Abschnitt. 1 - Die Freundschaft zwischen dem Sohne des Schusters und dem Sohne des Trödlers, ...

Die Freundschaft zwischen dem Sohne des Schusters und dem Sohne des Trödlers, zwischen dem Christen und dem Juden, zog den ersten immer mehr von dem Umgang mit den übrigen Altersgenossen ab. Diese betrachteten das Verhältnis nicht von der günstigsten Seite; sie hatten mancherlei daran auszusetzen, und Hans mußte viel darum leiden innerhalb und außerhalb der Schule. Die witzigen Köpfe machten die lächerlichsten Glossen über diese merkwürdige Freundschaft. Die, welche Talent für die zeichnenden Künste besaßen, bedeckten Gartenmauern, Hauswände und Türen mit mehr oder weniger gelungenen Illustrationen der zwei Freunde; und krummnasige Abbildungen von Moses und Hans, worunter wieder andere geistreiche Bemerkungen schrieben, sah man nicht selten und auch an Orten, wo man sie nicht vermutete. Körperlich aber vergriff man sich nicht mehr an den beiden; man machte in dieser Beziehung zu böse Erfahrungen. Es war übrigens abzusehen, daß eine Zeit kommen könne, wo das Interesse an ihnen vollständig erloschen sein würde und wo man sie ruhig ihres Weges gehen lassen würde, ohne sich weiter um sie zu bekümmern.

Wie in einer Märchenhöhle saß Hans Unwirrsch in dem Laden des Trödlers, und Samuel Freudenstein war auch in seiner Art ein Zauberer, der durch sein Hantieren, durch sein Wesen und seine Worte wohl einen mächtigen Eindruck auf ein kindliches Gemüt machen mußte. Mit dem Pinsel wie mit dem Leimtopf wußte er gleich geschickt umzugehen; Vögel, allerlei Vierfüßler, stopfte er sehr naturgetreu aus und verkaufte sie in Glaskästen den Liebhabern. Er war auf einer ewigen Jagd nach Merkwürdigkeiten begriffen, saß in seinem Gewölbe wie eine Spinne in ihrem Netz und lauerte auf seine Kunden – Käufer und Verkäufer. Selten entging ihm eine römische Münze oder ein Brakteat [einseitig geprägte Münze des Mittelalters], die den Versuch gemacht hatten, noch einmal am Weltverkehr teilzunehmen, und die vom Krämer oder vom Bauer mit Grimm und Verachtung ganz unvermutet in der Ladenkasse oder im Lederbeutel entdeckt und angehalten worden waren. Merkwürdige gläserne Pokale und Becher wußte Samuel sehr zu schätzen, er witterte sie in den dunkelsten Winkeln und Küchenschränken auf den Dörfern aus und zahlte gern dafür, was die Besitzer verlangten. Auch Ahnenbilder kaufte er gern, doch meistens mehr des Rahmens wegen. Es war ein Wunder, wie viele Leute, die auf solche »Ahnen« durchaus keinen Anspruch hatten, doch dergleichen angeschleppt brachten. Wie kamen diese Kotsassen, Halbspänner und Brinksitzer, diese kleinen Handwerker zu diesen stattlichen Herren in Perücke, Ringkragen und Brustharnisch, zu diesen hochtoupierten und gepuderten Damen, die zu ihrer Entwürdigung so holdselig lächelten und auf Rosen und Lilien rochen? Der Stolz und die Verehrung manches Geschlechts wurden in der Kröppelstraße auf das schnödeste mit dem Gesicht gegen die Wand gelehnt, und manchen gnädigen Herrn, manche gnädige Frau und manches gnädige Fräulein nahm der Trödler nur als Zugabe auf einen alten Sessel, wackeligen Tisch oder wurmstichigen Rokokokasten mit Achselzucken an.
Auch mit Büchern gab sich Samuel Freudenstein ab; alte Folianten in Schweinsleder waren ein wertvoller Handelsartikel, es gab keine Scharteke, die nicht zuletzt doch noch der Welt auf irgendeine Art nützlich wurde, an die der Autor einst nicht gedacht hatte. Manches Buch aber, welches der Zufall in den Trödelladen hinabwarf, sollte auf Hans Unwirrsch später eine Wirkung haben, mit welcher der Verfasser zufrieden sein konnte.–
Die mannigfachen Gegenstände, welche der Laden enthielt, eröffneten dem in einfachster Ärmlichkeit aufwachsenden Knaben den Blick in unendliche Räume. Was die Schule nüchtern lehrte, gewann hier bunteste und lebendigste Gestalt; und vielerlei, von dem die Schule nichts sagte, trat ihm hier zuerst entgegen.
Einst war in die Kröppelstraße ein Bilderbuch geraten, das einem Kinde wohlhabender Eltern gehörte, und sehr stolz war der Besitzer darauf und gab es nicht aus den Händen. Der arme Hans durfte nur aus der Ferne einen ganz flüchtigen Blick hineintun, worauf es ihm sogleich wieder vor der Nase zugeschlagen wurde. Wie früher von den großen Butterbroten der Genossen, so träumte Hans geraume Zeit von diesem Bilderbuche; er hätte gern tagelang gehungert, wenn es ihm dafür auf eine Stunde in die Hände gelegt worden wäre; den Besitzer hielt er für den glücklichsten Jungen, den es jemals gegeben habe. Er hatte einen großen Hunger nach diesen Bilderbuch und mußte ihn sich vergehen lassen wie so manchen andern Hunger damals und später.
Jetzt wurde ein in jeder Beziehung viel reichhaltigeres Bilderbuch vor ihm aufgeschlagen, und nach Belieben durfte er darin blättern. Nun dämmerte ihm eine Ahnung von dem Reichtum der Welt; immer bestimmtere Formen erhoben sich unter den schwankenden Märchenbildern, den verschwimmenden Gestalten und Klängen, welche durch die Base Schlotterbeck und ihre Kalenderbibliothek in der Kinderseele wachgerufen worden waren. Aus der Schule konnte Hans Unwirrsch nichts mitbringen, welchem Moses Freudenstein nicht eine andere Färbung hätte geben können; und die Worte des Vaters Samuel gewannen bald ein ebenso großes Gewicht wie die der Lehrer in der Bürgerschule. In diesem Trödelladen wuchs Hans über diese Schule schnell hinaus.
Der Vater Freudenstein hatte eine gewaltige Achtung vor den Wissenschaften, eine fast ebenso große Achtung wie weiland der arme Anton Unwirrsch. Doch wenn dieser sie um ihrer selbst willen einst verehrte, so schätzte jener sie, weil er darin den Talisman glaubte gefunden zu haben, der zugleich mit dem Gelde ein Schild und eine Waffe sei für sein immer noch ob seiner und der Väter Sünden so vielfach bedrängtes und zurückgesetzes Volk. Das Leben, welches dem Manne so arg mitgespielt hatte, hatte ihm immer von neuem diese Lehre vor die Augen gerückt, und wie der Meister Anton beschloß er, seinen Sohn mit diesen mächtigen Verteidigungs- und Angriffswaffen genügend auszurüsten. Wie Anton Unwirrsch wollte er seinem Sohn den Weg durch die Welt freier machen, als er selbst ihn gefunden hatte; wie Anton Unwirrsch lebte er seit der Geburt seines Kindes nur in der Zukunft desselben.
„Lerne, daß dir schwitzet der Kopf, Moses“, sagte er, sobald der Knabe nur irgend imstande war, ihn zu verstehen. »Wenn se dir hinhalten an Stück Kuchen und an Buch, so laß den Kuchen und nimm das Buch. Wenn du was kannst, kannste dich wehren, brauchste dich nicht lassen zu treten, kannste an großer Mann werden und brauchst dich zu fürchten vor keinem, und den Kuchen wirst du auch dazu bekommen. Se werden dir ihn geben müssen, ob se wollen oder nicht.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor