Abschnitt. 1 - Der Oheim Grünebaum im Festtagshabit war eine Erscheinung, würdig, ...

Der Oheim Grünebaum im Festtagshabit war eine Erscheinung, würdig, gediegen, selbstbewußt und fest. Wer zuerst nur einen flüchtigen Blick auf ihn geworfen hatte, ließ gewöhnlich diesem Blick freudig überrascht eine minutenlange Betrachtung folgen, eine Betrachtung, die der Oheim, je nach der beschauenden Persönlichkeit, entweder mit huldvoller Gemütsruhe gestattete oder durch ein unnachahmliches „Nanu?“ zu Ende brachte.
In seinem Sonntagshabit stand der Oheim Niklas Grünebaum an der Ecke dem Gymnasium gegenüber und glich insofern einem Engel, als er einen schönen, langen blauen Rock trug, welcher freilich, was den Schnitt betraf, wenig mit den Gewändern der Heiligenbilder gemein hatte. Die Taille dieses Rockes war durch den Verfertiger dem Nacken so nah als möglich gerückt, und zwei Nonplusultraknöpfe bezeichneten ihren Beginn. Deutlich zeichneten sich die Taschen in der untern Gegend der Schöße ab, und eine kurze Pfeife mit anmutig schaukelnden Quasten sah neugierig aus der einen hervor. Eine gelbundbraungestreifte Weste trug der Oheim und Hosen von grünlichblauer Färbung, etwas zu kurz, aber von angenehmer Konstruktion, oben zu eng, unten zu weit. Die Petschafte, welche unter dem Magen des würdigen Mannes baumelten, waren eigentlich einer seitenlangen Beschreibung würdig, und von dem Hut wollen wir deshalb nichts sagen, weil wir fürchten, dadurch über die Grenzen des gegebenen Raumes unwiderstehlich hinausgerissen zu werden.
Weshalb stand der Oheim Grünebaum an einem ganz gewöhnlichen Wochentage in seinem Sonntagsrock an der Ecke dem Gymnasium gegenüber? Sage uns, o Muse, den Grund davon! Nimm den Finger von der Nase, schönredende Kalliope, du hast den Meister Niklas genug betrachtet, wende dein göttliches Auge nach dem Schulhause und melde uns als ein gutes Mädchen, das es nicht übers Herz bringen kann, jemanden lange zappeln zu lassen, was darin vorgeht!
Wahrlich, es war Grund zur Aufregung für mehr als eine der Personen, welche bis jetzt in diesen Blättern erwähnt wurden, vorhanden: Hans Unwirrsch und Moses Freudenstein machten an diesem Mittwoch vor dem Grünen Donnerstag ihr Abiturientenexamen und schlossen damit, wenn das Ding gut ausfiel, ihr Schülerleben.
Deshalb hatte der Oheim Grünebaum einen außergewöhnlichen blauen Montag gemacht und stand im Feierkleide an der Ecke, deshalb behauptete er mit so anerkennenswerter Hartnäckigkeit seinen Platz im Gedränge des Wochenmarktes, deshalb griff er so krampfhaft nach den Rockknöpfen der Bekannten, die unvorsichtigerweise sich nach dem Grunde seines außergewöhnlichen Aufputzes erkundigten. Den am heutigen Tage gepackten Knopf ließ der Meister nur sehr schwer wieder los. Seine Seele war voll von dem wichtigen Ereignis. Dasselbe ließ sich unter zu vielen Gesichtspunkten betrachten! Wenn das da drüben im Schulhause so ausfiel, wie man erwartete und wünschte: wem hatte die Welt dafür zu danken? Keinem andern als dem ehrsamen Meister Nikolaus Grünebaum! – Wenn der betäubte Nachbar oder Bekannte endlich sich aus dem Griff des Meisters losgemacht hatte, so war er während der ersten Minuten durchaus nicht im reinen mit sich darüber, wer denn eigentlich examiniert werde vom Professor Fackler, ob der Oheim Grünebaum oder Hans Unwirrsch, des Oheims Neffe. –
Um zwölf Uhr sollte das Examen beendet sein, und von Augenblick zu Augenblick geriet des Oheims Nervensystem in lebendigere Schwingungen. Er nahm den Hut ab und wischte sich mit dem Sacktuch die Stirn; er stülpte ihn wieder auf, schob ihn nach hinten, schob ihn nach vorn, nach rechts und nach links. Er nahm die langen Rockschöße unter die Arme und ließ sie wieder fallen; er schneuzte sich, daß man es drei Straßen weit hörte. Er fing an, laut mit sich selber zu sprechen, und gestikulierte dabei sehr zum hohen Ergötzen sämtlicher Gaffer und Gafferinnen in den Ladentüren und hinter den Fenstern der nächsten Umgebung. Die Marktweiber, denen er den ganzen Morgen über den Weg versperrt hatte, setzten öfters ihre Eierkörbe, Gemüsekörbe und Milchkannen nieder, um ihm wenigstens moralisch seinen Standpunkt zu verrücken, aber er war taub für ihre Anzüglichkeiten. Er hätte sich heute selbst von den Hunden verächtlich behandeln lassen.
Um drei Viertel auf zwölf nahm er im nächsten Materialladen den sechsten Bittern, und es war die höchste Zeit dazu, denn er fühlte sich so schwach auf den Füßen, daß er fast dem Umsinken nahe war. Von jetzt an hielt er die Uhr, ein Familienstück, für welches ein Raritätensammler viel Geld bezahlt haben würde, krampfhaft in der zitternden Hand, und als die Glocke auf der Stadtkirche zwölf schlug, wäre er beinahe „fertig und kaputt“ nach Haus gegangen, um sich zu Bett zu legen.
Er genoß noch einen Bittern; es war der siebente, und im Verein mit den andern wirkte er, und seine Folgen waren erkennbarer als die der vorhergegangenen.
Fest lehnte jetzt der Oheim an der Hauswand; er lächelte durch Tränen. Von Zeit zu Zeit machte er abwehrende Handbewegungen, als wolle er unberufene Gefühle in ihre Schranken zurückweisen; es war ein Glück für ihn, daß um diese Stunde der jüngere Teil der Bevölkerung von Neustadt sich den Genüssen des Mittagstisches hingab, es wurden ihm viele Kränkungen und ironische Bemerkungen dadurch erspart. Er fing an, die Aufmerksamkeit der Polizei zu erregen, und sie gab ihm mütterlich besorgt den Rat, nicht länger zu warten, sondern nach Haus zu gehen, was zur Folge hatte, daß er sich nur noch fester an die Wand lehnte und mit mißfälligem Gegrunz, schnaufend und glucksend die Absicht aussprach, bis zum Jüngsten Gericht an dieser Ecke auf den „Jungen“ zu warten. Da er bis jetzt die öffentliche Ruhe noch nicht sehr störte, so zog sich die Polizei ein wenig zurück, behielt ihn aber scharf im Auge, bereit, in jedem Augenblick hervorzuspringen und zuzupacken.
Glücklicherweise wachte mit der löblichen Sicherheitsbehörde über dem Meister Niklas auch sein Schutzengel, oder vielmehr der kam eben von einem Privatgeschäftswege zurück, um seine Wache wiederanzutreten. Mit Entsetzen erkannte er, wie die Sachen standen, und seiner Vermittlung war’s höchstwahrscheinlich zuzuschreiben, daß drüben im Schulhause dem Professor Doktor Fackler auch ein heftiger Schreck mit dem Gedanken an die mit der Mahlzeit harrende Lesbia durch die gelehrte Seele ging. Hastig sah er nach der Uhr und fuhr von seinem Sitz empor; die anderen Herren rauschten ihm nach, secundum ordinem: die Examinanden, denen allmählich alles vor den Augen schwamm, erhoben sich ebenfalls schwindelnd, schwitzend und erschöpft – – nur noch eine kleine Viertelstunde hatte der Oheim Grünebaum durch eigene Kraft das Gleichgewicht zu bewahren; – um drei Viertel auf eins sank er, fiel er, schlug er dem bleichen, aufgeregten Neffen in die Arme – – – Viktoria! Gesiegt hatte Hans Unwirrsch, gesiegt hatte der Meister Grünebaum. Der eine über die Fragen der sieben examinierenden Lehrer, der andere über die sieben Bittern – Viktoria!
Professor Fackler wollte auf den Oheim zutreten, um ihm Glück zu wünschen, unterließ es aber ganz erschrocken, als er den aufgelösten Zustand des Trefflichen erkannte; Moses Freudenstein, Primus inter pares, lachte nicht wenig über die hilflosen und kläglichen Blicke, welche Hans Unwirrsch nach allen Seiten umhersandte; die gute Stunde jedoch hatte sein Herz weicher als gewöhnlich gemacht, er bot sich dem Freunde zur tätigen Hilfeleistung an, und zwischen den beiden Jünglingen wandelte der alte, heitere Knabe Niklas Grünebaum lächelnd und lallend, schwankend und schluchzend der Kröppelstraße zu.
Was wollte es bedeuten, daß der Oheim in der niedern dunklen Stube sogleich auf den nächsten Stuhl fiel und die Arme auf den Tisch legte und den Kopf auf die Arme? Was kümmerten sich die Mutter Christine und die Base Schlotterbeck in dieser Stunde um den Oheim Grünebaum? Gänzlich überließen sie ihn sich selber und den sieben! Die beiden Frauen waren fast ebenso betäubt und verwirrt wie der Meister; durcheinander schluchzten und lächelten sie, wie jener geschluchzt und gelächelt hatte, und Hans gab ihnen an Rührung und Jubel nichts nach.
Der Tag war von den beiden Knaben aus der Kröppelstraße gewonnen; den ersten Platz unter den Examinanden hatte natürlich Moses Freudenstein eingenommen; aber den zweiten hatte Hans Unwirrsch errungen.
Es hatte alles in der Stube ein ganz anderes Ansehen als sonst; ein magisches Licht hatte sich über alles ergossen. Daß die Glaskugel leuchtete, war kein Wunder, sie stand mit der Sonne auf zu gutem Fuße, um nicht an einem solchen Tage zu funkeln, als sei sie selbst eine kleinere Sonne. Wer genau hinblickte, der sah, daß in ihr sich mehr spiegelte, als er vermuten konnte: lachende und weinende Gesichter, Stücke von den Wänden, ein Stück von der Kröppelstraße samt einem Stück vom blauen Himmel, der königlich westfälische Leiblakai und der Trödler Samuel Freudenstein, welcher besagten Lakaien in seltsam hastiger Weise vom Haken riß und Laden und Tür seines Hauses schloß.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor