Abschnitt. 1 - Johannes Jakob Nikolaus Unwirrsch war in seinem fünften Jahre ein kleiner, ...

Johannes Jakob Nikolaus Unwirrsch war in seinem fünften Jahre ein kleiner, plumper Gesell in einer Hose, welche auf Wachstum berechnet und zugeschnitten worden war. Er sah aus blaugrauen Augen fröhlich in die Welt und die Kröppelstraße, seine Nase hatte bis jetzt noch nichts Charakteristisches, sein Mund versprach sehr groß zu werden und hielt sein Versprechen. Das gelbe Haar des Jungen kräuselte sich natürlich und war das Hübscheste an ihm. Er hatte in jeder Beziehung einen ausgezeichneten Magen, wie alle die Leute, welche viel Hunger in ihrem Leben dulden sollen; er wurde mit dem größten Stück Schwarzbrot und dem vollsten Suppenteller fast noch leichter und schneller fertig als mit dem Abc. Von den beiden Weibern, der Mutter und der Base, wurde er natürlich sehr verzogen und als Kronprinz, Heros und Weltwunder behandelt und verehrt, so daß es ein Glück war, als der Staat sich ins Mittel legte und ihn für schulpflichtig erklärte. Hans setzte den Fuß auf die unterste Stufe der Leiter, welche an dem fruchtreichen Baum der Erkenntnis lehnt; die Armenschule tat sich vor ihm auf, und Silberlöffel, der Armenschullehrer, versprach an ihrer Tür der Base, daß das „Herzenskind“ weder von ihm selber noch von den Rangen, die seiner Zucht untergeben waren, totgeschlagen werden solle.
Mit dem Schürzenzipfel vor dem Auge zog die Base ab und tröstete sich erst, als ihr am Brunnen der Pastor Primarius Holzapfel, der im Jahr achtzehnhundertfünfzehn gestorben war, in seinem schwarzen Predigerrock mit Halskrause und Bibel begegnete. Die Base hatte den Pastor und seine Eltern sehr gut gekannt. Der Vater war ein Holzhauer gewesen, und die Mutter war im Spital zum Heiligen Geist gestorben; der Pastor Primarius aber, von dessen Ruhm und Preis die Stadt noch voll war, hatte auf demselben Platz in der Armenschule gesessen, zu welchem Silberlöffel den kleinen Hans führte.
In einem dunkeln Sackgäßchen, in einem einstöckigen Gebäude, welches einst als Spritzenhaus diente, hatte die Kommune die Schule für ihre Armen eingerichtet, nachdem sie sich so lange als möglich geweigert hatte, überhaupt ein Lokal zu so überflüssigem Zweck herzugeben. Es war ein feuchtes Loch; fast zu jeder Jahreszeit lief das Wasser von den Wänden; Schwämme und Pilze wuchsen in den Ecken und unter dem Pult des Lehrers. Klebrignaß waren die Tische und Bänke, die während der Ferien stets mit einem leichten Schimmelanflug überzogen wurden. Von den Fenstern wollen wir lieber nicht reden; es war kein Wunder, wenn sich auch in ihrer Nähe die interessantesten Schwammformationen bildeten. Ein Wunder war es auch nicht, wenn sich in den Händen und Füßen des Lehrers die allerschönsten Gichtknoten und in seiner Lunge die prachtvollsten Tuberkeln bildeten. Es war kein Wunder, wenn zeitweise die halbe Schule am Fieber krank lag. Hätte die Kommune auf jedes Kindergrab, welches durch ihre Schuld auf dem Kirchhof geschaufelt wurde, ein Marmordenkmal setzen müssen, so würde sie sehr bald für ein anderes Schullokal gesorgt haben.
Karl Silberlöffel, unterschrieb sich der Lehrer auf den Quittungen für die stupenden Geldsummen, welche ihm der Staat quatemberweise auszahlte. Ach, der Arme führte seinen Namen nur der Ironie wegen; er war nicht mit einem silbernen Löffel im Munde geboren worden. Er hätte dem Kultusministerium viel Stoff zum Nachdenken geben müssen, wenn nicht die verehrliche und hochlöbliche Behörde durch Wichtigeres abgezogen gewesen wäre. Wie kann sich die hohe Behörde um den Lehrer Silberlöffel bekümmern, wenn die Frage, welches Minimum von Wissen den untern Schichten der Gesellschaft ohne Schaden und Unbequemlichkeit für die höchsten gestattet werden könne, noch immer nicht gelöst ist? Noch lange Zeit werden die mit der Lösung dieser Frage beauftragten Herren die Volkslehrer als ihre Feinde betrachten und es als eine höchst abgeschmackte und lächerliche Forderung auffassen, wenn böswillige, revolutionäre Idealisten verlangen, auch ein hohes Ministerium möge seinen Feinden Gutes tun und sie zum wenigsten anständig kleiden und notdürftig füttern. O du gute alte Zeit, wo die Menschheit noch aus der Hand des einen Unteroffiziers in die des andern überging! O du gute alte Zeit, wo nicht allein die Armee unter dem Korporalstock stand!
Der Hungerpastor hat später noch einmal so gern seinen Schulmeister in Grunzenow zu seinem Sonntagsbraten, seiner Martinsgans und seinem Weihnachtspunsch eingeladen, wenn er sich seiner ersten Schultage und des Armenlehrers Silberlöffel erinnerte. Er hatte auch nichts dagegen, wenn der Schulmeister an der Ostsee einen Teil der guten, nahrhaften Dinge für seine sieben Buben daheim einsäckelte; er brachte ihm selbst die alte Zeitung dazu und half die Tüte in die enge Rocktasche zwängen.
In dem Spritzenhause zu Neustadt saßen rechts die Mädchen, links die Knaben. Zwischen diesen beiden Abteilungen lief ein Gang von der Tür zum Pult des Lehrers, und in diesem Gang hustete Silberlöffel auf und ab, ohne daß es irgendeinen in der jugendlichen Schar rührte. Lang, sehr lang war der Arme; hager, sehr hager war er; sehr melancholisch sah er aus, und das mit Recht. Ein anderer an seiner Stelle hätte sich in dem feuchten, kalten Räume munter und warm geprügelt; aber selbst dazu war er nicht mehr imstande. Seine schwachen Versuche in dieser Hinsicht galten nur für gute Spaße; seine Autorität stand unter Null. Ein herzzerreißender Vorwurf für alle Wohlgekleideten war der Anzug dieses verdienstvollen Mannes; der Hut führte mit seinem Besitzer eine wahre Tragödie auf. Zwischen beiden handelte es sich darum, wer den andern überdauern werde, und der Hut schien zu wissen, daß er gewinnen müsse. Ein diabolischer Hohn grinste aus seinen Beulen und Schrammen. Das Scheusal wußte, daß es auch noch den Nachfolger des armen, schwindsüchtigen Mannes überleben könne; es machte sich nicht das geringste aus dem Schimmel und Schwamm des Spritzenhauses.
Hans Unwirrsch trat mit keineswegs sentimentalen Gefühlen in die Gemeinschaft und das Gewimmel der Armenschule. Nachdem die erste Verblüffung und Blödigkeit überwunden war, nachdem er sich halbwegs hereingefunden hatte, zeigte er sich nicht besser als jeder andere Schlingel und nahm nach besten Kräften teil an allen Leiden und Freuden dieser preiswürdigen Staatseinrichtung. Er orientierte sich bald. Die Freunde und Feinde unter den Knaben waren schnell herausgefunden; gleichgeartete Gemüter schlossen sich an ihn, entgegenstehende Naturen suchten ihn an den Haaren aus seiner Weltanschauungsweise herauszuziehen, und im Einzelkampf wie in der allgemeinen Prügelei kam manches Leid über ihn, welches er aber als anständiger Junge ertrug, ohne sich hinter dem Lehrer zu verkriechen. Als anständiger Junge hatte er in dieser Lebensepoche gegen das weibliche Geschlecht auf den Bänken zur Rechten des Ganges im allgemeinen eine heilsame Idiosynkrasie. Er klebte den Mädchen gern Pech auf ihre Plätze und knüpfte ihnen gern paarweise verstohlen die Zöpfe zusammen; er verachtete sie höchlichst als untergeordnete Geschöpfe, die sich nur durch Geschrei wehrten und durch welche der Lehrer mehr über die linke Hälfte seiner Schule erfuhr, als den Buben lieb war. Von ritterlichen Regungen und Gefühlen fand sich anfangs in seiner Brust keine Spur, doch die Zeit, wo es in dieser Hinsicht anfing zu dämmern, war nicht fern, und bald machte wenigstens ein kleines Geschöpfchen von der andern Seite der Schule her seinen Einfluß auf Hans Unwirrsch geltend. Es kam die Zeit, wo er eine kleine Mitschülerin nicht weinen sehen konnte und wo er einen unbestimmten Hunger empfand, der nicht auf die großen Butterbrote und Kuchenstücke der benachbarten Straßenjugend gerichtet war; doch für jetzt steckte er frech die Hände in die Taschen der Pumphose, spreizte die Beine voneinander, stellte sich fest auf den Füßen und suchte sich soviel als möglich von der absoluten Herrschaft der Weiber zu befreien. Nicht mehr wie sonst saß er still und artig zu den Füßen der Base Schlotterbeck und horchte andächtig ihren Lehren und Ermahnungen, ihren Märchen und Kalendergeschichten, ihren biblischen Vorlesungen. Zum großen Mißbehagen der guten Alten fing er an, täglich mehr Kritik zu üben. Die Kalendergeschichten wußte er allesamt auswendig; kein Märchen konnte die Base beginnen, ohne daß Hans ihr ins Wort fiel, um Verbesserungen anzubringen oder nichtsnutzige, ironische Fragen zu stellen; gegen ihre guten Ermahnungen rückte er immer mit verwirrenden Einwänden hervor, welche die Base öfters ganz und gar aus der Fassung brachten. Wenn sich die treue Seele nach ihrer Art in einem langatmigen Geschlechtsregister der Bibel verwickelt hatte, so hatte Hans eine wahrhaft diabolische Lust daran und suchte die Arme immer tiefer und hilfloser in das Dornengestrüpp zu treiben, so daß sie oft ganz ärgerlich und giftig das Buch zuklappte und das einstige „kleine Lamm“ eine „nichtsnutzige, nasweise Kröte“ nannte. Hinter ihrem Rücken spielte er ihr allerlei Possen, ja er entblödete sich nicht, vor einem ausgewählten Publikum der Kröppelstraße, welches mit ihm im gleichen Alter stand, eine Vorstellung zu geben, in der er die Art der Base aufs komische nachäffte. Kurz, Hans Jakob Nikolaus Unwirrsch hatte jetzt eine Lebensstufe erreicht, auf welcher liebende Verwandte ihren hoffnungsvollsten Sprößlingen und jugendlichen Bekannten mit finster-melancholischen Blicken und warnenden Handbewegungen eine düstere Zukunft, den Bettelstab, das Gefängnis, das Zuchthaus und zuletzt, zum angenehmen Beschluß, den schimpflichen Tod am Galgen vorhersagen. Es ist auch in diesem Falle ein Glück, daß Prophezeiungen gewöhnlich nicht in Erfüllung gehen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor