noch hing der Tau an den Grasspitzen, die Lerche sang, und die Butterweiber kamen im Butterweibertrab den beiden Jünglingen entgegen. Mehr als eine der schwerbeladenen Frauen gehörte zur Bekanntschaft der Base Schlotterbeck und somit natürlich auch zur Bekanntschaft Hans Unwirrschs; große Verwunderung und helles Geschrei war die Folge von mancher Begegnung. Es war wirklich ein Wunder, wie viele Menschen dem ausmarschierenden Hans ihre Teilnahme kundzugeben hatten.
O du lustige, lustige Landstraße, was geht alles auf dir vor! Der Handwerksbursche sitzt nieder am Rande des Grabens und zieht die Stiefel aus und sieht sich die schöne Natur durch das Loch in der Sohle an, während gegenüber auf dem Steinhaufen die Tochter des Vagabundenpaares drunten im Turm unbefangen ihr Kind an die Brust legt. Mit klingenden Schellen, Peitschenknall, Hallo, Geschnauf und Gestampf schwankt der weiße Lastwagen daher, und der weiße Spitzhund ist entweder sehr ärgerlich oder sehr spaßhaft gestimmt; jedenfalls würde er zerspringen, wenn er seinen Gefühlen nicht Luft machte. Was hat der Hase auf der Landstraße zu tun? Dort! Dort! Galopp mit angelegten Löffeln quer über den Weg. Es soll Unglück, Ärgernis und Kummer bedeuten – dreimal ein Vivat für ihn und sechsmal ein Vivat für den Schalk, der das schnurrige Omen in jener unvordenklichen Zeit, als die Leute noch dumm waren, unter die Leute brachte!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor