Abschnitt. 2 - Die Zeiten waren für jedermann hart und wurden immer härter, aber Samuel ...

Die Zeiten waren für jedermann hart und wurden immer härter, aber Samuel Freudenstein gehörte zu den Leuten, die jeder Windstoß nach Belieben dreht und wendet, und das kann unter Umständen trotz allem, was man dagegen sagen mag, ein großes Glück sein. Er verstand zu lavieren; und durch alle Gefahren, alles Kriegswetter, Krachen und Poltern rettete er sich mit seinem Päcklein, zog im Sommer des Jahres achtzehnhundertundsechs durch das Rosentor zu Neustadt ein und wurde als Jude nach damaligem löblichem Gebrauch gleich dem eingetriebenen Schlachtvieh verzollt. Nach dieser lobwürdigen Gewohnheit konnten Zettel auf irgendeinem Steueramt in jeder beliebigen deutschen Stadt abgeliefert werden, auf welchen zu lesen stand:
„Heute am –– Januar 178– verzollt und versteuert am Kreuztor:
drei Rinder,
vierzehn Schweine,
zehn Kälber,
ein Jüd, nennt sich Moses Mendelssohn aus Berlin.“
Die Schlacht bei Jena, welche so manche Niederträchtigkeit, so manchen Unsinn über den Haufen warf, machte auch diesem Skandal ein Ende, aber Anno fünfzehn hätte mancher liebende Landesvater die gute, alte Sitte gern wiedereingeführt.
In Neustadt lud Samuel Freudenstein sein Bündel bei einem Glaubensgenossen ab und präsentierte demselben einen Wechsel, der sein ganzes damaliges Vermögen darstellte. Er war des umherschweifenden Lebens überdrüssig, wollte von jetzt ab das Leben auf bescheidenem Fuße anfangen, und das Städtlein gefiel ihm. Was ihm der Gastfreund über die sonstigen Verhältnisse mitteilte, befestigte seinen Entschluß, hiesigen Orts den Wanderstab abzusetzen und sich häuslich niederzulassen. Trotz dem Unglück, welches Samuel bei seinem letzten Unternehmen gehabt hatte, war der Wechsel, den er aus seiner schmierigen Brieftasche hervorwühlte, für die Neustädter Verhältnisse doch nicht so unbedeutend, und es ließ sich wohl ein neues Geschäftchen damit gründen. Die Häuser waren damals wohlfeil der ewigen Einquartierung wegen; Samuel erhielt das beschriebene Gebäude in der Kröppelstraße fast geschenkt und richtete sich darin ein wie ein Ohrwurm in einem leeren Schneckenhaus. Im Jahre 1815 heiratete er die Tochter des weisen und wohlhabenden Mannes, der seinen Wechsel so prompt saldiert hatte. Sein Trödelgeschäft hatte unter den Durchmärschen von Freund und Feind nicht gelitten; es hatte sich im Gegenteil sehr dadurch gehoben, denn Freund und Feind hatten mancherlei Dinge loszuschlagen, an welche sie leicht gekommen waren, welche sich aber schwer mitschleppen ließen im Tornister oder auf dem Bagagewagen. Nach dem zweiten Pariser Frieden ahnte die Kröppelstraße, daß der Jüd im Keller sein Schäflein geschoren habe, der Gastfreund aber wußte es und gab seine Tochter, das schöne Blümchen, gern an ihn ab. Wir wissen, daß Moses Freudenstein und Hans Unwirrsch fast um dieselbe Stunde im Jahre 1815 geboren wurden und daß das „Blümchen“ im Kindbett starb. Der Frauen Amme fütterte den Säugling auf, und Samuel erzog ihn auf seine Weise, welche von dem Schulplane des Spritzenhauses in mancher Hinsicht bedeutend abwich. Um die Erziehung der Juden bekümmerte sich das hohe Kultusministerium damals noch nicht; es ließ sie in dieser Beziehung ganz und gar ihren eigenen Weg suchen, und – sie fanden ihn und gingen ihn. Moses Freudenstein wußte um viele Dinge Bescheid, von welchen die Taugenichtse, die ihn in der Kröppelstraße mißhandelten, nicht das mindeste ahnten.
Daß die Kröppelstraße den Juden nicht mit den freundlichsten Augen ansah und sich ihm gegenüber nicht auf den Standpunkt des „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ stellte, brauchte keine Verwunderung zu erregen, aber übertrieben war es doch, wenn die Mütter ihre hoffnungsvollen Sprößlinge vor dem Trödelladen dadurch warnten, daß sie behaupteten, man verfertige darin Würste aus dem Fleisch kleiner unartiger und unschuldiger Christenkinder und benutze dazu statt ihrer Därme ihre wollenen Strümpfe.
Auch für Hans Unwirrsch hatte einst die Idee, zu Wurstfleisch gehackt und in seinen eigenen wollenen Strumpf gestopft zu werden, nichts Verlockendes; als er aber mit Moses hinab in den dunklen Laden polterte, war er über diese Fabel längst hinaus und sah sich nur sehr neugierig in dem geheimnisvollen Räume um, in den er bis jetzt nur ganz verstohlen von der Straße aus zu blicken gewagt hatte.
Aus der Finsternis des Hintergrundes hervorstürzten der Vater Samuel und die alte Esther, um den jetzt in lautes Geheul ausbrechenden Moses in ihre Arme zu schließen, auszufragen und zu beruhigen. Verwünschungen aller Art schleuderte Esther auf den Haufen in der Gasse, und als sie gar, bewaffnet mit einem Besen, einen Angriff darauf machte, stob er entsetzt nach allen Seiten hin auseinander. Mit traurigem Kopfschütteln ließ sich der Trödler das Geschehene auseinandersetzen, aber sein Zorn machte sich nicht in lauter Weise Luft. Er hatte in seinem Leben so viele Demütigungen hinunterschlucken müssen, daß es ihm auf eine mehr oder weniger nicht ankam. Aber dem Verteidiger seines Sohnes stattete er seinen Dank fast in einer Art ab, wie er es einem erwachsenen Mann gegenüber getan haben würde, und Hans fühlte sich höchlichst geschmeichelt und schenkte ihm seine ganze Hochachtung. Er genoß in dem dunkeln Hinterzimmer eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen, fand auch hier manches, was seine Aufmerksamkeit erregte, und versprach sich und der Familie Freudenstein, die angeknüpfte Bekanntschaft fortzusetzen.
Die Base Schlotterbeck war gerade nicht sehr entzückt, als sie das Geschehene vernahm. Sie hatte auch ihre kleinen Vorurteile gegen die Juden und sah nicht ein, welchen Nutzen ein solcher Umgang ihrem Pflegling bringen könne. Die Frau Christine aber erinnerte sich, daß ihr seliger Mann einst geäußert hatte, der Nachbar Freudenstein sei kein übler Mann, es lasse sich recht gut mit ihm verkehren. Die Frau Christine, welche mehr als einer wohlhabenden israelitischen Familie in der Hauptstraße die Hemden gewaschen hatte, meinte daher, die Juden seien auch Menschen und könnten recht vernünftige Leute sein. Sie hatte nichts gegen den Verkehr mit dem westfälischen Lakaien drüben, und auch der Oheim Grünebaum gab als „zivilisierter Mann“ und „Philosophikus“ seine Zustimmung. Die Nachbarn und Nachbarinnen schüttelten bedenklich die Köpfe, aber hinderten nicht, was das Geschick beschlossen hatte.
Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit des Trödelladens gewöhnt hatten, entdeckte Hans darin so viele Wunder, daß sich sein Leben erst mit dem wahren Inhalt zu füllen schien. Zu gleicher Zeit erstieg er eine zweite Stufe auf der Leiter des Wissens, sagte er dem Spritzenhaus und dem Nachfolger Silberlöffels Valet, um in die unterste Klasse der „Bürgerschule“ einzutreten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor