Abschnitt. 1 - Die Pforte, die sich nun vor unserm Hans geöffnet hatte, führte, wie jeder, ...

Die Pforte, die sich nun vor unserm Hans geöffnet hatte, führte, wie jeder, welcher durch sie schritt, weiß, nicht gleich in die weiten, hohen, herrlichen Säle, wo die weißen Marmorgestalten, die aus dem Schutt der klassischen Welt aufgegraben wurden, feierlich die Wände entlangstehen. Sowohl Hans als Moses fanden das sehr bald aus, doch ersterer hatte mit dem Faktum bitterer zu kämpfen als der letztere. Verwirrt und bestürzt stolperten beide auf der heiligen Schwelle und rutschten durch den abschüssigen Gang des Vokabulariums hinab in das grauenvolle Labyrinth der Deklinationen und Konjugationen, in welchem der Kollaborator Klopffleisch als erbarmungsloser Minotaur auf seine Opfer wartete. Aber Moses Freudenstein fand sich schnell wieder auf den Füßen, während Hans Unwirrsch noch längere Zeit kläglich auf seinem Hinterteil sitzenblieb und verloren, verraten und verkauft um sich starrte. Die schnelle Fassungsgabe, das treffliche Gedächtnis des jüdischen Knaben hoben ihn schnell über die ersten Schwierigkeiten der gelehrten Laufbahn weg, und nur mühsam und keuchend konnte Hans ihm folgen.
Doch Wille ist Werk, und Hans Unwirrsch hatte den besten Willen, seinen Freund nicht aus den Augen zu verlieren; alle Kraft setzte er daran, und der Kollaborator Klopffleisch respektierte bald den Willen seines Schülers.
Glückliche Jahre! Ach wenn sie nur nicht so schnell vorüberrauschten, o Posthumus, liebster Posthumus!
Eben schien noch die heiße Julisonne durch die Fenster der Quinta auf unsere Köpfe, und wir schwitzten zu allem andern Schweiß dicke Angsttropfen über der zerlesenen Grammatik, während die Vögel draußen in den Bäumen uns auslachten und die Fliege, die frei über das blaue Heft spazierte, die frech um die Nase des Magisters summte, uns ein beneidenswertes Tier dünkte! Nun ist es schon Winter, Schnee liegt auf dem Boden und den Dächern und wird vom freien, lustigen Wind gegen die Fenster der Quarta gewirbelt. Der Wind und die tanzenden Flocken höhnen uns nicht weniger als die Sommervögel und die Fliegen; es gewährt uns nur eine sehr mangelhafte Genugtuung, daß wir uns nach Herzenslust über den Kornelius Nepos aufhalten dürfen, weil er seine Vorrede mit einem grammatikalischen Fehler anfängt und nun dubito nicht mit quin konstruiert. Eine ganz andere Befriedigung würde es uns geben, wenn wir dem edlen Römer draußen auf dem Marktplatz die Qualen und den Jammer, welche er über so manche Generation von Schulbuben gebracht hat, durch einen tüchtigen Hagel von Schneebällen heimzahlen könnten. O Posthumus, wie schnell rauschen die Jahre! Eben saßen wir noch als Tertianer wie junge Affen flegelhaft, zähnefletschend und schnatternd im Baum der Wissenschaften und fanden wenig Geschmack an den vielgepriesenen Früchten besagten Baumes: nun ist das auf einmal ganz anders geworden. Wir werden in der Sekunda mit „Sie“ angeredet; weit in nebelgrauer Ferne liegt jene Zeit, wo wir selbst des Nachts in unseren Träumen nicht vor dem Rohrstock des Kollaborators Klopffleisch sicher waren; – wir haben unter den Folgen der ersten Zigarre schauerlich, aber heldenhaft gelitten; einige von uns erweitern ihre Ansicht von ihrer gesellschaftlichen Stellung und Würde dadurch, daß sie Brillen von Fensterglas aufsetzen; wir fangen an, vor den Fenstern der ersten Klasse der Mädchenschule Parade zu machen, und einen Hauptgegenstand unserer Unterhaltung bilden die Vorfälle der Tanzstunde. Grinsend stoßen wir einander unter den Tischen die Fäuste in die Seite, wenn der Konrektor Gnurrmann über einzelne Stellen und Szenen klassischer Dichtung schnell hinweggleitet oder sie ganz überschlägt; – wir haben diese Stellen natürlich längst und gründlich studiert und halten sie für die besten im Buche, und es ist ein Wunder, wenn unser Exemplar der Odyssee nicht stets da auseinanderfällt, wo Demodokos den Phäaken zur klingenden Harfe den schönen Gesang „über des Ares Lieb und der reizenden Aphrodite“ singt. Es ist ein Glück, daß wir das andere Geschlecht in dieser blöden, bärenhaften Epoche unseres Daseins so sehr fürchten, daß das, was uns zum erstenmal so geheimnisvoll, so unverständlich wunderlich anzieht, uns zu gleicher Zeit in so respektvolle Entfernung zurückstößt. O selige Zeit, wo wir, ein Zwitterding vom Knaben und Jüngling, im Grunde genommen mit unserem Dasein nicht das mindeste anzufangen wissen und zwischen Verständigkeit und Unsinn angenehm für uns, sehr unangenehm aber für unsere lieben erwachsenen Angehörigen in der Schwebe hängen.
Ganz anders sieht sich Welt und Leben von den Bänken der Prima an. Selbstgefühl entfaltete sich schon im vorigen Stadium im reichlichsten Maße in unserer Brust; jetzt steht es in voller Blüte, wir werden sehr kitzlig im Punkt der Ehre. Der „erworbene“ Charakter entwickelt sich nun immer schneller, bei manchem steht er bereits vollkommen fest. So recht zufrieden sind wir freilich nicht mehr mit unserm Zustand; das Studententum lockt in zu großer Nähe, und fester noch als unser Charakter steht in unserer Seele die Form des Bartes, den wir in Jena oder Göttingen tragen werden. Unsere Stimme schnappt nicht mehr über, wohl aber öfter unsere Ansicht von der Achtung, welche uns die Herren Lehrer schuldig sind; es kann vorkommen, daß unsere Anschauung in diesem Punkte allzusehr von der des Professors Fackler abweicht und daß wir in schnöder Weise deshalb vom Maturitätsexamen zurückgesetzt werden.
O Posthumus, Posthumus, was würden wir darum geben, wenn wir die Jahre zwischen dem zehnten und dem zwanzigsten noch nicht hinter uns hätten! Sie hatten ihre Leiden und Ängste; aber wir sprechen doch am liebsten von ihnen, wenn wir grauköpfig, kahlköpfig abends im Goldenen Löwen oder Silbernen Lamm, im Kasino oder in der Harmonie unsere Stühle zusammenrücken und den Staub des Berufs abschütteln oder hinunterspülen! Wir vergessen darüber die Stunde, in welcher die Frau uns daheim erwartet, wir vergessen darüber die Aktenstöße, die sich um unseren Schreibtisch türmen, die Nase, welche wir heute von einem hohen Vorgesetzten erhielten; wir vergessen darüber unsern Rheumatismus, unsere heiratsfähigen Töchter und unsern Hausherrn, der uns wieder um ein Drittel des Mietzinses gesteigert hat. Nur mit Mühe können wir bei der Nachhausekunft unserm ältesten Schlingel Eduard, welcher heute einen zwölfstündigen Karzer absaß, den gebührenden Ernst zeigen. Wir haben in demselben Karzer gesessen, und wenn seitdem die Wände nicht geweißt worden wären, so hätte unser hoffnungsvoller Sprößling mehr als eine der damaligen Lebensmaximen seines Erzeugers darin finden können. Aber die Wände sind glücklicherweise geweißt, und die Porträts des Oberlehrers Säger, welche damals unser Mitdulder Fritze Scharfnagel ebenso kühn als geistreich entwarf, sind heute durch ebenso kühne als geistreiche Karikaturen auf den Oberlehrer Dr.Scharfnagel ersetzt.
Eheu fugaces, Posthume, Posthume,
Labuntur anni!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor