Abschnitt. 4 - Das Geschrei, die Segnungen und Beschwörungen Esthers draußen und ein Klopfen ...

Das Geschrei, die Segnungen und Beschwörungen Esthers draußen und ein Klopfen an der Tür jagten den Alten aus seinen Berechnungen und Gedanken in die Höhe:
„Gott Abrahams, da ist er!“
Mit zitternder Hand schob er den Riegel zurück und faßte seinen eintretenden Sohn in die Arme.
„Da ist er! Da ist er! Mein Sohn, der Sohn meines Weibes! Nun, Moses, sprich, wie ist’s gegangen?“
Auf Moses’ Gesicht zeigte sich keine Spur von Veränderung, er erschien kalt wie immer, und ruhig hielt er dem Vater das Zeugnis hin.
„Ich wußte es, daß sie schreiben mußten, was sie geschrieben haben. Sie werden schöne Gesichter geschnitten haben, aber sie mußten mir die erste Stelle geben. Spaß! Macht Euch nicht lächerlich, Vater, werdet nicht toll, Esther. Spaß! Sie hätten mir den sentimentalen Hans drüben gern vorgeschoben, aber es ging nicht an; ich wußte es. Bei allen albernen Göttern, Vater, was habt Ihr aber angefangen heute morgen? Gold? Gold über Gold? Was ist das? Was soll das? Mein Gott, woher –“
Er brach ab und beugte sich über den Tisch. Dieser Anblick warf seine gewohnte Selbstbeherrschung, für einige Zeit wenigstens, völlig über den Haufen.
„Dein! Dein! Alles dein!“ rief der Vater. „Ich habe dir gesagt, daß ich das Meinige tun würde, wenn du tätest das Deinige an dem Tisch da. Noch nicht alles! da – da!“
Der Alte war wieder zu dem Wandschrank gesprungen und warf noch einige klirrende Beutel auf den schwarzen Fußboden und noch einige Bündel Dokumente auf den Tisch. Seine Augen glühten wie im Fieber.
„Gewaffnet bist du und gerüstet, nun hebe dein Haupt. Iß, wenn du bist hungrig, und greife nach allem, wonach der Sinn dir steht. Sie werden es dir entgegenbringen, wenn du bist klug; du wirst ein großer Mann werden unter den Fremdlingen! Sei klug auf deinem Wege! Stehe nicht still, stehe nicht still, stehe nicht still!“
Die schwebende Kugel in dem Hause gegenüber spiegelte wider, wie Samuel Freudenstein hervoreilte und den westfälischen Lakai von dem Haken riß und ihn in die Tiefe des Trödelladens begrub; er schloß sein Geschäft damit für immer – der Lakai hatte als Aushängeschild für manche Dinge gedient, welche mit der Trödlerei eigentlich nichts zu tun hatten; es war kein Unglück, daß er aus der Kröppelstraße verschwand.
Hätte die Glaskugel des Meisters Anton Unwirrsch doch auch das Bild Moses Freudensteins wiedergeben können, wie er in der kurzen Abwesenheit seines Vaters mit untergeschlagenen Armen vor dem so reich belasteten Tische stand! Er war bleich, und seine Lippen zuckten, er fuhr mit den Fingerspitzen über einige der aufgezählten Goldreihen, und ein leises Zittern ging dabei durch seinen Körper. Tausend blitzschnelle Gedanken überschlugen sich in seinem Gehirn, aber nicht einer dieser Gedanken stieg aus seinem Herzen empor; er dachte nicht an die Arbeit, die Sorge, die – Liebe, welche an diesem aufgehäuften Reichtum hafteten; er dachte nur daran, wie er selbst sich nun zu diesem plötzlich ihm offenbarten Reichtum stellen müsse, welch eine veränderte Existenz für ihn selbst von diesem Augenblick anheben werde. Sein kaltes Herz schlug so sehr, daß fast ein physischer Schmerz daraus wurde. Es war eine böse Minute, in welcher Samuel Freudenstein seinem Sohn verkündete, daß er ein reicher Mann sei und daß der Sohn es dereinst sein werde. Von diesem Augenblick liefen tausend dunkle Fäden in die Zukunft hinaus; was dunkel in Moses Seele war, wurde von diesem Augenblick an noch dunkler, heller wurde nichts; der Egoismus richtete sich dräuend empor und streckte hungrige Polypenarme aus, um damit die Welt zu umfassen.
Das Dasein des Vaters war in diesem sich überstürzenden, wild heranschwellenden Gedankensturm nichts mehr, es war ausgelöscht, als ob es nie gewesen sei. Nur an sich selbst dachte Moses Freudenstein, und als des Vater Schritt wieder hinter ihm erschallte, fuhr er zusammen und biß die Zähne aufeinander.
Samuel Freudenstein hatte die Tür verriegelt; die Läden hatte er geschlossen, die weite liebliche Frühlingswelt, den blauen Himmel, die schöne Sonne sperrte er mit aus – wehe ihm!
Mit den fröhlichen Klängen, den glänzenden Farben des Lebens hatte er nichts zu schaffen, sie hätten ihn nur gestört; er wollte einen Triumph feiern, zu welchem er sie nicht nötig hatte – wehe ihm! Die graue Dämmerung, die durch die schmutzigen Scheiben der Hinterstube fiel, genügte vollkommen, um dabei dem Sohne das geheime Geschäftsbuch vorzulegen und ihm zu zeigen, auf welche Weise der Reichtum, den er vor ihm ausgebreitet hatte, erworben worden war.
Die Sonne ging unter und übergoß vor ihrem Scheiden die Welt mit einer Schönheit sondergleichen; in jedes Fenster, welches sie erreichen konnte, lächelte sie zum Abschied; aber dem armen Samuel Freudenstein konnte sie nicht Lebewohl sagen – wehe ihm!
Es wurde Nacht, und Esther trug die angezündete Lampe in das Hinterstübchen. Die Kinder wurden zu Bett gebracht, der Nachtwächter kam; auch die älteren Leute verschwanden von den Bänken vor den Haustüren. Jedermann trug seine Sorgen zu Bett; aber Samuel und Moses Freudenstein zählten und rechneten weiter, und erst der grauende Morgen fand letztern in einem unruhigen, fieberhaften Schlummer, aus welchem er wiederauffuhr, nachdem er kaum die Augen geschlossen hatte. Er erwachte nicht wie Hans Unwirrsch; er erwachte mit einem Angstruf und streckte die Hände aus und zog die Finger zusammen, als entreiße man ihm etwas unendlich Kostbares, als bestrebe er sich in tödlicher Angst, es festzuhalten. Aufrecht saß er im Bett und starrte umher, faßte die Stirn mit den Händen und sprang dann empor. Er zog die Kleider hastig an und stieg in die Hinterstube nieder, wo sein Vater noch im Schlafe lag und unruhig abgebrochene Sätze murmelte. Vor dem Bette des Vaters stand der Sohn, und seine Blicke wanderten von dem Gesicht des Vaters zu dem leeren Tisch, der vorhin so reich belastet war.
O über den Hunger, den schrecklichen Hunger, von welchem Moses Freudenstein gepeinigt, verzehrt wurde! Zwischen dem Mahl und dem Hungrigen stand ein überflüssiges Etwas, das Leben eines alten Mannes. Die Zähne des Sohnes dieses alten Mannes schlugen aneinander, wehe auch dir, Moses Freudenstein!
Wie war die Sanduhr von der Kanzel der christlichen Kirche in den Trödelladen gekommen? Sie war da und stand neben dem Bett des Greises in einem Fach an der Wand. In früheren Jahren hatte sie Moses und Hans oft als Spielwerk gedient, und sie hatten sich an dem Niederrinnen des Sandes ergötzt; nun hatte schon längst keine Hand sie mehr berührt, die Spinnen hatten ihr Gewebe um sie gezogen; es war auch ein nutzloses Ding. Was fuhr dem Sohn des Trödlers plötzlich durch den Sinn, daß er das alte Stundenglas von neuem umdrehte? Die erschreckte Spinne fuhr an der Wand hinauf; der Sand rieselte wieder nieder, und Samuel Freudenstein erwachte schreckhaft. Er zog die Decke zusammen und griff nach dem Schlüsselbund unter seinem Kopfkissen; dann fragte er fast kreischend:
„Was willst du, Moses? Bist du es? Was willst du? Es ist ja noch Nacht!“
„Heller Tag ist’s. Hat der Vater vergessen, daß wir noch nicht fertig geworden sind gestern. Es ist heller Tag; der Vater hat mir noch so viel zu sagen.“
Der Vater blickte den Sohn starr an und sah ihn wieder an. Dann fiel sein Blick auf die Sanduhr.
„Weshalb hast du umgewendet das Glas? Weshalb weckst du mich vor dem Tag?“
„Spaß! Der Vater weiß, daß die Zeit ist kostbar und verrinnt wie der Sand. Will der Vater aufstehen?“
Der Alte wendete sich unruhig in seinem Bette hin und her, und immer von neuem blickte er auf den Sohn, bald forschend, bald angstvoll, bald zornig.
Moses hatte sich umgewendet und ging zu seinem Schreibtisch am Fenster, aufrecht saß der Alte und zog die Knie in die Höhe. Der Sand in der Uhr rieselte nieder – nieder, und die Augen des Greises wurden immer starrer. Ob er in seinem kurzen Schlaf einen Traum gehabt hatte und nun überlegte, ob dieser Traum nicht Wahrheit sein könne, wer konnte das sagen? War es ihm urplötzlich klargeworden, daß er seinem Kinde mit einem so lange und gut verborgenen Schatz nur Finsternis und Verderben gegeben hatte? Welch ein Leben hatte er geführt, um die gestrige Stunde feiern zu können! Wehe ihm!
Scheue Blicke warf der Sohn über die Schulter auf den Vater:
„Was ist dem Vater? Ist er nicht wohl?“
„Ganz wohl, Moses, ganz wohl. Sei still, ich will aufstehen. Sei nicht zornig. Still, still – – auf daß du lange lebest auf Erden.“
Er erhob sich und kleidete sich an. Esther kam mit dem Frühstück, aber sie hätte das Tassenbrett fast fallen lassen, als sie ihrem alten Herrn in das Gesicht sah.
„Gott der Gerechte! Was ist dem Freudenstein?“
„Nichts, nichts! Sei still, Esther; es wird vorübergehen.“
Er saß den ganzen Morgen in seinem Stuhl, ohne sich zu regen. Nur sein Mund bewegte sich, aber ein lautes Wort kam nur einmal über seine Lippen; er wollte jetzt, daß man die Tür und die Laden wieder öffne.
„Was soll die Esther aufsperren das Haus?“ fragte Moses. „Wollen wir doch erst zu Ende bringen das Geschäft von gestern und brauchen dazu keine Gaffer und Horcher.“
„Still, still, du hast recht, mein Sohn. Es ist gut, Esther. Nimm die Schlüssel unter meinem Kissen, Moses.“
Die Sanduhr war wieder abgelaufen; Moses Freudenstein selber hatte den Wandschrank abermals geöffnet und kramte in den Papieren. Der Greis rührte sich nicht, aber er folgte jeder Bewegung seines Sohnes mit den Augen und fuhr dann und wann fröstelnd zusammen. Esther hatte ihm eine alte Decke um die Schultern gelegt; er war wie ein Kind, das alles mit sich geschehen lassen muß.
Wieder nahm Moses einen Geldsack hervor, er glitt ihm aus den Händen und fiel klirrend auf den Boden, wobei ein Teil der Münzen über den Fußboden hingestreut wurde. In das Klirren und Klingen mischte sich ein Schrei, der das Blut erstarren machte. –
„Apoplexia spasmodica!“ sagte eine Viertelstunde später der Doktor. „Hm, hm – seltener Fall bei einer solchen Konstitution!“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor