Abschnitt. 1 - Eine schöne liebliche Nacht war auf den Tag gefolgt; über ganz Europa und ...

Eine schöne liebliche Nacht war auf den Tag gefolgt; über ganz Europa und seine Völker schien der Mond. Alles Gewölk war fortgetrieben und lagerte und lauerte nun auf dem Atlantischen Ozean: wer schlafen konnte, schlief; aber es konnten nicht alle schlafen!
Brautnacht und Todesnacht zugleich! Durch die Wälder spritzten die Bäche ihre silbernen Funken; die großen Ströme flossen still und glänzend. Die Wälder, Wiesen und Felder, die Seen, Flüsse und Bäche, die waren in voller Harmonie mit dem Mond, aber das wunderliche Pygmäenvolk der Menschen in seinen Städten und Dörfern, weit davon entfernt, in Übereinstimmung mit sich selber zu sein, ließ in jener Beziehung manches zu wünschen übrig. Wäre er nicht der „sanfte“ Mond gewesen, hätte er nicht einen guten Ruf zu bewahren gehabt, er würde der Menschheit trotz allen Dichtern und Verliebten nicht geleuchtet haben. Er war sanft und schien; – zu allem andern rührte ihn vielleicht auch noch das Vertrauen der städtischen Verwaltungen, die sich auf ihn verließen und seinetwegen ihre Straßenlaternen nicht anzündeten.
Er schien mit gleicher Klarheit und Sanftmut über Europa – auf die wilde, arme Stadt Paris, wo so viele Tote noch unbegraben lagen und so viele blutige Verwundete mit dem Tode rangen, nicht anders als auf die winzige Stadt Neustadt in ihrem friedlichen, weiten Tal. Er guckte mild in die überfüllten Spitäler und Leichenkammern; – er guckte mild in die Reisekutsche des zehnten Karls und nicht weniger mild in die niedrige Kammer, in welcher die Frau Christine Unwirrsch mit ihrem Knaben lag.
Das Kind schlief, aber die Mutter lag wachend, konnte nicht schlafen vor dem, was sie gehört hatte, nachdem sie von ihrer schweren Arbeit so müde nach Hause gekommen war.
Es hatte ziemlich lange gedauert, ehe sie den verworrenen Bericht, den ihr Hans und die Base Schlotterbeck gaben, verstand; sie war eine einfache Frau, die Zeit brauchte, ehe sie sich in irgendeiner Sache, welche über ihre tägliche Arbeit und ihren armen Haushalt hinausging, zurechtfand. Wenn sie ein Ding begriff, so konnte sie freilich dasselbe auch ordentlich und verständig auseinanderlegen und das Für und Wider jeder Einzelheit gehörig betrachten und gegeneinander abwiegen; aber dieses Streben ihres Kindes aus der Dunkelheit nach dem Licht konnte sie kaum in seinen weitesten Umrissen verstehen.
Sie wußte nur, daß sich in diesem ihrem Kinde jetzt derselbe Hunger offenbart hatte, an welchem ihr Anton gelitten hatte, dieser Hunger, den sie nicht verstand und vor welchem sie doch einen solchen Respekt hatte, dieser Hunger, welcher den lieben seligen Mann so gepeinigt hatte, der Hunger nach den Büchern und den Wunderdingen, welche in ihnen verborgen lagen. Die Jahre, welche hingegangen waren, seit man ihren Gatten zu Grabe trug, hatten keine Erinnerung verwischt. In dem Gemüt der stillen Frau lebte der gute Mann noch mit allen seinen Eigentümlichkeiten, deren kleinste und unbedeutendste der Tod verklärt und zu einem Vorzug gemacht hatte. Wie er mit der Arbeit einhielt und minutenlang selbstvergessen in die Glaskugel vor seiner Lampe starrte, wie er auf Spaziergängen am schönen Feiertag plötzlich stillstand und den Boden betrachtete und das Himmelsgewölbe, wie er nachts erwachte und stundenlang schlaflos im Bette saß, unzusammenhängende Worte murmelnd: das alles war nicht vergessen und konnte nie vergessen werden. Wie der gute Mann zwischen Seufzern und frohen Aufwallungen, zwischen heiterer und niedergeschlagener Stimmung in seinem Handwerk sich abquälte – wie er in seinen seltenen Feierstunden so sehr studierte und vor allem, wie er auf seinen Sohn hoffte und so wunderlich hochhinauf träumte von der Zukunft dieses Sohnes: das stand der Frau Christine klar vor der Seele.
Die Mutter richtete sich von ihrem Kopfkissen empor und blickte nach dem Lager des Kindes hinüber. Der Mondschein spielte auf der Decke und den Kissen und verklärte das Gesicht des schlafenden Knaben, welcher sich nach seinem betrübten Bericht in den Schlaf geweint hatte und auf dessen Wangen noch die Spuren der Tränen zu finden waren, obgleich er jetzt im Schlummer wieder lächelte und nichts mehr wußte von dem Kummer des Tages. Rund um die Stadt Neustadt in den Büschen und am Rande der Gewässer regte sich das Nachtgevögel; des Nachtwächters rauhe Stimme erschallte bald näher, bald ferner; die Uhren der beiden Kirchen zankten sich um die richtige Zeit und waren sehr abweichender Meinung; sehr lebendig waren alle Neustädter Fledermäuse und Eulen, die ihre Stunden ganz genau kannten und sich um keine Minute irrten; Mäuse zirpten hinter der Wand der Kammer, und eine Maus raschelte unter dem Bette der Frau Christine; eine Brummfliege, welche auch nicht schlafen konnte, summte bald hier, bald da, stieß mit dem Kopf bald gegen das Fenster, bald gegen die Wand und suchte vergeblich einen Ausweg; es knackte in der Stube der Großvaterstuhl hinter dem Ofen, und auf dem Hausboden trappelte und schlich es so schauerlich und gespenstig, daß es schwerhielt, den beruhigenden Glauben an „Katzen“ festzuhalten. Die Frau Christine Unwirrsch, welche als eine ahnungsvolle Seele sonst ein scharfes, ängstliches Ohr für alle Töne und Laute der Nacht hatte und an dem Hereinragen der Geisterwelt in ihre Kammer nicht im mindesten zweifelte, hatte in dieser Nacht nicht Zeit, darauf zu horchen und die Gänsehaut darüber zu bekommen. Ihr Herz war zu voll von andern Dingen, und die Gespenster, die zwischen Erd und Himmel wandeln und mit den Nerven der Menschen ihr Spiel treiben, hatten keine Macht über sie. Die Mutter fühlte die Verantwortlichkeit für das Schicksal ihres Kindes schwer auf sich lasten, und obgleich sie eine ungebildete, arme Frau war, so war ihre Sorge darum nicht geringer, ja ihre Sorge war vielleicht noch schwerer, weil ihr Begriff von dem Verlangen ihres Kindes mangelhaft und unzureichend war.
Lange betrachtete sie den schlafenden Hans, bis der Mond am Himmelsgewölbe weiterglitt und der Strahl von dem Bette verschwand und sich langsam gegen das Fenster zurückzog. Als endlich vollkommene Dunkelheit die Kammer füllte, seufzte sie tief und flüsterte:
„Sein Vater hat’s gewollt, und es soll niemand gegen seines Vaters Willen sich setzen. Der liebe Gott wird mir armem, dummem Weib schon helfen, daß das Rechte daraus wird. Sein Vater hat’s gewollt, und das Kind soll seinen Willen haben nach seines Vaters Willen.“
Sie erhob sich leise von ihrem Lager und schlich, um den schlafenden Knaben nicht zu wecken, auf bloßen Füßen aus der Kammer. In der Stube zündete sie die Lampe an. Auf den Arbeitsstuhl ihres Mannes setzte sie sich noch einige Augenblicke nieder und wischte die Tränen aus den Augen; dann aber trug sie das Licht zu jener Lade im Winkel, von der wir schon vorhin erzählt haben, kniete davor nieder und öffnete das altertümliche Schloß, welches dem Schlüssel so lange als möglich den hartnäckigsten Widerstand entgegensetzte.
Als der schwere Deckel zurückgelegt war, erfüllte ein Duft von frischer Wäsche und getrockneten Kräutern – Rosmarin und Lavendel – das Zimmer. Diese Lade enthielt alles, was die Frau Christine Köstliches und Wertvolles besaß, und sorgsam nahm sie sich in acht, daß keine Träne dazwischen falle. Sorgsam legte sie die bunten und weißen Tücher zurück, jede Falte sogleich wieder glättend; vorsichtig stellte sie die Schächtelchen mit alten armseligen Spielereien, zerbrochenen, wohlfeilen Schmucksachen, vereinzelten Bernsteinperlen, Armbändern von farbigen Glasperlen und dergleichen Schätzen der Armen und der Kinder zur Seite, bis sie fast auf dem Grunde des Koffers zu dem kam, was sie in der Stille der Nacht suchte. Mit scheuer Hand holte sie erst ein Kästchen mit einem Glasdeckel hervor; ihr Haupt senkte sich tiefer, als sie es öffnete. Es enthielt das Liederbuch des Meisters Anton, und auf demselben lag ein vertrockneter Myrtenkranz. Wie ferne Glocken, wie Orgelklang durchzitterte es die Nacht und die Seele der knieenden Frau; nicht klarer und deutlicher sah die Base Schlotterbeck die Toten lebendig, als die Frau Christine sie in diesem Augenblick sah. Sie faltete über dem offenen Kästchen die Hände, und leise bewegten sich ihre Lippen. Es fiel ihr zwar weiter kein Gebet ein als das Vaterunser, aber es genügte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor