Abschnitt. 1 - Auf malerische Mittelalterlichkeit machte die Kröppelstraße keinen Anspruch. ...

Auf malerische Mittelalterlichkeit machte die Kröppelstraße keinen Anspruch. Sämtliche Häuser darin waren nach einem großen Brande, der während des Siebenjährigen Krieges stattgefunden hatte, mit möglichster Schnelligkeit und mit möglichst wenigen Kosten wiederaufgebaut worden. Jetzt war ein Teil der Gebäude bereits wieder so baufällig, daß ein neuer Brand vonnöten schien, um größeres Unheil durch ganz unmotiviertes Zusammenstürzen über Nacht bei vollständiger Windstille ohne Erdbeben oder dergleichen Anstößigkeiten zu verhüten. Samuel Freudenstein bewohnte mit seinem Sohn und einer uralten Haushälterin das wackligste Haus der ganzen Reihe, und wenn alle anderen Besitzer allerlei mehr oder weniger schwache Anstrengungen machten, ihr Eigentum vor dem gänzlichen Verfall zu sichern, so tat der israelitische Handelsmann durchaus nichts zur Erhaltung seines Hauses und noch weniger zur Verschönerung desselben. Seit dem Anfang des Jahrhunderts waren die Mauern nicht getüncht, seit dem Hubertusburger Frieden schienen die Fenster nicht geputzt worden zu sein. Auf dem Dach wuchs Moos und allerlei Krautwerk; es hatte sich mehr als ein Ziegel abgelöst und war durch keinen anderen ersetzt worden. Die Baupolizei war schlecht in Neustadt, aber Samuel Freudenstein verlangte gar keine bessere.
Eigentliche Kellerwohnungen und -läden gab es in Neustadt nicht, die Stadt war dazu nicht überfüllt genug. Der ärmere Teil der Bevölkerung wurde weder zu hoch hinauf- noch zu tief hinabgedrängt. Das einzige Lokal, welches jenen troglodytischen Einrichtungen größerer Städte ähnelte und welches somit dem Geschmacke Freudensteins entsprach, hatte dieser bei seiner Ansässigmachung in Neustadt richtig gefunden, und nach seinem Geschmack hatte er sich darin eingerichtet.
Dem durch die Kröppelstraße Wandelnden machte sich der Laden des Trödlers glänzend durch eine vor der Tür aufgehängte Hoflakaienlivree des Königs Hieronymus von Westfalen bemerklich. Dieser bunte Anzug diente besser als alles andere als Aushängeschild eines Trödelladens, und ein vorzüglicheres Symbolum dafür als dieses Hausratstück des Trödelkönigreichs Westphalie war schwerlich zu finden. Es war niemand in der Stadt, der diese Livree nicht kannte; und Leute, welche sie als Kinder angestaunt hatten, mußten sich ihrer noch im späten Greisenalter erinnern.
Dem Lakaien gegenüber hing am anderen Türpfosten eine schadhafte Eierkuchenpfanne, und zwischen beiden gingen die Kunden ein und aus, brachten die verschiedenartigsten Gegenstände oder schleppten die verschiedenartigsten Gegenstände fort. Das Schaufenster gab nur einen schwachen Begriff von dem, was der Laden in seinem Innern enthielt: Damenhüte und Herrenhüte, Schulbücher, Bündel verrosteter Schlüssel, staubige Rokokogläser und Schüsseln, ein Fächer, eine Standuhr, desolate Porzellanfiguren, Kinderpuppen, ein Zettel mit der Inschrift: Hier werden die höchsten Preise für Lumpen aller Art gezahlt; – ein anderer Zettel mit der Inschrift: Allerhöchste Preise für Knochen, zerbrochenes Glas und Eisen; – ein dritter Zettel mit den verlockenden Worten: Einkauf von Gold, Silber, Juwelen und getragenen Kleidungsstücken; – – viel enthielt das Schaufenster und doch sehr wenig im Vergleich zu dem Laden selbst.
Wenn man über die Schwelle getreten und die drei Stufen hinabgestolpert war, geriet man in eine Dämmerung, in welcher man anfangs keinen Gegenstand von dem anderen unterschied, und in eine Atmosphäre, welche ebenfalls aus mancherlei ununterscheidbaren Düften zusammengesetzt war. Nur ganz allmählich gewöhnten sich Auge und Nase an die Lokalitäten; nur ganz allmählich erkannte man, daß der Mensch hier alles loswerden konnte, was er nicht gebrauchte oder nicht länger gebrauchte, und daß er hier vieles fand, was er gebrauchte. Ein Gegenstand mochte durch noch so viele Hände gegangen sein, noch so viele Schicksale in auf- und absteigender Linie gehabt haben, Samuel Freudenstein brachte ihn doch im gegebenen Augenblick in Bewegung und an den rechten Mann. Er konnte dem ältesten Plunder täuschend den Anschein der Neuheit geben, und seine Ansichten über die Dauer im Wechsel wären höchst belehrend und anziehend für jeden Philosophen gewesen. Wie ein Alchimist und Zauberer waltete er aber auch in seinem dämmerigen Reich, und seine Erscheinung weckte nicht das Zutrauen, welches dem Handelsmann so nützlich ist.
Samuel Freudenstein war ein Sechziger, der wenig auf äußere Eleganz hielt und der allein imstande gewesen wäre, den Hut des Armenlehrers Silberlöffel für eine höchst anständige Kopfbedeckung zu halten. Er war groß, doch ging er sehr gebückt und schien an einem ewigen Frost zu leiden. Die Art, wie er seine schlotternden Glieder in seinem zerlumpten Schlafrock verbarg, konnte in den Hundstagen einem eine Gänsehaut hervorbringen. Der Mann war ein fortwährendes Zähneklappern und ein Greuel für jeden, der etwas auf ein wohlgewaschenes Gesicht und reinlich beschnittene Nägel gab. Daß er sich stets genügend rasiert habe, konnte man ebenfalls nicht behaupten, und daß er einst ein Weib gefunden hatte, und zwar ein sehr hübsches und sehr reinliches, das glaubten nicht alle, welche mit der Tatsache bekannt gemacht wurden. Es war aber doch so, und das Weib hatte ihn sogar geliebt und hatte ihn höchst ungern allein gelassen in der Welt.
Nicht immer hatte Samuel in der Dunkelheit seines Ladens in Neustadt gesessen; er hatte mehr von der Welt gesehen als sämtliche andere Neustädter zusammengenommen.
Geboren war er in jener angenehmen Gegend, wo Katze und Hund sich gute Nacht sagen und wo Russen, Polacken und Türken einander seit undenklichen Zeiten in den Haaren liegen. Gehandelt hatte Samuel bis hinauf nach Warschau und Petersburg und bis hinunter nach Konstantinopel. Im Jahre 1799 zog er mit Suwarow nach Italien und machte gute Geschäfte, wäre aber beinahe von dem alten Italinsky gehängt und von Massena füsiliert worden. Als vorsichtiger Mann blieb er deshalb an der nächsten Ecke zurück und ließ die kriegführenden Parteien allein weitermarschieren. Er ging nach Wien, und als ihm das Glück dort nicht wohlwollte, nach Prag, wo er in der Jüdenstadt sich sehr behaglich fühlte und wo er jedenfalls sich für immer festgesetzt hätte, wenn nicht die große Konkurrenz gewesen wäre. Er handelte um diese Zeit mit Rauchwaren und machte ein ziemlich bedeutendes Geschäft in Füchsen von allen Farben, Mardern und dergleichen Pelztieren. Als er zum erstenmal zur Messe nach Leipzig kam, glaubte er sich gerade mitten in Abrahams Schoß setzen zu können, aber er setzte sich nebenzu und verlor in einer allzu gewagten Spekulation fast sein sämtliches Vermögen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor