Abschnitt. 3 - Von der Predigt verstand Hans an diesem Tage nicht viel, und obgleich sie ziemlich ...

Von der Predigt verstand Hans an diesem Tage nicht viel, und obgleich sie ziemlich lang war, deuchte sie ihm sehr kurz. Summa cum laude! grinste sogar das steinerne Skelett an dem alten Grabmal neben dem Kirchenplatz der Unwirrsche, dieses Scheusal, welches Hans lange Jahre über die Kindheit hinaus nie von dem Begriff Kirche ablösen konnte. Auch die Orgel sang durch alle Pfeifen: Summa cum laude! und begleitete damit die Familie bis vor die Tür des Gotteshauses. Summa cum laude! lächelte vor allem der Professor Doktor Fackler, der mit Kornelia und Eugenia ebenfalls in der Kirche gewesen war, der es nicht unter seiner Würde hielt, mit der Verwandtschaft seines Lieblingsschülers eine Strecke weit zu gehen, und der dem Oheim Grünebaum nun nachträglich Glück wünschen konnte.
Summa cum laude, schien auf den Gesichtern aller Begegnenden zu stehen, es war wirklich eine merkwürdige Geschichte.
Mit Gruß und Händedruck hatte der Professor sich verabschiedet, und Eugenia und Kornelia hatten die unbeholfene Verbeugung des schüchternen, errötenden Studenten mit zierlichem Knicks erwidert; – da war die Kröppelstraße wieder, und ihre Bewohner hatten bereits die Feiertagskleider ausgezogen und die Werktagskleider angelegt.
Sie arbeiteten aber noch nicht; eine große Aufregung herrschte in der Kröppelstraße; alt und jung war auf den Beinen und schrie und lief und handzappelte durcheinander.
„Holla, was ist da wieder los?“ rief der Oheim. „Was hat’s denn gegeben? Was gibt es denn, Meister Schwenckkettel?“
„Er hat’s! Es hat ihn!“ lautete die Antwort.
„Der Deibel, wer hat’s? Was hat ihn?“
„Der Jud, der Freudenstein! Er liegt auf dem Rücken und schnappt –“
Die Frauen schlugen die Hände zusammen, Hans Unwirrsch stand starr und erbleichend, der Oheim Grünebaum aber sprach phlegmatisch:
„Der Deibel nimmt die Graden und die Ungraden! Nur immer langsam, Hans – Donnerwetter, da ist er schon hin!“
Im vollen Laufe stürzte Hans nach dem Laden des Trödlers, dessen Tür jetzt offenstand und von einem dichten Menschenhaufen belagert wurde. Einer guckte dem andern über die Schulter, und obgleich niemand in dem dunklen Räume etwas Außergewöhnliches erblickte, so wäre doch keiner von der Stelle gewichen; die Kröppelstraße liebte solche nichtskostende Aufregung viel zu sehr.
Nur mit Mühe gelang es dem betäubten Hans, sich Bahn zu brechen. Endlich stand er in der Dämmerung des Ladens mit einem Gefühl, als sei er von der freien, frischen Frühlingsluft für ewig ausgeschlossen. Wie durch einen Nebel starrten die Gesichter des Volkes von der Treppe am Eingang auf ihn herab; eben wollte er die zitternde Hand auf den Griff der Tür, welche in das Hinterzimmer führte, legen, als sie geöffnet wurde.
Der Arzt trat heraus und rückte die Brille zurecht.
„Ah, Sie sind’s, Unwirrsch“, sagte er. „Es geht schlecht drinnen. Apoplexia spasmodica. Gastrischer, krampfhafter Schlagfluß. Augenblicklich alle Vorsorge getroffen. Gesegnete Mahlzeit.“
Hans Unwirrsch erwiderte den letzten Gruß des Doktors nicht; denn nur dieser ging zu seinem Mittagessen, Hans aber raffte alle Energie zusammen und trat in die Hinterstube, die sich jetzt in ein Sterbezimmer verwandelt hatte. Ein durchdringender Geruch von Salmiakspiritus schlug ihm entgegen, auf dem Lager im Winkel röchelte der Kranke; der Ortsrabbiner war bereits gekommen, saß zu Häupten des Bettes und murmelte hebräische Gebete, in welche die Stimme der alten Esther von der andern Seite von Zeit zu Zeit einfiel.
Zu Füßen des Lagers stand regungslos Moses. Er stützte sich auf die Pfosten und sah auf den Kranken. Kein Muskel zuckte in seinem Gesicht, in seinen Augen zeigte sich keine Spur von Tränen, fest geschlossen waren seine Lippen.
Er wandte sich um, als Hans zu ihm trat, und legte seine kalte Rechte in die Hand des Freundes; dann aber wandte er das Gesicht sogleich wieder ab und sah von neuem auf den kranken Vater. Es war, als sei er mit dem Examentag um einen Kopf höher geworden, der Ausdruck seiner Augen war unbeschreiblich – es war, um ein schreckliches Gleichnis zu gebrauchen, als ob der Todesengel auf das Niederfallen des letzten Sandkorns lausche; – Moses Freudenstein war allmählich ein schöner Jüngling geworden.
„O mein Gott, Moses, so sprich doch! Wie ist das gekommen? Wie ist das so schnell gekommen?“ flüsterte Hans.
„Wer das sagen könnte!“ sagte Moses ebenso leise. „Vor zwei Stunden noch saßen wir ruhig zusammen und – und – er zeigte mir allerlei Papiere, die wir ordneten – wir haben seit gestern mancherlei zu ordnen gehabt –, da stöhnt er plötzlich und fällt vom Stuhl, und nun – da liegt er. Der Doktor sagt, er werde nicht wiederaufstehen.“
„O wie schrecklich! Ich habe gestern so oft an eure Tür geklopft; weshalb wolltet ihr niemanden einlassen?“
„Er wollte es nicht; er war immer ein eigener Mann. Er hatte sich vorgesetzt, an diesem Tag, wenn ich mein Examen glücklich überstanden hätte, sein Geschäft für immer zu schließen. Er wollte keinen Zeugen, keinen Störer haben, als er seine geheimen Kasten und Fächer mir öffnete. Ein eigener Mann ist er gewesen, und jetzt schließt mit dem Geschäft sein Leben – wer hätte es gedacht; freilich, wer hätte es gedacht?“
Die Stimme, mit welcher diese Worte gesprochen wurden, war klanglos und klagend; aber in den Augen schimmerte etwas, was keine Trauer und Klage war. Eine geheime Befriedigung lag in ihnen, ein verhaltener Triumph, die Gewißheit eines Glückes, welches plötzlich sich offenbart hatte, welches in solcher Fülle nicht gehofft worden war und welches augenblicklich noch unter dem dunklen Mantel versteckt werden mußte.
Wir wollen erzählen, wie Vater und Sohn die Zeit seit dem vergangenen Tage zugebracht hatten, und wir werden uns diesen Blick, welchen Moses Freudenstein auf den sterbenden Vater warf, erklären können.
In ebenso großer Aufregung wie die Verwandten Hans Unwirrschs hatte der Meister Samuel auf die Heimkehr seines Sohnes gewartet. Ruhelos irrte er in seinem Hause umher und fing ein Wühlen an, ein Aufundzuschieben von Kasten, ein Durchstöbern der vergessensten Winkel, als wolle er eine letzte Generalmusterung seines Besitztums und seiner tausendfachen Handelsgegenstände halten. Dabei sprach er fortwährend mit sich selbst, und obgleich er keinen Tropfen spirituosen Getränkes je über die Lippen brachte, schien er um die Zeit, als der Onkel Grünebaum dem Schulhaus gegenüber sich fest an die Mauer lehnte, mehr berauscht als dieser. Der große Entschluß, den er so lange mit sich herumgetragen hatte und welcher jetzt zur Ausführung kommen sollte, machte ihn wie trunken. Gegen elf Uhr trieb er die Haushälterin Esther aus der Hinterstube und verriegelte fest auch diese Türe. Geheimnisvolle Schlüssel brachte er nun zum Vorschein, geheimnisvolle Fächer öffnete er in seinem Schreibtisch, knarrend erschloß sich eine geheimnisvolle Tür in einem geheimnisvollen Wandschrank. Es klirrte wie Gold und Silber, es rauschte wie Staatspfandbriefe und ähnliche wertvolle Papiere, und es murmelte zwischen dem Klirren und Rauschen der Vater Samuel:
„Er ist geboren in einer finstern Ecke, er wird haben Sehnsucht nach dem Licht; er hat gesessen in einem dunkeln Haus, er wird wohnen in einem Palast. Sie haben ihn verspottet und geschlagen, er wird es ihnen vergelten nach dem Gesetz: Auge um Auge, Zahn um Zahn! Es ist ein guter Sohn, und er hat gelernt, was der Mensch braucht, um in die Höhe zu kommen. Er ist nicht ungeduldig geworden, sondern er ist stillgesessen gewesen vor seinen Büchern hier an diesem Tisch. Er hat sein Werk getan, und ich habe getan das meinige. Er soll mich finden hier an diesem Tisch, wo er gesessen hat still sein junges Leben hindurch. Er wird nun hinausgehen, und ich werde hierbleiben; aber meine Augen werden ihm folgen auf seinem Wege, und ich werde große Freude von ihm haben. Ich bin ihm immer gefolgt mit meinen Augen, er ist ein guter Sohn. Nun ist er ein Mann geworden, und sein Vater wird nichts Geheimes mehr vor ihm haben. Sechshundert, siebenhundert – zweitausend – ein guter Sohn – der Gott unserer Väter möge ihm und seinen Kindern und seiner Kinder Kindern Segen geben!“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor