Abschnitt. 3 - Hans Unwirrsch gehörte in dieser Epoche zu den Glücklichen der Erde. Der Oheim ...

Hans Unwirrsch gehörte in dieser Epoche zu den Glücklichen der Erde. Der Oheim Grünebaum war vollständig versöhnt, und nachdem er anfangs die bekannte sauere Miene gezogen hatte, hatte er jetzt seinen Standpunkt verändert und behauptete, in seiner eigenen Behausung sowohl wie unter dem Dache der Frau Christine und im Roten Bock, er – Nikolaus Grünebaum – sei’s gewesen, welcher dem Neffen den ersten Stoß und Schub auf der Laufbahn der „Gelahrtheit“ gegeben habe; er – Meister Grünebaum – sei’s gewesen, welcher die widerstrebende Nase des Neffen in die lateinischen und griechischen „Lexizizibus“ gestoßen habe. Er fing an, fürchterlich mit seinem Hans zu renommieren, und den Professor Fackler grüßte er stets mit einem gewissen Augenblinzeln, welches nur bedeuten konnte: Na, habe ich es Ihnen nicht gesagt? Habe ich nicht recht gehabt? Vernäht mich als Pechdraht, wenn dieser Junge nicht Euren ganzen Topf voll Weisheit zum Frühstück auslöffelt! Und das sollte ein Schuster werden? Ja, es sollte mir einer damit gekommen sein!
Zu den Glücklichen dieser Welt gehörten auch die Witwe des Meisters Anton Unwirrsch und die Base Schlotterbeck. Sie trieben einen wahren Götzendienst mit ihrem Hans und ergingen sich in kaum weniger ausschweifenden Träumen über seine Zukunft, als die waren, welche Samuel Freudenstein von dem Lose seines Sohnes hatte.
Es war ein Glück, daß Hans keine Anlage zum Stolz und Hochmut hatte, sie wäre sonst durch die übergroße Fügsamkeit und Demütigkeit der beiden dummen Weiblein aufs schönste zur Blüte gebracht worden. Aber hier wie bei andern Gelegenheiten zur Selbstüberhebung brachte der Gedanke an das schwarze Kästchen in der Lade der Mutter den jungen Menschen stets schnell wieder zur Besinnung.
Die Existenz dieses Kästchens war ihm bald nach seiner Aufnahme auf das Gymnasium bekannt geworden.
„Rücke heraus damit, Stine“, hatte der Oheim Grünebaum gesagt. „Stelle es ihm auf den Tisch, Stinchen, daß der Knirps einsehe, was für merkwürdig anständige, verehrungswürdige und politische Personen seine Eltern gewesen sind, daß er sich nach der Decke strecke und daß er nachher seinen Kindern davon erzähle, wie sein Vater und seine Mutter für ihn gehungert haben.“
Hans Unwirrsch hatte damals wenigstens schon geahnt, was dieses Kästchen bedeutete, und je älter er wurde, desto mehr begriff er die Entsagung, den Heroismus, welche darin verborgen lagen. Die beiden Frauen hatten ihn, jede nach ihrer Weise, verworren-klar von seinem Vater erzählt und schmückten ihren Bericht noch täglich mit neuen Zügen. Hans selbst tat das Seinige dazu und schuf sich so ein Bild des toten Mannes, das seine ärmliche Umgebung in wahrhaft magischer Weise verklärte. Des Vaters Kampf mit der Unwissenheit, sein Streben nach dem Höhern, sein Hunger nach dem Ideal hatten eine Fortsetzung in dem Sohne gefunden, und alles, was es Edles in dem Wesen des Toten gab, wirkte viel mächtiger auf den Sohn ein als das, was Samuel Freudenstein seinem Moses geben und sagen konnte.
Früh fühlte Hans, daß er alle Kraft anwenden müsse, die Vorsorge seines Vaters und die Aufopferung seiner Mutter zu verdienen, und daß er keine Gelegenheit, durch eigene Anstrengung sich den Weg durchs Leben weiterzubahnen, versäumen dürfe. Die Wege der Not verwandelten sich ihm in teuere Pflichten, wie das bei allen edleren Naturen der Fall ist. Was für schöne Tage – lächelnde Gesellen in weißen Gewändern, mit Kränzen auf den Häuptern und Lilienstengeln in den Händen – hinter dem dunklen Vorhang auf ihre Zeit warten mochten: die Tage der Gegenwart streuten im Vorüberziehen ebenfalls ihre Blüten aus, und Hans Unwirrsch konnte sie niemals vergessen, wie großes Glück auch später ihm zuteil wurde.
Wie süß war später die Erinnerung an jene Abende, wo die rote Sonnenkugel in den Winternebel versunken war, der Schnee bleich von der Gasse in das Fenster blickte und der Schüler nach einem in fleißiger Arbeit verbrachten Tage neben dem Stuhle der Mutter saß. Wie süß war’s, beim Schnurren des Spinnrades der Mutter, beim Klirren der Stricknadeln der guten Base aus den eigenen Gedanken und den einfältigen Worten der beiden armen Weiblein Luftschlösser zu bauen. Wie süß war’s, für jede Phantasie, für jedes Wort in klassischer oder moderner Zunge zwei so andächtige Zuhörerinnen zu haben, Lauscherinnen, die um so andächtiger wurden, je weiter sich der Redner aus ihrem Gesichtskreis entfernte, je höher er sich erhob über die Dächer der Kröppelstraße und der Stadt Neustadt.
Es war die Zeit gekommen, wo nicht bloß die Kronenträger, die Weisen, Helden und hohen Frauen der Vorwelt durch die Dämmerung der armen, niedern Stube schritten: Hans war ein Mann der großen Welt geworden und blickte durch mehr als eine Ritze und Türspalte in den Haushalt der Weisen, Helden und hohen Frauen, die noch in Fleisch und Blut sich in Neustadt das Leben so angenehm als möglich machten und vor deren Haustüren der arme Knabe sonst nur im Schwarm der Menge gaffen durfte, wenn sie in den Mietwagen stiegen, um zum Ball nach dem Kasino zu fahren.
Dominus Blasius Fackler, welcher als Professor und Doktor der Philosophie die Schlüssel des griechischen und römischen Olymps hielt, hatte durch seine Stellung im Staat und durch seine holdanlächelnde Gattin auch einen Einfluß auf den Neustädter Olymp und benutzte denselben bestens für seinen Schützling. Ein ungezähltes Heer von Grillen und gelehrten Schrullen durchsummte das Hirn des gelehrten Mannes und fuhr dem Unvorsichtigen, der sich ihm von der falschen Seite oder zur unrechten Stunde näherte, ins Gesicht, wie der Chor der Insekten, welchen Mephistopheles aus dem Schlafrocke Fausts schüttelte. Aber der gelehrte Mann war zu gleicher Zeit ein guter Mann und um so mehr imstande, sich in die Seele seines Schülers zu versetzen, weil er ebenfalls ein Sohn der Armut und des Hungers war. Sein Vater, ein Leinweber, hatte nicht einmal sein Leichentuch weben können; er wurde auf öffentliche Kosten eingewickelt und im Armenwinkel verscharrt. Der Professor Fackler hatte einen mühevollen Weg zurückgelegt, ehe er sich auf seinem Lehrstuhl niederlassen konnte; er vergaß die harten Tage seiner Jugend nicht, er machte auch, was ein großer Ruhm vor Gott ist, niemals den Versuch, sie zu vergessen.
Eines Morgens nach der „Tacitus-Stunde“ beschied er Hans Unwirrsch im Feiertagsgewand zu sich, gab ihm ein Glas Burgunder zur Herzstärkung, trug ihm eine für diese Gelegenheit ungemein passende Abhandlung über das Patronen- und Klientensystem bei den Alten vor und führte ihn sodann zu dem Hause eines der honoriertesten Honoratioren der nie genug gelobten Stadt Neustadt. Mit Beben und Herzklopfen folgte ihm Hans durch die Gassen, um dann einem kahlköpfigen Herrn, welcher recht gut die Stelle des königlich westfälischen Kammerlakaien vor Samuel Freudensteins Trödelladen hätte ausfüllen können, von dem Professor als das besprochene Individuum, das augenblicklich die meisten Talente zum Erziehungsfach in seiner Schule verrate, vorgestellt zu werden. Ein höherer Justizbeamter in einem kleinen Staat ist freilich ein gefährlich Ding; aber mit der Zeit gewöhnt man sich doch an seinen Anblick und fühlt sich wieder in seiner Haut sicher. Auch Hans Unwirrsch erhob das Haupt wieder, nachdem der erste Eindruck des Feierlichen, Erhabenen und Geheimnisvollen überwunden war. Mit Eifer suchte er die Befähigung zum Erzieher, die man an ihm loben wollte, an zwei verzogenen Rangen von sechs bis acht Jahren zu betätigen. Was für Erfolge er erzielte, braucht hier nicht erörtert zu werden; aber über andere Eindrücke, welche ihm in dem Hause des Kanzleidirektors Trüffler zuteil wurden, dürfen wir nicht schweigen.
Die Frau Kanzleidirektorin liebte einen großen Verkehr, es gab außer den beiden hoffnungsvollen Söhnen auch einige erwachsene Töchter im Hause, welche zu nicht geringeren Hoffnungen berechtigten. Sie waren die unschuldigen Urheberinnen der neuen Ahnungen, die in Hans Unwirrsch aufgingen, mit welchen neuen Ahnungen und Sensationen übrigens die Dea omnipotens, die Liebe, nichts zu schaffen hatte. Die Personen in ihren modischen Gewändern, deren Fasson um ein Halbjahr von Berlin und um ein Jahr von Paris differierte, waren zu sehr Geschöpfe einer andern Welt, als daß sich das Auge des staubgeborenen Hans anders als in tiefster Demut zu ihnen erhoben hätte.
Aber sie rauschten und schwebten an ihm vorüber, wenn er kam, um seine Lektionen zu geben; er vernahm ihr Klavierspiel, ihr silbernes Gelächter durch halbgeöffnete Türen, sie erschienen ihm unbeschreiblich schön, elegant, vornehm; sie eröffneten ihm den ersten Blick in jene Welt, welche so viele demütige, dumme, hungrige arme Teufel, die sich vergeblich hineinsehnen, die „vornehme“ nennen.
Die Töchter des Kanzleidirektors und ihr Umgangskreis waren schuld daran, daß Hans während eines gottlob nur kurzen Zeitraums Augenblicke hatte, in denen er nicht nur den Oheim Grünebaum gründlich verachtete, sondern in welchen er auch die Base Schlotterbeck zwar für eine gute, aber sehr alberne und langweilige alte Jungfer hielt.
Seltsamerweise war es Moses Freudenstein, der „Primus“, welcher Hans seine Gemütsstimmung klarmachte, sie natürlich aufs schärfste analysierte und ihn dadurch zur Besinnung brachte.
„Ich will dir was sagen, Hans“, meinte er, indem er mit den Augen zwinkerte und die Knie aneinander rieb – eine Gewohnheit, die er von allen anderen Eigentümlichkeiten allein nie ganz ablegen konnte –, „ich will dir sagen, was dich jetzt so grob macht. Neidisch ist der Hans! Es wird ihm eine Tür vor der Nase aufgemacht; aber niemand ruft: Treten Sie ein gefälligst, Herr Unwirrsch. Er muß stehen und zuschauen, wie die andern ihren Spaß haben in der Welt; er muß stehen wie unsereiner. Nicht den Mund darf er auftun; und wenn er grüßt und man dankt nicht, muß er auch zufrieden sein. Mein Fräulein, darf ich um den nächsten Walzer bitten, darf er schon gar nicht sagen; – er kann nicht einmal tanzen – er wird es auch niemals lernen, aber ich werde es lernen!“
Das letzte sagte der Sprecher mit einem merkwürdigen Nachdruck und fügte bei: „Werde aber nicht tanzen mit diesen naseweisen Äffinnen, Hans Unwirrsch; – sieh mich also nicht an wie ein Bär. Ich bitte dich, friß mich nicht.“
Die beiden Freunde kamen von einem Spaziergange heim und näherten sich eben der Kröppelstraße, als Moses an viele andere Auslassungen über das Volk von Neustadt diesen Schluß hing. In die dunkle Gasse fiel der Schein der Lampe durch die niedern Fenster des Vaterhauses. Hans ließ den Arm des Genossen los und eilte schneller voran. Er blickte in das Fenster, die glänzende Kugel schwebte über dem Werktisch des Vaters; in dem Lehnstuhl saß die Mutter und hielt die Hände über dem Strickzeug im Schoß gefaltet: sie schlummerte, oh, sie sah so müde aus, so abgearbeitet müde, müde! Die Base Schlotterbeck hatte die große Bibel vor sich liegen, fuhr mit dem Finger den Zeilen nach und nickte nach ihrer Art mit dem Kopfe. Hans Unwirrsch fuhr heftig zusammen, als Moses sich schwer ihm auf die Schulter hing und seine scharfe Nase ebenfalls gegen die trübe Scheibe vorschob. Er schüttelte ihn durch eine hastige Bewegung ab und sagte ihm kürzer als sonst gute Nacht.
Welch eine Zaubermacht lag in der schwebenden Glaskugel? Sie verklärte die Welt mit den schönsten Farben, und doch konnte sie auch jedes Ding wieder in das rechte Licht stellen. Wir können dreist unsern Hans bei ihrem Schein seine Luftschlösser bauen lassen.–

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor