Abschnitt. 2 - Die Base Schlotterbeck war, obgleich sie nicht älter war als die Frau Christine Unwirrsch, ...

Die Base Schlotterbeck war, obgleich sie nicht älter war als die Frau Christine Unwirrsch, immer die Base Schlotterbeck gewesen. Niemand in der Kröppelstraße kannte sie unter einer anderen Bezeichnung, und bekannt war sie in der Kröppelstraße wie der Alte Fritz, der Kaiser „Nahpohlion“ und der alte Blücher, wenngleich sie sonst mit diesen drei berühmten Helden weiter keine Ähnlichkeiten hatte, als daß sie schnupfte wie der preußische König und eine gebogene Nase hatte wie der „korsische Wüterich“. Eine Ähnlichkeit mit dem Marschall Vorwärts wäre schwer herauszufinden gewesen.
Die Base war früher ebenfalls Wäscherin gewesen, aber sie war nun längst ausrangiert und ernährte sich kümmerlich durch Spinnen, Strumpfstricken und ähnliche Arbeiten. Der Magistrat hatte ihr ein kärgliches Armengeld gewährt, und der Meister Anton, dessen sehr entfernte Verwandte sie war, hatte ihr das Stübchen, welches sie in seinem Hause bewohnte, aus Mildtätigkeit für ein billiges eingeräumt. Eigentlich verdiente sie, ein eigenes Kapitel in diesem Buche auszufüllen, denn sie hatte eine Gabe, welcher sich nicht jedermann rühmen kann: die Gestorbenen waren für sie nicht abgeschieden von der Erde, sie sah sie durch die Gassen schreiten, sie begegneten ihr auf den Märkten, wie man Lebendige sieht und unvermutet an einer Ecke auf sie stößt. Damit war für sie nicht der geringste Hauch von Unheimlichkeit verbunden; sie sprach davon wie von etwas ganz Natürlichem, Gewöhnlichem, und es gab durchaus keinen Unterschied für sie zwischen dem Bürgermeister Eckerlein, der im Jahre 1769 gestorben war und ihr in Beutelperücke und rotem Samtrock an der Löwenapotheke begegnete, und dem Enkel des Mannes, welcher im Jahre 1820 die Löwenapotheke besaß und welcher eben aus dem Fenster sah, ohne von seinem Herrn Großvater Notiz nehmen zu können.
Selbst den Bekannten und Bekanntinnen der Base Schlotterbeck erregte die „Gabe“ derselben zuletzt kein Grauen mehr. Die Ungläubigen hörten auf, darüber zu lächeln, und die Gläubigen – deren es eine gute Zahl gab – segneten sich nicht mehr und schlugen nicht mehr die Hände über dem Kopfe zusammen. Auf den Charakter des guten Weibleins selber hatte die hohe Vergünstigung keinen verschlechternden Einfluß. Die Base überhob sich nicht in ihrer seltsamen Sehergabe, sie nahm diese wie eine unverdiente Gnade Gottes und blieb demütiger als viele andere Leute, die lange nicht so viel sahen wie die ältliche Jungfer in der Kröppelstraße.
Was das Äußere anbetrifft, so war die Base Schlotterbeck mittlerer Größe, doch ging sie sehr gebückt und mit weit vorgeneigtem Kopfe. Die Kleider hingen an ihr wie etwas, das nicht recht an seinem Platz war, und ihre Nase war, wie schon gesagt, sehr scharf und sehr gebogen. Sie hätte einen unangenehmen Eindruck gemacht, diese Nase, wenn die Augen nicht gewesen wären. Die Augen machten alles wieder gut, was die Nase sündigte; es waren merkwürdige Augen und sahen ja auch merkwürdige Dinge. Klar und leuchtend blieben sie bis in das höchste Alter – blaue, junge Augen in einem alten, alten, vertrockneten Gesichte! Hans Unwirrsch hat sie nie vergessen, obgleich er später in noch viel schönere Augen sah.
Den Wissenschaften war die Base Schlotterbeck in naiver Weise ergeben. Sie hatte einen ungeheuren Respekt vor der Gelahrtheit, und vorzüglich vor der Gottesgelahrtheit; der kleine Hans verdankte ihr die erste Einführung zu allen Wissenschaften, deren er sich in kommender Zeit mehr oder weniger bemächtigte. Den Gebrüdern Grimm hätte sie Märchen erzählen können, und wenn die böse Königin der gehaßten Stieftochter die goldene Nadel in den Scheitel stieß, so fühlte Hans Unwirrsch die Spitze bis in das Zwerchfell hinunter.
Unzertrennliche Genossen waren Hans und die Base während der ersten Lebensjahre des Knaben. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend vertrat die Geisterseherin Mutterstelle bei dem Kinde; ohne ihren Rat und ihren Beistand geschah nichts, was auf es Bezug hatte; manchen Hunger stillte sie, doch manchen Hunger lernte Johannes Unwirrsch auch durch sie kennen. Der Oheim Grünebaum brummte oft genug bei seinen Besuchen, aus solchem Weiberverkehr könne nichts Gutes kommen, der Teufel nehme die Graden und die Ungraden; Schrullen, Phantasien und Gespensterimaginationen könnten einem Menschen nichts helfen und machten ihn nur zu einem Konfuzius und Konfusionsrat: „Dummes Zeug! Und dabei bleibe ich!“
Die Base zuckte zur Antwort auf solche Anfälle nur die Achseln, und Hans kroch dichter an sie heran. Brummend, wie er gekommen war, zog der Oheim ab; – er hielt sich für einen ungemein praktischen und klaren Kopf und blies Verachtung durch die Nase, ohne zu bedenken, daß das beste Pfeifenrohr verschlammen kann.

Hans Unwirrsch war ein frühreifes Kind und lernte das Sprechen fast eher als das Gehen; das Lesen lernte er spielend. Die Base Schlotterbeck verstand die letztere schwere Kunst sehr gut und stolperte nur über allzu lange und allzu ausländische Worte. Sie las gern laut und mit einem näselnden Pathos, welches den größten Eindruck auf das Kind machte. Ihre Bibliothek bestand in der Hauptsache aus Bibel, Gesangbuch und einer langen Reihe von Volkskalendern, welche sich seit dem Jahre siebenzehnhundertneunzig in ununterbrochener Reihenfolge aneinanderschlossen und deren jeder eine rührende oder komische oder schauerliche Historie nebst einem Schatz guter Haus- und Geheimmittel und einer feinen Auswahl lustiger Anekdoten enthielt. Für eine reizbare Kinderphantasie lag eine unendlich reiche Welt in diesen alten Heften verborgen, und Geister aller Art stiegen daraus empor, lächelten und lachten, grinsten, drohten und führten die junge Seele durch die wechselndsten Schauer und Wonnen. Wenn der Regen an die Scheiben schlug, wenn die Sonne in die Stube schien, wenn das Gewitter mit schwarzen Wolkenarmen über die Dächer griff und seine roten Blitze über die Stadt schleuderte, wenn der Donner rollte und der Hagel auf dem Straßenpflaster prasselte und hüpfte, so geriet alles das auf irgendeine Weise mit Gestalten und Szenen aus jenen Kalendern in Verbindung, und die Helden und Heldinnen der Historien schritten durch gutes und schlechtes Wetter vollständig klar, deutlich und bestimmt vorüber an dem kleinen, träumerischen Hans, der seinen Kopf in den Schoß der alten Geisterseherin gelegt hatte. Die Geschichte „Vom braven Kasperl und dem schönen Annerl“ gab einen Klang, welcher durch das ganze Leben forttönte; aber einen noch größeren Eindruck machte auf den Knaben das „Buch der Bücher“, die Bibel. Die einfache Großartigkeit der ersten Kapitel der Genesis muß die Kinder wie die Erwachsenen, die geistig Armen wie die Millionäre des Geistes überwältigen. Unendlich glaubwürdig sind diese Historien vom Anfang der Dinge, und glaubwürdig bleiben sie, trotzdem jeden Tag klarer bewiesen wird, daß die Welt nicht in sieben Tagen erschaffen wurde. Mit schauerlichem Behagen vertiefte sich Hans zu den Füßen der Base in den dunklen Abgrund des Chaos: Und die Erde war wüste und leer; – bis das Licht sich schied von der Finsternis und das Wasser unter der Feste von dem Wasser über der Feste. Wenn Sonne, Mond und Sterne ihren Tanz begannen, Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre gaben, dann atmete er wieder auf; und wenn die Erde Gras und Kraut und Fruchtbäume aufgehen ließ, wenn das Wasser, die Luft und die Erde sich erregten mit webenden und lebendigen Tieren, dann klatschte er in die kleinen Hände und fühlte sich auf sicherem Boden. Ganz deutlich und von unumstößlicher Wahrheit war ihm die Art, wie Gott dem Adam den Odem einblies, während dagegen der erste kritische Zweifel in dem Kindeskopf entstand, als das Weib aus der Rippe des Mannes erschaffen wurde; denn „das tat doch weh!“
Auf die einfachen Geschichten vom Paradies, Kain und Abel, von der Sündflut folgten aber die Geschlechtsregister mit den langen, schwierigen Namen. Diese Namen waren wahre Dornbüsche für Vorleserin und Zuhörer; es waren Fallgruben, in welche sie Hals über Kopf hineinstürzten, es waren Steine, über welche sie stolperten und auf die Nase fielen. Immer wanden sie sich los, rafften sie sich auf und arbeiteten sie sich weiter mit ehrfürchtiger Feierlichkeit: „Aber die Kinder von Gomer sind diese: Askenas, Riphath und Thogarma. Die Kinder von Javan sind diese: Elisa, Tharsis, Chittim und Dodanim.“


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor