Abschnitt. 2 - Moses Freudenstein und Hans Unwirrsch gingen ihren Weg durch die verschiedenen ...

Moses Freudenstein und Hans Unwirrsch gingen ihren Weg durch die verschiedenen Klassen, aber in beiden haben wir dem Leser zwei Ausnahmen des Schülerlebens vor die Augen stellen müssen. In einer Ausnahmestellung befand sich Moses schon durch seine Nationalität und seine Religion, welche ihn hinderten, in dem Gemeinwesen des Gymnasiums gleichberechtigt mitzu“taten“ und mitzu“raten“; der Sohn der Witwe aber wurde durch seine Armut gezwungen, dem fröhlichen Gewimmel fernzubleiben. Wie früher gingen auch jetzt die beiden Freunde aus der Kröppelstraße vereinsamt auf einem Seitenpfade und warteten auf den Stundenschlag, durch welchen sie in die Mitte des Getümmels der Welt gerufen werden sollten.
Aus dem Dachstübchen, der Polterkammer, in welche sich einst der Meister Anton am Geburtstage seines Sohnes aus dem Weibertumult rettete, hatte Hans seine Studierstube gemacht. Hier hatte er seine wenigen Bücher und sein Tintenfaß aufgestellt, hier war er ein glücklicher Herrscher im Reich der Gedanken und Träume und hielt Zwiesprache mit allen Geistern, die er heraufbeschwören konnte. Harte Kämpfe kämpfte er hier mit den Wächtern, die vor den Pforten jeder Wissenschaft liegen, und überwältigte mit Schweiß und unsäglicher Mühe das, über was der semitische Grammatiker Moses spielend hinwegschritt. Letzterer hatte den Vorteil, daß die Phantasie sich ihm nicht hindernd in den Weg stellte. Geradeaus ging er mit klarem Kopf und scharfen Augen; die verlockenden Wege, die seitab ins Grüne, aber auch in die wirre Wildnis führen, waren für ihn nicht da. Moses Freudenstein sah nicht, während der Doktor Fackler die schwierigen Satzbildungen des Thucydides konstruierte, hinaus auf die blauschimmernde Fläche des Ionischen Meeres, sah nicht auf der Meereshöhe die weißen Segel von Korzyra auftauchen, sah nicht die hundertundfünfzig Schiffe der Korinther von Chimerium heranschweben. Wenn der Professor von den Thraniten, Zygiten und Thalamiten, den Arten der Ruderer, sprach, so vernahm Moses Freudenstein nicht ihr Jauchzen, wie die Flotten aufeinanderstießen. Er vernahm nicht den Befehlruf der Stolarchen, das Krachen der Schiffsschnäbel, das Triumphgeschrei des Siegers, das Wehgeheul des Sinkenden; er sah nicht die blaue Flut rotgefärbt, sah sie nicht bedeckt mit Trümmern und Leichen; und wenn der Professor plötzlich eine Frage an ihn richtete, so fuhr er nicht ratlos und beschämt auf wie der arme Hans Unwirrsch, der all das eben Geschilderte sah und hörte, der aber ganz und gar vergessen hatte, daß es sich weniger um die Schlacht am Vorgebirge Leukimme und den Beginn des Peloponnesischen Krieges als um die Ansicht des Professors Fackler über die Konstruktion mit ?? handelte.
Der Professor schüttelte jedoch bei solchen Gelegenheiten nur ganz leise den Kopf, ohne eine der trefflichen Reden zu halten, die er sonst so gern von sich gab. Seit an jenem längst vergangenen Sonntagmorgen das verweinte, stammelnde Bürschlein in den zu langen Hosen und der zu engen Jacke vor ihm erschienen war, hatte es stets bei ihm einen Stein im Brette gehabt; er hatte den Knaben auf seinem Wege durch die Klassen seiner Hohen Schule nicht aus den Augen verloren; er wußte, daß es von Übel sein würde, den scheuen Jüngling noch mehr zu verschüchtern, und nahm vielleicht ein regeres Interesse an ihm als an irgendeinem andern seiner Schüler. Vor Moses Freudenstein schien sich der gute Mann ein wenig zu fürchten; aber Gerechtigkeit ließ er ihm ebenfalls widerfahren.–
Einen flüchtigen Blick haben wir bereits in das Hinterstübchen des Trödlerhauses geworfen; jetzt müssen wir uns näher damit bekannt machen. Es war so dunkel, wie man es nur von einem Gemach, das auf einen so schmutzigen und dunklen Hof hinaussah, erwarten konnte. Feuchte Mauern sperrten jeden frischen Hauch von seinen niederen Fenstern ab, und der Sonnenschein war wirklich künstlich ausgeschlossen von dem Baumeister, der im angenehmen Mittelalter sicher Wirklicher Geheimer Verliesbaurat geworden wäre. Den dunkelsten Winkel in diesem Gemach nahm die alte Haushälterin ein; auf der Grenze zwischen Nacht und Dämmerung stand der Tisch und Sessel des Vaters Samuel, und in der Dämmerung des Fensters stand Moses’ Tisch und Stuhl.
Die schwarzen Haare zerwühlend, saß hier Moses, immer mehr beschäftigt, die bunte Mannigfaltigkeit des Lebens aufzulösen und sie in die Fächer einer unbarmherzigen Logik zu ordnen. Je mehr Wissen er aufhäufte, desto kälter wurde sein Herz; mit höhnischem Spott erdrosselte er den letzten Rest warmer Phantasie, der ihm geblieben war. Nicht Werkzeug zum Nutzen und Genuß für sich und die Welt schuf er; Waffen, nur Waffen gegen die Welt schmiedete er, und keinen Augenblick der Ruhe, des Atemholens gönnte er sich bei der Arbeit.
Der alte Vater rieb hinter seinem Geldkasten frohlockend die knöchernen Hände, wenn er auf seinen Sohn blickte.
„Er wird seinen Weg gehen“, murmelte er. „Er wird herausbrechen wie das Licht und wird seinen Rücken nicht beugen, wenn die rechte Zeit gekommen ist. Ich werde es erleben, daß die Gojim sich vor ihm neigen; Gott Abrahams, ich werde sitzen im Dunkeln, aber mein Herz wird lachen und sich freuen!“
Der Vater Samuel hatte seine Phantasie nicht ertötet wie Moses; sie trug ihn auch hochhinauf, sie trug ihn weithinaus über seine verborgene, gedrückte, dunkle Existenz, kosend wiegte sie ihn in den Traum und häufte auf das Haupt seines Kindes allen Glanz, alle Würden und Ehren der Welt. Moses Freudenstein verachtete aber seinen „halbkindischen“ Vater ganz im stillen sehr, wenn er auch seine Meinung jetzt noch nicht laut äußerte.
Das Verhältnis zwischen Hans und dem Sohn des Trödlers blieb äußerlich dasselbe; aber nur Hans glaubte noch als Pylades an Orest. Moses übersah den Jugendgenossen, und da er keinen Grund hatte, ihn in irgendeiner Hinsicht zu fürchten oder zu beneiden, so ließ er sich die Zuneigung desselben gefallen, ohne aber einen bedeutenden Wert darauf zu legen. Ein schärferes Auge als das des armen Hans würde dieses bald entdeckt haben; doch Hans gab eine Illusion nicht so leicht auf wie Moses, und so hielt er auch den Glauben an diese Freundschaft fest. Manche gute Lebensstunde brachte er in dem dunklen Hinterstübchen zu; aber soviel warmes Licht er aus seinem Kreise hineintrug, es konnte den dunklen Raum nicht heller, es konnte das kalte Herz des Jugendgenossen nicht wärmer machen. Zu allem andern kam noch ein ganz besonderer Reiz, durch welchen er in jedem freien Augenblick zu dem Trödlerhause hinübergezogen wurde. Seit sein Sohn wirklich auf dem Wege war, ein gelehrter Mensch zu werden, hatte Samuel Freudenstein seinen Bücherhandel erweitert. Es verging kaum ein Tag, an welchem er nicht einen Haufen alter Scharteken in Schweinsleder, Franzband oder Pappband in das Hinterstübchen schleppte und um den Arbeitstisch seines Sohnes aufhäufte. Wenn nun Moses den größten Teil dieser Bücher als unnützen Plunder verächtlich beiseite schob, so wühlte Hans mit gieriger Wonne darunter und verschlang alles durcheinander, wie es ihm in die Hände fiel. Griechische und lateinische Klassiker, Reisebeschreibungen, moderfleckige, abstruse Theologie, vergessene philosophische Traktate, moderne inländische und ausländische Dichter waren ihm gleichwillkommen, wenn auch nicht gleichgeschätzt. Es gab fast keinen Tröster, über den nicht sein Geist sich aus der Gegenwart verlieren konnte, um im blauen Äther, der über den Dingen ist, träumerisch lächelnd zu schweben, bis ihn die metallscharfe Stimme des Freundes durch eine ironische Frage oder Bemerkung wieder herabzog in die dunkle Stube in der Kröppelstraße, die dunkle Stube mit der schönen Aussicht auf den schwarzen Hof, über welchen so viele schnelle und feiste Ratten liefen. Der sinnreiche Junker Don Quijote de la Mancha allein hob unsern Hans vergnügt über einen ganzen, langen Winter hinaus, und die Schillerschen und Goetheschen Dichtungen, die hinunter in die dumpfige, dunkle Stube gerieten, waren imstande, alle Regentage des Lebens in ein olympisches Sprühen von Goldsonnenfunken zu verwandeln.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor