Abschnitt. 2 - Hans zog in dieser Epoche das bewegte Leben der Gasse mit seinen Einzelheiten ...

Hans zog in dieser Epoche das bewegte Leben der Gasse mit seinen Einzelheiten dem häuslichen Glück, dem stillen, ungestörten Frieden der vier Wände bei weitem vor. O du schöne Zeit der schmutzigen Hände, der blutenden Nasen, der zerrissenen Jacken, der zerzausten Haare! Wehe dem Mann, der dich nicht kennenlernte! Es wäre ihm besser gewesen, er hätte manches andere nicht kennengelernt, welches die liebenden Verwandten und Freunde mit den finster-melancholischen Blicken ihm als sehr löblich, lieblich und rühmlich priesen und empfahlen.
Naturgemäß hielt sich Hans jetzt mehr an den Oheim Grünebaum als an die Mutter und die Base. Der wackere Flickschuster hatte manches, was ein jugendliches Gemüt anziehen konnte. In der Gesellschaft dieses würdigen Mannes wurde dem Neffen selten die Zeit lang.
Sehr schmutzig und vernachlässigt erschien jedem ordentlichen Weibe die Haushaltung und Umgebung des Oheims Grünebaum. In seiner Werkstatt sah es aus, als hätten die Hutzelmännchen nicht wohlwollend, sondern in grimmigster Erzürnung darin gehaust. Ein tolleres Kopfüber-Kopfunter kann man sich nicht leicht vorstellen, und wenn jemand hätte das Suchen lernen wollen, so hätte er hier die beste Gelegenheit dazu gehabt. Der Oheim Grünebaum verbrachte aber auch den größten Teil des Tages und seiner Arbeitszeit im vergeblichen Suchen. Das Gerät, welches er eben brauchte, war fast niemals zu finden, und das Wühlen und Rumoren danach brachte keine größere Ordnung in den Wirrwarr. Dazu schrien, pfiffen und sangen von den Wänden aus großen und kleinen Käfigen Vögel mannigfacher Art; ein Laubfrosch zeigte in seinem Glase am Fenster das Wetter an. Das politische Wetter aber zeigte sich der Meister Grünebaum selber an, indem er sich und seinen Vögeln den Postkurier für Stadt und Land mit lauter Stimme vorlas, was ebenfalls einen ziemlichen Teil seiner Arbeitszeit wegnahm. Der wackere Oheim Grünebaum schusterte nur gerade so eifrig und so lange, als nötig war, um sich und seine Vögel notdürftig zu erhalten und den Postkurier für Stadt und Land halten zu können. Seine Schoppen im Roten Rock ließ er öfter ankreiden, als für einen soliden Bürger und Handwerksmeister sich’s eigentlich schickte.
Für den Sohn des seligen Schwagers mangelte es dem guten Mann durchaus nicht an natürlicher Zuneigung. Mit Wohlwollen nahm er ihn auf in seinem verwahrlosten Loche und gab ihm gute Lehren über Welt und Leben, Vogelzucht und Politik nach seiner Art. Wenig verstand Hans von der Weisheit des Postkuriers für Stadt und Land, aber einzelne Namen wie Navarin, Missolunghi, Bozzaris, Ibrahim-Pascha nahm er doch mit offenem Munde in sich auf, und eine große Griechen-und-Türken-Schlacht wurde in der Kröppelstraße geschlagen; blutige Köpfe gab’s dabei, und Silberlöffel, der Armenlehrer, mußte viel Anzüglichkeiten darob von Seiten der erzürnten Eltern vernehmen.
Der Oheim Grünebaum war ein gewaltiger Philhellene, aber noch mehr war das der arme Karl Silberlöffel, welcher mit wahrhaft fieberhaftem Interesse dem blutigen Kampfe im fernen Osten folgte. Auch die Base Schlotterbeck war eine große Philhellenin, und in der Kröppelgasse gab es eigentlich nur einen Mann, der Partei für die Türken nahm, weil er die Griechen aus eigener Anschauung und Erfahrung kannte. Dieser Mann war Samuel Freudenstein, der Trödeljude, welcher einst weit genug in der Welt umhergekommen war und welcher von den „Höllönen“ fast noch weniger hielt als Jakob Philipp Fallmerayer, der orientalische Fragmentist. Der Trödler behielt aber seine Ansicht für sich und entging somit den mannigfachen Unannehmlichkeiten, welche der treffliche Münchener Gelehrte zu erdulden hatte.
Von dem Oheim Grünebaum wurde Hans übrigens zum ersten Male darauf aufmerksam gemacht, daß man dem Lehrer Silberlöffel wenigstens doch einigen Respekt schuldig sei. Unter meinen männlichen Lesern wird wohl niemand sein, der nicht weiß, was für eine Tyrannei in der Schule von Schulknaben ausgeübt werden kann und ertragen wird, der nicht weiß, was es um die »öffentliche Meinung« unter einer Bande solcher jungen Geister ist. Der Oheim Grünebaum war schuld daran, daß Hans Unwirrsch dieser öffentlichen Meinung in einem Falle die ganze Wucht seiner kleinen Persönlichkeit entgegenwarf und heldenmütig die Folgen davon ertrug. Zwischen Lehrern und Schülern herrscht dasselbe Verhältnis wie im Völkerverkehr. Was auch der Lehrer tun mag, um das Vernunftrecht zur Darstellung zu bringen, seine Schüler stützen sich immer wieder auf das Naturrecht. Ein immerwährender, scharf beobachtender Kriegszustand ist die Folge davon, und nicht immer hat der Lehrer die bessere Hand im Kampf gegen den rücksichtslosen Feind, dem jede Waffe recht ist und der kein Erbarmen kennt. Manch hochbegabte Natur ist schon in solchem Kampfe zugrunde gegangen.
„Hannes“, sagte der Oheim, „wenn ich in deiner Stelle wäre, so machte ich nicht mit die andern so ‘n tagtäglich heillos Spektakulum in der Schule, daß, wenn ‘n Mensch da vorbeigeht, er sich die Ohren zustopfen muß. Mich jammert der Magister in der Seele, und lange leben wird er auch nicht mehr. Die unglückselige, miserable Kreatur hustet sich zu Tode, und ihr gottverlassenen, inkomparabeln Satans brüllt ihn zu Tode. Hier mal vors Brett, Hans, und nicht ausgewichen! Was ist mit der Schule? Bist du mit bei dem Gebrüll und Getrampel und Spietakel? Junge, Junge, in deiner Stelle ginge ich in mir und bedächte, daß, wer ‘n Menschen umbringt, ‘n Mörder ist und daß ‘n toter Mensch einem sehr auf der Seele liegen kann, als was man dann nachher böses Gewissen nennt. Gehe in dich herein, Hannes, und bedenke, daß sich wohl ein Stiebel lange flicken, versohlen und vorschuhen läßt, daß aber noch kein Doktor ‘nen schwindsüchtigen Schulmeister, welchem seine Schlingel also grausam mitspielen wie ihr eurem, den Atem gerettet hat. Der Mensch jammert mich wirklich, und der Deibel nimmt die Graden und Ungraden, also gib Achtung, Hans, daß er dich nicht mit den andern Bälgern in den Sack steckt: das Recht hat er wohl gewiß schon längst dazu.“
Diese Rede machte auf Hans einen größeren Eindruck, als ihm der Oheim anmerkte. In einem günstigen Augenblick hatte dieser geredet, seine Worte waren nicht auf schlechten Boden gefallen und hatten eine bessere Wirkung als alle früheren Ermahnungen. Zum erstenmal dämmerte in der Brust des Kindes ein Gefühl, welches über den Egoismus des Kindes hinausging. Als Hans Unwirrsch am folgenden Morgen seinen Platz in dem Spritzenhause einnahm, sah er den Armenlehrer mit ganz andern Augen an; und da Silberlöffel an diesem kalten, unfreundlichen Regenmorgen noch jammervoller und hungriger als sonst aussah und noch mehr hustete, so erlosch das Gefühl nicht, sondern es wurde stärker – Hans Unwirrsch saß zu erstenmal still in der Schule.
An dem nächsten Komplott nahm Hans nicht teil, verfiel der allgemeinen Verachtung und kriegte fürchterliche Prügel, die ihn jedoch nur in seinen guten Vorsätzen bestärkten. Der Streich wurde natürlich auch ohne ihn ausgeführt und gelang vollkommen. Es war ein Hauptstreich, und die Befriedigung der jungen Taugenichtse und Galgenstricke war groß; der arme Lehrer, dessen Brustschmerzen an diesem Tage noch stärker als gewöhnlich waren, unterlag kraftlos, und der Blick hilfloser Verzweiflung, welchen er über die rebellische Schule schweifen ließ und welcher auch Hans Unwirrsch streifte, wurde von letzterem niemals vergessen; seine Wirkungen reichten bis in das späteste Alter.
Am nächsten Morgen kam der Lehrer nicht in das Spritzenhaus; er sollte es niemals wieder betreten. Ein Blutsturz war in der Nacht über ihn gekommen, und zum Sterben krank lag er auf seinem Bett in seiner schlechten, kalten Stube. Ein anderer nahm seine Stelle an dem Marterpult in der Armenschule ein; Karl Silberlöffel war aufgebraucht worden wie ein Rad in der Maschine. Ein anderes Rad wurde eingesetzt; langsam drehte sich das Ding weiter, und „unsere fortschreitende Bildung und humane Entwicklung“ war und blieb das Lieblingsthema manches wohlmeinenden Mannes.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor