Abschnitt. 3 - Die Melodie: Guter Mond, du gehst so stille, muß in der Tat eine sehr besänftigende ...

Die Melodie: Guter Mond, du gehst so stille, muß in der Tat eine sehr besänftigende Wirkung auf die menschlichen Gefühle ausüben; der Oheim Grünebaum pfiff sie schmelzend, solange die Base Schlotterbeck redete, und wie großer Zorn auch in seinem Busen kochen mochte, die Welt bekam nichts davon zu sehen. Hans Unwirrsch, mit seinem Bücherränzel aus der Schule heimkehrend, fand die beiden Frauen in sehr erregter Stimmung, mit hochroten Gesichtern, und den Oheim sehr gefaßt, gleichmütig und kühl; – er ahnte wohl, wovon wiederum die Rede gewesen war, aber selten erfuhr er etwas Näheres über die Verhandlung.
Gewöhnlich nahm der Oheim Abschied, indem er einen Choral oder sonst eine schwermütige Weise flötete und dabei den armen Hans grinsend in das Ohr kniff; Mephistopheles hätte ihn um sein Lächeln beneiden können, und die Frauen fielen nach seinem Abmarsch gewöhnlich matt und gebrochen auf die nächsten Stühle und waren für mehrere Stunden unfähig, an die menschliche und göttliche Gerechtigkeit zu glauben.
Im Kornfelde blitzte und klang die Sense: der Oheim Grünebaum hatte noch immer nicht nachgegeben. Allerlei Früchte lösten sich, ohne daß der Wind wehte, von den Zweigen und fielen herab: der Oheim Grünebaum hielt seine Meinung hartnäckiger als je fest. Silberne Fäden umspannen die Welt und schwebten durch die Luft: der Oheim Grünebaum schwebte nicht mit, sondern lachte Hohn von seinem niedrigen Dreifuß. Bunt und immer bunter färbte sich der Wald, aber des Oheim Grünebaums Ansicht von Welt und Leben hielt Farbe. Moses Freudenstein brüstete sich immer stolzer in seinem Triumphe, und Hans Unwirrsch sah immer kläglicher und trübseliger drein. Die Singvögel flöteten ihre letzten Weisen und rüsteten sich zur Abreise nach Süden: der Oheim Grünebaum flötete auch, aber er blieb im Lande und nährte sich redlich, denn er war zu sehr überzeugt, daß er nicht zu entbehren sei in Neustadt, im Roten Bock und in seiner Familie. Kein Deus ex machina stieg herab, dem armen Hans Hilfe zu bringen, und so blieb ihm zuletzt nichts weiter übrig, als sich selber zu helfen. Er führte einen Plan aus, der längerer Zeit bedurft hatte, um in seiner kleinen Brust zu reifen, setzte dadurch die Base und die Mutter in schwindelnde Verwunderung und brachte den steifnackigen Oheim Grünebaum vollständig aus der Fassung.
An einem Sonntagmorgen zu Anfang des Septembers hatte der Gymnasialprofessor und Doktor der Philosophie Fackler das Reich allein in seinem Haus und fühlte sich geborgen, behaglich wie selten in seiner Studierstube. Die Frau Professorin und Doktorin befand sich mit ihren beiden Töchtern in der Kirche und bat höchstwahrscheinlich den lieben Gott um Verzeihung für die unruhigen Stunden, welche sie dann und wann dem „guten Mann“, d.h. ihrem Gemahl und Herrn bereitete. Die Magd hatte sich in Privatangelegenheiten entfernt: still war das Haus, ein grauer Tag blickte freilich in die mit Tabakswolken gefüllte Studierstube, aber die freudige Seele des Professors wandelte auf blauem Gewölk mit dem Liederbuch des Quintus Valerius Catullus und schlürfte die wonnigen Minuten der Freiheit –
Vivamus, mea Lesbia, atque amemus,
rumoresque senum severiorum
omnes unius aestimemus assis.
Am See Benacus lustwandelte er im Schatten der Granatbäume und Pinien auf der glückseligen Halbinsel Sirmio, und die funkelnden Verswellen des römischen Dichters spülten jeden Gedanken an die Gegenwart und jene Lesbia, die augenblicklich in der Kirche scharf und schrill mitsang, in das Nichts hinab. Er überhörte den Klang der Haustürglocke, vernahm nicht den ängstlich leisen Schritt, der die Treppe emporstieg; er fuhr erst auf, als etwas leise an seiner Tür kratzte und klopfte. Schnell verbarg sich der lateinische Schalk Katull unter einem Haufen ernstern gelehrten Rüstzeugs, und würdig rief der Professor und Doktor der Philosophie:
„Herein!“
Niemand folgte der Einladung, und lauter wurde sie wiederholt, aber auch dieses Mal ohne Erfolg. Verwundert erhob sich der Gelehrte aus seinem Sessel, zog seinen langen Schlafrock fest um sich und ließ nun mit noch größerer Verwunderung ein winziges Bürschlein von ungefähr elf Jahren in seine Studierstube, ein Bürschlein, das an allen Gliedern zitterte und dem die Tränen über die Backen liefen. Niemand war bei der Unterhaltung, welche dieser Besucher mit dem Herrn Professor Fackler hatte, zugegen, und die Einzelheiten des Gesprächs können wir nicht angeben. Nur das können wir sagen, daß die aus der Kirche mit den holden Pfändern der „tausend und aber tausend Küsse“, ihren beiden Töchtern, heimkehrende Lesbia ihren Gatten in einer sehr vergnügten Stimmung fand. Er trug ihr nicht die Aufmerksamkeit entgegen, welche sie von ihm erwartete, sondern fuhr fort, weitbeinig in der Stube auf und ab zu laufen und zu murmeln:
„Seh einer! – Ein wackerer kleiner Kerl! – Puer tenax propositi! – Er soll seinen Willen haben! – Bei allen olympischen Göttern, er soll erreichen, was er will, und möge es zu seinem Heil sein!“
„Was soll zum Heil sein? Wem soll was zum Heil sein, Blasius?“ fragte Lesbia, ihr Gesangbuch weglegend.
„An der Ferse soll jemand genommen und in den Styx soll er getaucht werden, Beste, auf daß er gegen der Welt Bedrängnisse gefeiet sei und als Sieger aus der Männerschlacht hervorgehe.“
„Du hast heute wieder deinen albernen, unverständlichen Tag, Blasius!“ rief die Frau Professorin ärgerlich und sah dabei aus, als habe sie Lust, den Gemahl tüchtig durchzuschütteln. Glücklicherweise jedoch sprangen in diesem Augenblick Eugenia und Kornelia herein und hingen sich mit allerlei kindlichen Fragen und Bitten an den Papa. Dieser wies auf die Mutter und zitierte dumpf: „Jove tonante, fulgurante comitia populi habere nefas“, zog den Rock an, setzte den Hut auf, nahm den Stock, ging aus und – stattete dem Oheim Grünebaum einen Besuch ab. Der Oheim Nikolaus Grünebaum aber hielt zu seiner eigenen „höchsten Perplexität“ am Nachmittag in der Kröppelstraße eine lange, schöne Rede, zu welcher die Base Schlotterbeck einen ausgezeichneten Kaffee gebraut hatte, und expektorierte sich ungefähr folgendermaßen:
„Sintemalen denn ein Schuster ein nobles und ehrerbietiges Geschäft ist, aber dennoch so können nicht alle Menschenkinder Schuster werden, sondern es muß item noch anders Volk geben, Schneider, Bäcker, Zimmerlinge, Maurer und dergleichen, auf daß für jedes Gefühl und Sentiment gesorgt werde und kein Sinn ohne die nötige Bedeckung bleibe. Weilen es aber auch noch andere Bedürftigkeiten in der Welt gibt und der Mensch viel nötig hat, ehe und bevor er nichts mehr nötig hat, so gibt es auch item Advokaten und Doktors mehr als zuviel und dazu Professors, Pastöre mehr als genug. Aber der Herrgott läßt’s gehen, wie’s will, und der Deibel nimmt die Graden und die Ungraden, was soviel heißen soll als: ein Junge, der sich sein Geschäfte aussuchen will, der soll sich sehr vorsehen und bedenken, wozu ihm die Nase steht, denn es hat sich schon mehr als einmal zugetragen, daß der Esel meinte, er könne die Laute schlagen. Aber einen Stiebel kann auch nicht jeder machen, es ist nicht so leicht, als es sich ansieht. Nun ist hier vorhanden Christine Unwirrsch, weiland Anton Unwirrschs Witfrau, und zweitens die unverehelichte Base Schlotterbeck, auch ein sehr gutes Spezifikum von gesundem Menschenverstand und natürliche Begabung. Ferner ist gegenwärtig Meister Niklas Grünebaum, als wie ich selber, ohne Rühmens auch nicht auf den Kopf gefallen, sondern ganz adrett auf die Füße. Vor sie drei aber steht das Geschöpfe, um das es sich handelt, Hans Jakob Unwirrsch, was wenigstens sich als einen Jungen von Kurasche demonstriert hat und seine liebe Anverwandtschaft hinterrücks ein Bein gestellt hat. Solch ein Knirps!“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor