Abschnitt. 2 - Ein zweites Kästchen stand neben dem ersten, ein altes Ding von Eichenholz, ...

Ein zweites Kästchen stand neben dem ersten, ein altes Ding von Eichenholz, eisenbeschlagen, mit festem Schloß, eine künstliche Arbeit aus dem siebenzehnten Jahrhundert, welche schon seit Generationen im Besitz der Unwirrsche gewesen war. Diesen Kasten trug die Frau Christine zum Tisch, und ehe sie ihn öffnete, legte sie erst in der Lade alles wieder sorgsam an seinen Platz; sie liebte die Ordnung in allen Stücken und übereilte selbst auch jetzt nichts.
Hellen Glanz gaben die kleine Lampe und die schwebende Glaskugel, aber das altersschwarze Kästchen auf dem Tische überstrahlte sie doch, sein Inhalt sprach lauter von der Köstlichkeit der Elternliebe, als wenn ihr Preis unter dem Schall von tausend Trompeten auf allen Märkten der Welt verkündet worden wäre. Das Schloß sprang auf, und der Deckel schlug zurück: Geld enthielt der Kasten! – viel, viel Geld – silberne Münzen von aller Art und sogar ein Goldstück, eingewickelt in Seidenpapier. Reiche Leute hätten mit Recht über den Schatz lächeln können, aber wenn sie jeden Taler und Gulden nach dem wahren Wert hätten bezahlen sollen, so würde vielleicht all ihr Reichtum nicht genügt haben, den Inhalt des schwarzen Kastens auszukaufen. Mit Schweiß und Hunger war jede Münze gewonnen worden, und tausend edle Gedanken und schöne Träume hingen daran. Tausend Hoffnungen lagen in dem dunkeln Kästchen, sein edelstes Selbst hatte der Meister Anton darin verborgen, und all ihre Liebe und Treue hatte Christine Unwirrsch hinzugelegt.
Wer sah das dem ärmlichen Häuflein abgegriffener Geldstücke an?
Ein kleines Buch, bestehend aus wenigen zusammengehefteten Bogen grauen Konzeptpapiers, lag neben dem Geld; des Vaters Hand hatte die ersten Seiten mit Buchstaben und Zahlen gefüllt, dann aber hatte der Tod den Schlußstrich unter des wackeren Meisters Anton Rechnung gezogen, und nun hatte bereits durch lange Jahre die Mutter Buch gehalten auf Treu und Glauben ohne Buchstaben und Ziffern, und die Rechnung stimmte immer noch.
Wie oft hatte sich die Frau Christine Unwirrsch hungrig zu Bett gelegt, wie oft hatte sie allen möglichen Mangel erduldet, ohne der Versuchung, die Hand nach dem schwarzen Kästchen auszustrecken, zu unterliegen! In jeder Gestalt war die Not an sie herangetreten in ihrer kümmerlichen Witwenschaft, aber heldenhaft hatte sie Widerstand geleistet. Auch ohne Schriftzeichen und Zahlenzeichen konnte sie in jedem Augenblick Rechenschaft ablegen; – sie trug keine Schuld, wenn aus dem schwarzen Kästchen nicht die glückliche, ehrenvolle Zukunft, die der Tote für seinen Sohn erträumt hatte, emporstieg.
Länger als eine Stunde saß die Frau Christine in dieser Nacht vor dem Tisch, zählte an den Fingern und rechnete, während drüben im Hinterstübchen des Trödlerhauses ebenfalls ein Mann rechnend und zählend saß. Auch Samuel Freudenstein wachte für seinen schlafenden Knaben. Manche Rolle mit Goldstücken, manche Rolle mit Silberstücken lag vor ihm; er hatte mehr in die Waagschale des Glückes seines Kindes zu werfen als die arme Witwe.
„Ich will ihn wappnen mit allem, was eine Waffe ist!“murmelte er. „Sie sollen ihn finden gerüstet auf allen Seiten, und er soll ihrer spotten. Ein großer Mann soll er werden; er soll alles haben, was er will. Ein Knecht war ich, er soll ein Herr sein im fremden Volk, und leben will ich in seinem Leben. Einen guten Kopf, ein scharfes Auge hat er; er wird seinen Weg gehen. Er soll gedenken an seinen Vater, wenn er ist angekommen auf der Höhe; leben will ich in seinem Leben.“
Die Witwe teilte ihren kümmerlichen Tageslohn in zwei Teile. Der größte derselben fiel in das Kästchen von Eichenholz zu den andern Ersparnissen so langer, mühevoller Jahre, und einen hellen Klang gaben die schlechten Münzen. Mehr als hundert blanke Taler legte Samuel Freudenstein zu dem Vermögen seines Sohnes; niemand in der Kröppelstraße hatte eine Ahnung davon, welch ein reicher Mann der Trödler allmählich wieder geworden war.
Aus der Kammer der Witwe war der Mondschein gänzlich wieder verschwunden, als die Mutter fröstelnd zurückschlich aus der Stube. Noch immer schlief Hans Unwirrsch fest und erwachte auch nicht von dem Kuß, den die Mutter auf seine Stirn drückte. Auch die Lampe erlosch, und die Frau Christine schlief bald so sanft wie ihr Kind. Um das Bett des Königs Salomo standen mit Schwertern in den Händen sechzig Starke, geschickt zum Streiten, „um der Furcht willen in der Nacht“; zu Häupten der Witwe und ihres Kindes jedoch stand ein Geist, der bessere Wache hielt als alle Gewappneten in Israel. –
Fast den ganzen Sommer hindurch dauerte der Kampf gegen den Oheim Grünebaum. Einen so hartnäckigen Schuster hatte die Welt lange nicht gesehen. Tränen, Bitten und Vorstellungen erweichten, rührten und überzeugten ihn nicht. Ein Mann, der es mit den sieben weisen Meistern in jeder Beziehung aufnahm, ließ sich durch zwei alberne Weibsbilder und einen dummen Jungen so leicht nicht seinen Standpunkt verrücken. Beschlossen hatte er in seiner zottigen Männerbrust, daß Hans Unwirrsch wie alle anderen Unwirrsche und Grünebäume ein Schuster werden müsse, und mit höhnischem Gepfeife schlug er alle Angriffe auf seinen Verstand, seine Vernunft und sein Herz zurück. Es verging kaum ein Tag, an welchem er nicht die Base Schlotterbeck aus ihrer Gelassenheit herausflötete. Je mehr sich die Frauen ärgerten, je hitziger sie in ihren Argumenten, je schärfer sie in ihren Worten wurden, desto melodiöser wurde der Oheim Grünebaum. Mit einer mutigen, kriegerischen Weise begleitete er gewöhnlich den Anfang jeder neuen Unterhandlung, und unter den schmelzendsten, sehnsüchtigsten Melodien brachte er sie ergebnislos zu Ende.
„Gevatter, Gevatter“, rief die Base, „wenn das Kind unglücklich wird, so ist’s Eure Schuld – Eure Schuld allein! Solch ein Mensch wie Ihr ist mir in meinem ganzen, lieben, langen Leben nicht vorgekommen.“
Ob nun das Lied vom Prinzen Eugen zur Beantwortung dieser Anmahnung gesungen worden war, konnte einigem Zweifel unterliegen: der Meister Grünebaum wie „selber ein Türke!“ pfiff es.
„O Niklas“, rief die Schwester, „was bist du für ein Mann! Es ist ein so gutes Kind, und seine Lehrer sind so mit ihm zufrieden, und sein Vater hat’s gewollt, daß er alles lernen solle, was es zu lernen gibt. Denke an Anton, Niklas, und gib dich, ich bitte dich herzlich drum.“
Der Oheim Grünebaum gab sich noch lange nicht. Er drückte den Gedanken, daß die Schusterei ebenfalls ein schönes, nachdenkliches, gelehrtes Geschäft sei und daß das Handwerk einen goldenen Boden habe, sehr bezeichnend, durch die Melodie: Die Leineweber haben eine saubere Zunft, aus, ließ sich aber auf Weiteres nicht ein.
„Pfeife Er nur!“ schrie die Base, erbost die Arme in die Seite stemmend. „Pfeife Er nur zu, Er Narr! Ich aber sage Ihm, Er mag sich nur auf den Kopf stellen, das Kind soll doch auf die Hohen Schulen und Universitäten. Sitze Er nur wie ein geblendeter Gimpfel, pfeife Er nur zu. Base Unwirrsch, heule Sie nicht, tue Sie ihm nicht den Gefallen, er hat nur seine abscheuliche Lust daran. Solch ein Tyrann! Solch ein Barbare; und es ist doch Ihr Kind, Base, nicht seins! Aber der liebe Gott wird schon ein Einsehen haben, lasse Sie nur die Schürze vom Auge, Base. Pfeife Er jetzt nur zu, Gevatter, aber verantworte Er nachher es auch und überlege Er sich, was Er einst dem Meister Anton da oben sagen will!“
Es schien, als ob der Oheim Grünebaum sich dereinst bei seinem seligen Schwager durch das schöne Lied: Saß ein Eichhorn auf dem Heckendorn, verantworten wolle, wenigstens pfiff er es nachdenklich und gerührt und drehte dazu die Daumen umeinander.
„O Niklas, was für ein hartherziger Mann du bist!“ schluchzte die Schwester. „Die Base hat ganz recht, du wirst es nicht verantworten können, was du an deines Schwagers Kind tust.“ –
„Und lieber noch ‘n Lumpensammler als solch ein lumpiger Flickschuster, der dem lieben Gott seine Tage im Roten Bock auf der Bierbank abstiehlt. Und solch eine Kreatur will sich dagegen setzen und hinten ausschlagen, wenn ein armes Kind über ihr hinauswill! Wenn er sich nur die Hände waschen und die Haare kämmen wollte, der Mann; ich möchte den sehen, welchem es eine Ehre wäre, ihn zum Vorbild und Muster zu nehmen. Es lebt so was weiter nicht, und so einer will andere abhalten, sich rein zu waschen und ihren Eltern Ehre zu machen. Aber ich bau auf den Herrgott, Meister Grünebaum. Derselbige wird Euch schon zeigen, was Ihr eigentlich seid, ‘s ist doch wirklich ‘ne Lächerlichkeit, daß ein Mensch den Vormund spielen will, der sich selber nicht bemündeln kann,“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor