Abschnitt. 2 - Die Base Schlotterbeck sah diesen Vorgang, welcher in der schwebenden Kugel ...

Die Base Schlotterbeck sah diesen Vorgang, welcher in der schwebenden Kugel sich abbildete, durch das Fenster und wollte eben ihre Verwunderung darüber kundgeben, als der Oheim Grünebaum das müde Haupt wieder vom Tisch emporhob und seine Umgebung mit mehr als erstaunten Blicken zu mustern begann. Er rieb sich die Augen, er fuhr durch das Haar und nahm mit der Versicherung, daß jedes Übermaß von Freude und Jubel sehr gefährlich sei und schlagflußähnliche Anfälle hervorbringen könne, wie sein „leibeigenes Exemplum“ soeben dargetan habe, seine Stellung im Familienkreise wieder ein. Mit der Besinnung war ihm die Gabe der holden Rede im reichen Maße wiedergeschenkt, und er machte sogleich in gewohnter Weise einen ausgiebigen Gebrauch davon.
„So hat denn dieser hiesige junge Mann, unser Nehvö und Diszendente, seiner geliebten Anverwandtschaft alle Ehre gemacht, und es ist richtig nichts mit der Schusterei. Mit das Kapitolium ist er nun glücklich durchs Loch nach seinem Willen, und so wird er Bauch und Beine mit der Zeit und Rat wohl auch durchkriegen, und wir können wohl guter Hoffnung sein, daß er uns dieserseits von der Mauer nicht vergißt, wenn er die Füße dem Kopf hinterdreingezogen hat. Man hat ja wohl Exempel von Beispielen, daß dem Schenie bei solchem Durchgedrängel der Hirnkasten verdreht wird und daß es solchergestalt verlernt, was hinter der Mauer gewesen ist und wer allda steht und vordem nach Kräften geschoben hat; aber dieser hier gegenwärtige Hans wird’s seinem Oheim, imgleichen seiner Mutter und, nicht zu vergessen, der Base Schlotterbeck gedenken, was sie an ihm getan haben und wie er’s ihnen niemalen genugsam verdanken kann. Da steht er nun, Christine Unwirrsch, geborene Grünebaum; da steht er, Jungfer Base, und hat den Kopf voll von guten Dingen, und die Tränen laufen ihm über die Backen, daß es ein erfreuliches Schauspiel und schmerzliches Vergnügen ist. Wir wollen’s ihm auch lassen, daß er mehr gelernt hat, als er verantworten kann, und wenn ihn die Base auf griechisch fragt, so wird er auf hebräisch antworten. So wollen wir denn für die gute Gabe dankbar sein und wollen uns nicht drum kümmern, daß der Deibel die Graden und die Ungraden nimmt. Komm her, Junge, und wenn du mich auch damalen das löbliche Handwerk infamigt verachtet hast und anjetzo dem Pastor näher bist als dem Pechschuster Grünebaum, so komm her und umarme mir; dein Oheim, er sagt dir aus dem Grunde seines Herzens prost zu diesem heutigen Ehrentage!“
Es war Sinn in dem Unsinn, welchen der Onkel so pathetisch von sich gab, aber hätte er auch nichts als Blödsinn zutage gefördert, Hans würde sich nichtsdestoweniger in die weitgeöffneten Arme des wackern Mannes gestürzt haben. Nach minutenlangem Schütteln und Drücken küßte er von neuem seine Mutter ab, ging denselben Prozeß abermals mit der Base durch und gab dazwischen seinen überströmenden Gefühlen nach Möglichkeit Worte.
„O wie soll ich es euch allen danken, was ihr an mir getan habt?“ rief er. „O Mutter, wenn doch mein Vater noch lebte!“
Die Mutter brach bei diesem Ausruf ihres Sohnes natürlich in lautes Weinen aus; aber die Base legte nur die Hände im Schoß zusammen, nickte mit dem Kopfe und lächelte vor sich hin, sprach aber ihre Gedanken nicht aus. Auf einmal erhob sie sich aber schnell vom Stuhl, faßte den Rock der Frau Christine und deutete geheimnisvoll nach dem Fenster.
Jeder folgte der Richtung ihres Winkes mit den Augen. Aber niemand außer ihr sah was. Die Kröppelstraße lag im vollen Mittagssonnenschein, von ihren Bewohnern war jedoch niemand zu erblicken; das Haus des Trödlers sah aus, als ob es seit einem halben Jahrhundert bereits von seinen Bewohnern verlassen worden sei; nur eine Katze benutzte den stillen Augenblick und schritt vorsichtig quer über die Gasse.
„Sie könnte einen am hellen, lichten Tage aus die Kontenankse bringen!“ murmelte der Oheim mit einem scheuen Seitenblick auf die Base; die Mutter faßte die Hand ihres Sohnes fester und zog ihn näher zu sich: was auch Hansens Meinung von den geheimnisvollen Gaben der Base Schlotterbeck sein mochte, in diesem Augenblick war er nicht imstande, sich gegen das Gefühl, welches ihr Gebaren erregte, zu wehren. –
Welch ein Erwachen am Morgen nach diesem schweren und glücklichen Tage! Ein Sieger, der sein Zelt auf triumphierend behauptetem Schlachtfeld aufschlug, ein junges Mädchen, das sich gestern auf dem Ball verlobte, mögen in ähnlicher Weise wie Hans Unwirrsch nach seinem Examen erwachen. Die Nerven haben sich noch nicht beruhigt, aber man ist von dem beseligenden Gefühl durchdrungen, daß sie Zeit haben, sich zu beruhigen. Noch zucken einzelne Schauer der großen Aufregung durch die Seele, aber man fühlt sich trotzdem, ja gerade deshalb so sicher, daß es eine Wonne ist. Was bleibt von dem Glücke des Menschen, wenn man die Hoffnung vor dem Kampf, vor dem Erlangen des Wunsches und diese ersten verwirrten, unklaren Augenblicke nach ihm davon abzieht?
Summa cum laude! lächelte der Sonnenstrahl, der das Bett, in welchem Hans Unwirrsch mit halbgeschlossenen Lidern lag, umspielte. Summa cum laude! zwitscherten die frühwachen Sperlinge und Schwalben vor dem Fenster. Summa cum laude! riefen die Glocken, die den Grünen Donnerstag einläuteten. Summa cum laude! sagte Hans Unwirrsch, als er in der Mitte seiner Kammer stand und einen Bückling machte, welcher ihm selber galt.
Er war mit seinem Anzug noch nicht ganz fertig, als die Mutter bereits hereinschlich. Sie hatte ihre Schuhe unten an der Treppe gelassen, um die Base, die ihre Schlafkammer dicht neben Hansens Kammer hatte, nicht zu wecken. Sie setzte sich auf das Bett des Sohnes und betrachtete ihn mit naivem Stolz, und ihre Blicke taten ihm bis ins Innerste wohl.
Unten wartete der Feiertagskaffee, und die Base saß am Tisch. Sie hatte ihre Schuhe oben an ihrer Türe gelassen, um den Studenten und die Frau Christine nicht zu wecken, und es gab ein kleines Gelächter wegen der wechselseitigen Vorsicht. Ein Stück Jubelkuchen war auch vorhanden, und obgleich der Grüne Donnerstag nur ein halber Festtag ist, wie jeder weiß, der sich in harter Arbeit quälen muß, so stand es doch fest, daß er als ein ganzer gefeiert werden solle.
Zuerst ging man natürlich zur Kirche, nachdem Hans noch einmal vergeblich an die Tür des Trödlerhauses geklopft hatte. Seit der alte Samuel den Lakai des Königs Hieronymus vom Haken genommen und ihn somit seiner Stellung oder vielmehr seines Schaukelns im gesellschaftlichen Leben für immer enthoben hatte, war die Tür noch nicht wieder geöffnet worden. Was hinter ihr vorging, war ein Rätsel für die Kröppelstraße, aber ein noch größeres Rätsel für Hans, der den Freund seit ihrem Heimgang aus dem Examen nicht wiedergesehen hatte und von jedem Versuch, in das Haus drüben einzudringen, ohne Erfolg zurückgekommen war. Murx, der pensionierte Stadtbüttel, der immer noch in ohnmächtiger Wut und gichtbrüchig mehr als je von seinem Lehnsessel aus auf die Kröppelstraße achtgab, hatte bereits den gegenwärtigen Stabschwinger und Nachfolger im Amt auf den „verflucht verdächtigen Kasus“ aufmerksam gemacht; ja der Bürgermeister hatte bereits das Haupt darüber geschüttelt. – Das stille Haus fing an, die Ruhe der Stadt mehr zu stören, als der betrunkenste Raufbold es vermocht hätte.
Aber die Glocken riefen zur Kirche, und dort schritt der Oheim Grünebaum heran im blauen Rock, in seegrünen Hosen und gestreifter Weste, zum Schutz gegen alle bittern und süßen Verlockungen mit dem mächtigsten aller Gesangbücher bewaffnet, eine Zierde jeder Straße, durch welche er stapfte, ein Schmuck jeder Versammlung von Christen, Politikern und zivilisierten Menschen, die er mit seiner Gegenwart beehrte.
Hand in Hand ging Hans mit seiner Mutter, und an der Seite der Base schritt der Oheim, der nur da ein wenig von seinem selbstbewußten Anstand verlor, wo man um die Ecke bog, wo er gestern – wo ihn gestern seine Gefühle übermannt hatten. Ein sehr rotes Taschentuch zog er hervor, schneuzte sich heftig, gelangte so glücklich über die böse Stelle hinweg und landete seine Würde ohne Havarie in dem Kirchenstuhl der Familie; – es ist schade, daß wir seinem Gesang nicht ein eigenes Kapitel widmen dürfen, niemals psallierte ein Schuster mit größerer Andacht und Gewalt durch die Nase.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor