Abschnitt. 3 - Doch die Tage verflossen nicht ganz allein unter Lesen und Geschichtenerzählen. ...

Doch die Tage verflossen nicht ganz allein unter Lesen und Geschichtenerzählen. Sobald Hans Unwirrsch seine Hände nicht mehr in halb unwillkürlichen Bewegungen hin und her warf oder in den Mund steckte, wurde er sogleich von der Mutter und der Base mit dem großen Prinzip der Arbeit bekannt gemacht. Die Base Schlotterbeck war ein kunstreiches Weib, welches sich dadurch einen kleinen Nebenverdienst verschaffte, daß es für eine große Spielwarenfabrik Puppen ankleidete, eine Beschäftigung, welche dem Interesse eines Kindes nahe genug lag und wobei Hans bald und gern hilfreiche Hand leistete. Herren und Damen, Bauern und Bäuerinnen, Schäfer und Schäferinnen und mancherlei andere lustige Männlein und Fräulein aus allen Ständen und Lebensaltern entstanden unter den Händen der Base, welche wacker mit Leim und Nadel, bunten Zeugstückchen, Gold- und Silberschaum hantierte und jedem sein Teil davon gab, je nach dem Preise. Es war eine philosophische Arbeit, bei welcher man mancherlei Gedanken haben konnte, und Hans Unwirrsch stellte sich gut dazu an, wenn ihm auch die Kinderfreude an diesem Spielzeug natürlich bald verlorenging. Wer in einem Laden voll Hampelmänner aufwächst, den kümmert der einzelne Hampelmann wenig, sei er auch noch so bunt und zappele er auch noch so sehr.
Nach Martini, welcher berühmte Tag leider nicht durch eine gebratene Gans gefeiert werden konnte, begann eine Fabrikation auf eigene Rechnung. Die Base konnte jetzt den größten Nutzen aus ihrem Talent für die plastische Kunst ziehen; sie baute Rosinenmänner auf Weihnachten und für bescheidenere Gemüter Pflaumenkerle. Der erste Bursche letzterer Art, welchen Hans ohne Beihilfe herstellte, machte ihm ein ebenso großes Vergnügen wie dem hoffnungsvollen Kunstjünger die Preisarbeit, die ihm ein Stipendium zur Reise nach Italien verschafft.
Der Beginn des Weihnachtsmarktes war für den kleinen Bildner ein großes Ereignis. Mancherlei Gefühle beschreibt der Epiker, indem er auseinandersetzt, daß er sie nicht beschreiben könne: die Gefühle Hansens bei dieser Gelegenheit waren von solcher Art, und mit Wonne trug er die Laterne voran, während die Base auf einem kleinen Handwagen ihre Bank, ihren Korb, ihr Feuerbecken und einen kleinen Tisch zu Markte zog.
Die Eröffnung des Geschäftes in dem vor dem schärfsten Wind geschützten Häuserwinkel war allein ein wundervolles Ereignis. Das Zusammenkauern unter dem großen, alten Regenschirm, das Anblasen der Glut in dem Kohlenbecken, das Aufstellen der Handelsartikel, der erste ruhige und doch erwartungsvolle Blick in das Getümmel des Marktes, alles hatte seine herzerschütternden Reize. Der erste Pflaumenkerl, der behandelt, verkauft und gekauft wurde, erweckte einen wahren Wonnesturm in der Brust von Schlotterbeck und Kompanie. Das Mittagessen, welches ein gutwilliges Kind aus der Kröppelstraße in einem irdenen Henkeltopf brachte, schmeckte ganz anders auf dem freien Markt als in der dunkeln Stube daheim; aber das Beste von allem war der Abend mit seinem Nebel, seinem Lichter- und Lampenglanz und seinem verdoppelten Lärmen, Drängen, Stoßen und Treiben.
Nicht immer konnte das Kind ruhig auf der Bank neben der Alten sitzen. Bezaubert – verzaubert trotz Kälte, trotz Regen und Schnee, unternahm es Streifzüge über den ganzen Markt und schob als Teilhaber der Firma Schlotterbeck und Kompanie sein Kinn jeder anderen Firma mit Bewußtsein und Kritik auf den Verkaufstisch.
Um acht Uhr kam die Mutter und holte den jüngern Kompagnon des Hauses Schlotterbeck nach Haus; aber nicht ohne Widerstreben, Heulen und Zappeln ging das ab, und nur die Versicherung, daß „morgen wieder ein Tag“ sei, konnte den kleinen Großhändler bewegen, der Base das Geschäft bis elf Uhr allein zu überlassen.
Ein Faktum aus dieser Lebenszeit unseres Helden ist zu berichten. Für den Erlös eines selbstverfertigten Rosinenmannes kaufte er – einen andern von einem Handelshause, welches sich am entgegengesetzten Ende des Marktes etabliert hatte. Ein Zug, der von großer Bedeutung für die künftige Entwicklung des Knaben war. Hans Unwirrsch, welcher die schwarzen Kerle für andere verfertigte, wollte wissen, was für ein Spaß darin liege, solch einen Gesellen selbst zu kaufen. Er ging dem Vergnügen auf den Grund, und natürlich zog er keine Freude aus diesem allzufrühen Analysieren. Als die Pfennige von dem Verkäufer eingestrichen waren und der Käufer das Geschöpf in der Hand hielt, kam die Reue in vollem Maße über ihn. Heulend stand er in der Mitte der Gasse, und zuletzt schleuderte er den Einkauf weit von sich und lief, die bittersten Tränen herunterschluckend, so schnell als möglich davon. Weder die Base noch die Mutter erfuhren, was aus dem Groschen, wofür man den ganzen Markt hätte kaufen können, geworden war.–
Manche Freuden hat der Winter, doch führt er auch die größten Beschwerden mit sich. Mit sehr armen Leuten haben wir es zu tun, und arme Leute leben gewöhnlich erst mit dem Frühjahr und den Maikäfern wieder auf. Hunderttausende, Millionen könnten jene glücklichen Tiere beneiden, welche die kalten Tage bewußtlos und behaglich durchschlafen.

Nach der Heiligen Weihnacht, welche so gut als möglich gefeiert wurde, kam der Neujahrstag, und nach ihm zogen die Heiligen Drei Könige heran. Die Schatten vieler Gestorbenen begegneten um diese Zeit der Base Schlotterbeck in den Gassen oder traten mit ihr in die Kirche und umschritten den Altar. Nach Maria Lichtmeß behaupteten einige Leute, daß die Tage länger würden, aber man merkte noch nicht viel davon. Um Maria Verkündigung jedoch war die Sache nicht mehr zu leugnen; die Schneeglöckchen hatten sich hervorgewagt, der Schnee hielt sich nicht mehr in der Welt, die Knospen schwollen und sprangen auf, die Nase der Base Schlotterbeck verlor viel von ihrer Röte; wenn die Mutter in der Frühe jetzt aufstand, so schien die Lampe nicht mehr durch einen frostigen Nebelkreis. Hans Unwirrsch schrie nicht mehr zeter am Waschnapf, seine Füße brauchten nicht mehr mit Gewalt in die Schuhe gezwängt zu werden. Das Warmsitzen wurde nicht mehr von groben Holzbauern in die Stadt gefahren und um ein „Sündengeld“ verkauft. Es kamen die Tage, wo die Sonne es umsonst gab und nicht einmal ein Schön-Dank dafür forderte. Der Palmsonntag war da, ehe man es sich versah, und das Osterfest knüpfte den Kranz, welchen das Fest der Freude, das grünende, blühende, jauchzende, jubilierende Pfingsten dem jungen Jahr auf die Stirn drückte. Die Base Schlotterbeck strickte ihre Strümpfe auf der Bank vor der Haustür, und Hans Unwirrsch beobachtete ernst und scheu den Trödler Freudenstein gegenüber, welcher seinen kleinen Moses, ein kränkliches, mageres, jämmerliches Stück Menschheit, wohl verpackt in Kissen und Decken, auf einem Rollstuhl in die Sonne schob.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor