Abschnitt. 3 - Wenige Leute kümmerten sich um den abgenutzten, sterbenden Armenschullehrer; ...

Wenige Leute kümmerten sich um den abgenutzten, sterbenden Armenschullehrer; zu den wenigen aber, welche das Ihrige taten, ihm seine letzten Lebenstage zu erleichtern, gehörten der Oheim Grünebaum und die Base Schlotterbeck. An der Hand der letztern kam Hans Unwirrsch, um seinen Lehrer sterben zu sehen und um zum erstenmal die feierlichen Schauer zu empfinden, die das Nahen des Todes in der Seele des Menschen erregt, auch wenn er noch ein Kind ist.
Der todkranke Mann hielt lange die Hand des Kindes und sah ihm lange und tief in die Augen. Aber in dem Blicke, mit welchem er es ansah, war jetzt nichts mehr von jenem Elend zu finden, welches ihn durch sein dunkles, kurzes Leben unablässig bedrängt und ihm gnadenlos jedes freiere Aufsehen und Aufatmen verwehrt hatte. Matt war jetzt das Auge, aber still und befriedigt war es auch; der Kampf war zu Ende, noch ein Schritt, und das Land der ewigen Freiheit war erreicht. Auf seinem Sterbebette fühlte sich der Armenschullehrer zum erstenmal als ein freier Mann, der sich vor niemand mehr zu neigen und in den Winkel zu drücken brauchte. Der alte, rötliche, diabolische Hut, der hinter der Tür am Nagel hing, hatte freilich das Spiel gewonnen, aber weder er noch ein hochlöbliches Kultusministerium zogen einen großen Vorteil davon. Der eine wurde als Vogelscheuche in ein Kornfeld gestellt, und das andere blieb fürs erste, was es war.
Laut sprechen konnte der Kranke nicht, aber Hans vernahm doch, was er zu ihm sagte, und vergaß es nicht.
„Weine nicht, liebes Kind, und fürchte dich auch nicht! Du bist immer ein guter Junge gewesen und wirst dereinst auch ein guter Mann werden. Großen Hunger jeder Art wirst du auch zu erdulden haben, aber du wirst satt werden, denn endlich wird doch einmal jeder satt ...“
Das, was der sterbende Herr Silberlöffel damals noch hinzufügte, verstand Hans freilich nicht, und die Base Schlotterbeck wußte auch nicht recht, ob der Kranke bereits in den letzten Todesphantasien liege oder nicht.
Er sagte, während seine Augen sich nach der niedern, schwarzen Decke der Stube richteten:
„Ich bin sehr hungrig gewesen. Hungrig nach Liebe bin ich gewesen und durstig nach Wissen; alles andere war nichts. Goldene Äpfel hängen lockend im Gezweig und schießen ihre Strahlen durch das Grün. Sie blenden so die Augen, die schönen, glänzenden Früchte. Die Hände habe ich ausgestreckt und habe sie mir zerrissen an den Dornen; – viele Tränen habe ich vergießen müssen um den goldenen Glanz im Grün. Im Schatten habe ich gesessen mein ganzes Leben durch, und doch war ich für das Licht geboren. Es ist hart, hart, hart, im Schatten sitzen zu müssen und Hungers zu sterben, während so schöne Augen leuchten in der Welt, während so holdselige Stimmen locken – in der Nähe und, ach, auch aus so weiter, weiter Ferne. Ich habe auch Hunger gehabt nach der Ferne, aber im Schatten mußte ich bleiben, auf einen kleinen Raum im Schatten war ich gebannt. Ein goldener Regen umspielte mich oft, in Schauern fielen die leuchtenden Früchte nieder um mich her und glänzten durchs Grün und durch die Morgen- und Abendröten; mir aber waren die Hände gefesselt, und nichts hatte ich als mein qualvolles Sehnen. Ich habe nichts, nichts erhalten von dem reichen Leben. Nur mein Sehnen ist mir zuteil geworden, und auch das geht nun zu Ende. So wird’s dunkel vor den Augen, still vor den Ohren und im Herzen; ich werde satt sein – im Tode.“
Man begrub den Armenschullehrer Silberlöffel einige Tage vor Weihnachten, und die Armenschule unter dem Nachfolger folgte dem Sarge, der nicht mit Silber beschlagen und nicht mit Samt behängt war. Nicht über reinen Schnee, sondern durch ein schmutziges Schlackerwetter trug man den Leichnam und scharrte ihn kurz und gut ein ohne das allergeringste Gepränge. Die Schule zerstreute sich vom Kirchhofe und flatterte auseinander gleich einem Sperlingsschwarm, und auch Hans war mit im Schwarm und fühlte sich nicht viel beklommener als die andern. Der Tod hat doch eigentlich für das Kind keinen Sinn; erst wenn uns das Leben recht zusammengerüttelt und geschüttelt hat, geht uns das rechte Verständnis dafür auf.
Der Kindheit, der alles noch neu ist, drängt jeder neue Tag den vergangenen in die vollständigste Vergessenheit. Am Morgen nach dem Begräbnis des guten Lehrers spielte Hans Unwirrsch bereits wieder lustig in der Gasse und dachte für jetzt mit keinem Gedanken mehr an den toten Mann. Der Schnee, der gestern gemangelt hatte, war über Nacht reichlichst herabgefallen; es hatte kein Junge in der Stadt Zeit, an etwas anderes zu denken als an den Schnee.
Großes Geschrei war in der Kröppelstraße, und mächtig wuchs der Schneemann zur Lust der jungen Künstlerbande und zum Ärger des misanthropischen pensionierten Stadtbüttels Murx, der wie ein podagrischer Oger in seinem Lehnstuhl am Fenster festgebannt saß und welcher den Lärm und die Lust der lieben Jugend für eine ganz persönliche Beleidigung nahm. Aber der spanische Rohrstock war pensioniert wie sein Herr und hing in grimmiger Unzufriedenheit über dem pensionierten Dreimaster an der Wand.
Unablässig wanderte das Auge des zur Ruhe gesetzten Schützers der öffentlichen Ruhe und Sicherheit zwischen dem Stock und der Straße hin und her, und in der Brust des Vortrefflichen grollte und brummte es wie in einem dem Ausbruch nahen Vulkan: Prometheus, am Kaukasus angeschmiedet, Napoleon auf Sankt Helena fühlten ähnliche Bitternisse wie der Büttel, aber ihr Beispiel tröstete ihn nicht. Lustig ging der Spektakel in der Gasse fort, und nachdem der Schneemann vollendet war, stürzte sich die Bande jugendlicher Missetäter auf Moses Freudenstein, den Sohn des Trödlers, und fing an, ihn zu waschen.
In jenen vergangenen Tagen herrschte – vorzüglich in kleineren Städten und Ortschaften – noch eine Mißachtung der Juden, die man so stark ausgeprägt glücklicherweise heute nicht mehr findet. Die Alten wie die Jungen des Volkes Gottes hatten viel zu dulden von ihren christlichen Nachbarn; unendlich langsam ist das alte, schauerliche Hepphepp, welches so unsägliches Unheil anrichtete, verklungen in der Welt. Vorzüglich waren die Kinder unter den Kindern elend dran, und der kleine, gelbe, kränkliche Moses führte gewiß kein angenehmes Dasein in der Kröppelstraße. Wenn er sich blicken ließ, fiel das junge, nichtsnutzige Volk auf ihn wie das Gevögel auf den Aufstoß. Gestoßen, an den Haaren gezerrt, geschimpft und geschlagen bei jeder Gelegenheit, ließ er sich auch sowenig als möglich draußen blicken und führte eine dunkle, klägliche Existenz in der halbunterirdischen Wohnung seines Vaters.
An diesem Tage aber hatte ihn sein Unstern doch mitten unter seine Peiniger geführt; und man hatte, wie gewöhnlich in solchen Ausnahmefällen, ihn in einen engen Kreis geschlossen. Was fiel dem Judenjungen ein, daß auch er den neuen Schnee sehen wollte? In der Mitte seiner Tyrannen stand Moses Freudenstein und reichte mit verhaltenen Tränen und einem Jammerlächeln die Hand, in welche jeder junge Christ und Germane mit hellem Hohngeschrei hineinspie, in die Runde. Es gab wenige Leute in der Kröppelstraße, die nicht ihren Spaß an solcher infamen Quälerei gefunden hätten. Keiner von den Gaffern in den Haustüren trat dazwischen, um der Erbärmlichkeit ein Ende zu machen. Man lachte, zuckte die Achseln und hetzte wohl gar noch ein wenig; es hatte eben wenig auf sich, wenn der schmutzige Judenjunge ein bißchen in seiner Menschenwürde gekränkt wurde. Hilfe und Rettung sollten für Moses Freudenstein von einer Seite kommen, von woher er sie nicht erwartet hatte.
Hans Unwirrsch hatte bis zu dieser Stunde auch hier mit den Wölfen geheult, und was die andern taten, hatte er leichtsinnig, ohne Erbarmen und ohne Überlegung ebenfalls getan. Jetzt kam die Reihe an ihn, in die offene Hand des heulenden Judenknaben zu speien, und wie ein Blitz durchzuckte es ihn, daß da eben eine große Niederträchtigkeit und Feigheit ausgeübt werde. Es war ihm, als blicke das bleiche Gesicht des Lehrers Silberlöffel, der gestern begraben worden war, ernst und traurig über die Köpfe und Schultern der Buben in den Kreis. Hans spie nicht in die Hand des Moses! Er schlug sie weg und streckte seine Faust den Kameraden entgegen. Wild schrie er, man solle den Moses zufrieden lassen, er – Hans Jakob –- leide es nicht, daß man ihm ferner Leid antue. Die Faust fiel auf die erste Nase, die sich frech näher drängte. Blut floß – ein verwickelter Knäuel! Püffe, Knüffe, Fußtritte, Wehgeheul! Wutgebrüll! Sausende Schneebälle, zerrissene Kappen und Jacken! Exaltierteste Aufregung des pensionierten Stadtbüttels! Elektrisches Erzittern des spanischen Rohres an der Wand! Übereinander und Durcheinander! Untereinander und Zwischeneinander! – Hernieder in den Laden des Trödlers Samuel Freudenstein rollten Moses und Hans, schwindlig, zerschlagen, mit blutenden Mäulern und verschwollenen Augen. Auch Moses Freudenstein hatte zum erstenmal in seinem Leben einen Schlag gegen seine Peiniger zu führen gewagt. Es war eine glorreiche Stunde, und ihr Einfluß auf das Leben von Hans Unwirrsch war unberechenbar im Guten wie im Bösen. Indem er aus dem wilden Gewühl der Gassenschlacht die Stufen in den Trödelladen hinabrollte, fiel er in Verhältnisse, welche unendlich wichtig für ihn werden sollten. In mehr als einer Hinsicht entschied sich sein Schicksal an diesen Tage; eine ganz andere Welt tat sich vor seinen Augen auf. Es wohnten seltsame Leute in dem Keller, Leute, die auch ihren Hunger hatten und ihn nach Kräften zu befriedigen suchten. Leute, über welche die Kröppelstraße sehr mit Unrecht sich erhaben dünkte.
Das nächste Kapitel soll uns zeigen, wer der Trödler Samuel Freudenstein war, dann werden wir bei Gelegenheit wohl auch erfahren, auf welche Weise er seinen Sohn Moses erzog und welche Ansichten von der Welt und von dem Leben in der Welt er ihm beizubringen strebte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor