Abschnitt. 3 - Aber Meister, was hat denn das arme Kind eigentlich gesagt, was Euch ...

„Aber Meister, was hat denn das arme Kind eigentlich gesagt, was Euch so aus Rand und Band bringt?“ rief die Base, die ihr Leben in der Verteidigung ihres Lieblings geopfert haben würde.
„Was die Kreatur gesagt hat? Sie fragt noch?! Daß er kein Schuster werden will, weil er die löbliche Schusterei verachtet, hat er gesagt. Daß er seinen Oheim und Paten Grünebaum für ‘n Pechesel und Phülister ästimiert, hat er gesagt. Der Deibel nehme die Graden und die Ungraden; ich aber, Niklas Grünebaum, will justement meinen Newö bei der Jacke nehmen. Diktus, faktus, gehe Sie mich stantepe aus die Sonne, gehe Sie mich auf die Stelle aus die angenehme Gelegenheit, Base Schlotterbeck!“
Die Base wich dem Zorn des göttlichen Schusters Nikolaus Grünebaum nicht; sie wurde allmählich ebenso hitzig als der wackere Meister. Erst mit sanft überredenden Worten, dann mit drohenden, zuletzt mit ausgespreizten Fingern und Nägeln verteidigte sie den armen Hans; und da die Nachbarschaft durch den Lärm in Scharen herbeigezogen wurde und da der Meister Grünebaum auf Anstand hielt und da er wußte, daß, wenn sechs, acht oder zwölf Gevatterinnen die Fäuste in die Seite stemmen, meistens ein Geschrei entsteht, welches kein Mann länger, als es unbedingt nötig ist, aushält: so gab er fürs erste klein bei oder verlegte wenigstens die Fortsetzung der Verhandlung in das Innere des Hauses. Der Nachbarinnen wegen riegelte er auch die Tür zu; aber der Frau Tiebus Entrüstung und der Frau Kiebike Verachtung drangen während einer geraumen Zeit doch hinein und ihm nach.
Der Oheim Grünebaum hielt jetzt seinen Neffen und Paten am Kragen, setzte sich auf den Arbeitsstuhl des Meisters Anton und zog den schluchzenden Sünder zwischen seine Knie, wo er ihn wie in einem Schraubstock hielt. Die Base Schlotterbeck stand kummervoll, aber machtlos daneben.
„Nun noch einmal von vorn!“ rief der Oheim. „Also ‘n Pechschuster muß dieses unglückselige Opferlamm werden und will es nicht?! Soll mich doch wundern, ob ich aus das Stückchen Unglück den Grund herausquetschen kann, weshalb es nicht nur seine eigene schätzbare Familie, sondern auch noch dazu das ganze hochlöbliche Schustergewerk verschimpfiert!“
Er schob seinen Schraubstock zu, und lautauf heulte Hans Unwirrsch:
„Weil der Moses das Latein lernt und Herr wird über die ganze Straße und die ganze Stadt und alle Jungen darin. Und weil meine Mutter ‘ne arme Witfrau ist und weil der Herr Oheim mich auch nicht das Latein lernen lassen wird und weil und weil –“
„Und weil und weil – – Base Schlotterbeck, auf Euch geht’s aus. Wenn ein Mensch angefangen hat, dem Jungen Dummheiten in den Kopf zu setzen, so seid Ihr die Perschon, mit Respekt zu sagen. Was, Latein? Ich will dich Knirps belateinen! Mit dem Juden drüben ist’s aus. Dir werde ich das Festkleben da drüben vertreiben! Laß mich noch einmal merken, daß du da hinüberschnüffelst, so will ich dich an der Nase fassen, daß du dein Lebtag kein Schnupptuch mehr gebrauchen sollst. Latein?! Konnte dein Vater Latein? Kann ich Latein? Und wir sind doch Meister und wohlberedte Leute geworden, und wenn ich im Roten Bock den Mund auftue, so klappt das weiteste Maul zu, ohne daß ich es mit Latein stopfe. Aber in dir, Junge, kommt dein Vater wieder heraus, das war auch so ein Phantastikus, und wenn er das Latein nicht konnte, so hatte er sich doch auf andere Schrullen gelegt; aber ich habe ihm auf dem Todbette versprochen, einen Menschen aus dir zu machen, und das soll geschehen. Da ist jetzt grade der König Karl in Frankreich, der macht es grade jetzt so mit seinen geliebten Untertanen und französischen Landeskindern, wie ich es mit dir machen werde, Hans Unwirrsch: willste nicht, so sollste. Also in aller Güte, willst du nun ein Schuster werden wie deine Vorfahren oder nicht?“
Da diese letzte Frage, mit einem neuen heftigen Druck des Schraubstocks verbunden, an Hans gestellt wurde, so konnte letzterer nicht umhin, seine vollkommene Übereinstimmung mit den Ansichten des Oheims kundzugeben. Die Tränenfluten aber, welche das Versprechen begleiteten, nahmen ihm freilich den größten Teil seines Wertes, und in dem sehr legitimen König Charles dix hatte sich der gute Meister Grünebaum auch nicht das rechte Muster für sein Verhalten ausgesucht. Es ist, als ob das Schicksal hinterlistigerweise manche Wegweiser nur deshalb aufpflanze, um sich mit der Menschheit einen nicht immer harmlosen Fastnachts- oder Aprilspaß zu machen.
Stumm hatte die Base des Meisters Wortschwall über sich ergehen lassen; als er nun aber endlich seine Meinung von der Seele los war, begann sie die Antistrophe zu singen, und das Wort ließ sie sich sowenig wie der Oheim Grünebaum nehmen.
„So! Also Er ist fertig, Gevatter, und hat gesagt, was Er zu sagen hatte? Das ist ein Glück für mich, das Kind und die vier Wände. Da sollte man ja auseinandergehen vor Grauen vor solcher Trompete. Ihr seid mir ein schöner Mann, Gevatter. Im Roten Bock mögt Ihr wohl allein das große Wort haben; aber hier haben doch auch noch andere Leute dareinzusprechen. Das Kind hat nichts gesagt, was einen halbwegs vernünftigen Mann aufbringen kann, und wenn es eine fremdländische Sprache lernen will, von der Er nichts versteht, Gevatter, so braucht Er darum noch lange nicht solch einen grausamen Aufruhr zu stiften. Ihr laßt Euer Vogelviehzeug auch nicht einzig singen, wie ihm der Schnabel gewachsen. Pfeift Ihr nicht etwa Eurem Dompfaffen tagelang den alten Dessauer vor, Gevatter Grünebaum? Ihr seid wohl ein rechter Schuster? Ihr habt wohl Grund, Euch Eures Handwerks zu rühmen? Ach du lieber Gott, ja, wenn man die Stiefel mit alten Lügenzeitungen flicken könnte und wenn man die Schusterei am besten nur auf der Bierbank im Roten Bock treiben könnte, so wäret Ihr wohl der Mann dazu. Seht mir doch! Er hat es wohl mit seinem Räsonieren vors ehrbare Handwerk weit darin gebracht, Grünebaum? Sei Er ganz still – die ganze Stadt weiß ja, wie’s mit Ihm bestellt ist. Keinen ganzen Stuhl im Haus, keinen heilen Rock am Leib – besehe Er sich nur in dem Spiegel und dann spreche Er die Wahrheit, ob Er ein Musterbild und Exempel von ‘m Schuster für die Menschheit ist. Grünebaum, Grünebaum, wenn das Kind nicht dabeistände und ich mir davor zusammenhielte, so wollt ich Euch den Text schon lesen; Ihr seid mir ein schöner Vormund; aber laßt nur die Christine nach Hause kommen!“
Auch die Base Schlotterbeck hatte den trefflichen Meister Grünebaum in den Schraubstock genommen, und jedesmal, wenn sie zukniff, zuckte der arme Mann nicht weniger zusammen als vorhin Hans Unwirrsch. Er wand sich wie ein Aal, welchem die Köchin lebendig die Haut vom Leibe zieht. Mit beiden Händen griff er nach dem Kopfe, fand jedoch wenig Erleichterung darin, daß derselbe nicht auf den Küchentisch genagelt war. Sein Selbstgefühl erlitt beträchtlichen Schaden, und als die Base notgedrungen Atem schöpfen mußte, gab es, trotzdem daß sie sich so meisterlich zusammengehalten hatte, in ganz Neustadt keinen Schuster von kläglicherer Erscheinung als den Meister Niklas Grünebaum. Rückwärts schreitend zog er sich gegen die Tür zurück, ein Bild äußerster Entwürdigung innerlich und äußerlich.
„Himmeldonnerwetter!“ brummte er, den Riegel wegschiebend und die Tür öffnend; aber das Brummwort bedeutete keinen Fluch, keine Verwünschung; es war nur eine unwillkürliche Interjektion der allerbedrängtesten Verblüfftheit. Für jetzt war der Oheim Grünebaum nicht mehr fähig, den Kampf gegen die Sprache der Römer fortzusetzen. Und dazu brachte der Postkurier für Stadt und Land an diesem selbigen Abend so wichtige, unerhörte, kuriose Nachrichten: Rewwolution in Paris! Bollinjak an die Beine aufgehängt! Fünfzigtausend Pariser niederkradätscht! Garden, Linie und Schweizer totalemang kaputtgemacht! Thron von Frankreich und Navarra in die Luft geflogen! Güljottine, Marseljäse, Barrikaden! ...
Der Politiker, Schuster, Vormund und Oheim Nikolaus war wie vor den Kopf geschlagen: es kostete im Roten Bock mehr als einen Extraschoppen, ehe er sich zu der Überzeugung, daß er das große politische Ereignis längst vorhergewußt und vorausgesagt habe, emporschwingen konnte. Endlich brachte er es aber doch gottlob wieder fertig, und je schwankender sein körperlicher Zustand wurde, desto mehr wuchs wieder der Glaube an seine moralische und staatsmännische Unfehlbarkeit. Er trug sein schweres Haupt in vollkommener Zufriedenheit mit sich selbst zu Bett und schlief den Schlaf des Gerechten, was Hans Unwirrsch und seine Mutter nicht taten und die Base Schlotterbeck auch nicht.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor