Abschnitt. 1 - Die Alten meinten, es sei für ein großes Glück zu achten, wenn die Götter einen ...

Die Alten meinten, es sei für ein großes Glück zu achten, wenn die Götter einen in einer berühmten Stadt geboren werden ließen. Da aber dieses Glück sehr berühmten Männern nicht zuteil geworden ist, indem Bethlehem, Eisleben, Stratford, Kamenz, Marbach und so weiter vordem nicht grade glänzende Punkte in der Menschen Gedenken waren, so wird für Hans Unwirrsch wenig darauf ankommen, wenn er in einem Städtchen namens Neustadt das Licht der Welt erblickte. Es gibt nicht wenige gleichbenannte Städte und Städtchen; aber sie haben sich nicht um die Ehre, unsern Helden zu ihren Bürgern zu zählen, gezankt. Johannes Jakob Nikolaus Unwirrsch machte seinen Geburtsort nicht berühmter in der Welt.
Zehntausend Einwohner hatte das Nest im Jahre 1819; heute hat es hundertundfünfzig mehr. Es lag und liegt in einem weiten Tal, umgeben von Hügeln und Bergen, von denen herab Wälder sich bis in die Stadtmarkung ziehen. Trotz seines Namens ist es nicht neu mehr; mühsam hat es seine Existenz durch wilde Jahrhunderte gerettet und genießt jetzt eines ruhigen, schläfrigen Greisenalters. Die Hoffnung, noch einmal zu etwas Rechtem zu kommen, hat’s allmählich aufgegeben und fühlt sich darum nicht unbehaglicher. In dem kleinen Staate, welchem es angehört, ist es immer ein Faktor, und die Regierung nimmt Rücksicht auf es. Der Klang seiner Kirchenglocken machte einen angenehmen Eindruck auf den Wanderer, der auf der nächstgelegenen Höhe aus dem Walde trat; und wenn sich grade die Sonne in den Fenstern der beiden Kirchen und der Häuser spiegelte, so dachte derselbe Wanderer selten daran, daß nicht alles Gold ist, was glänzt, und daß Glockenklang, fruchtbare Felder, grüne Wiesen und eine hübsche kleine Stadt im Tal noch lange nicht genug sind, um ein Idyll herzustellen. Amyntas, Palämon, Daphnis, Doris und Chloe konnten sich das Leben drunten im Tal oft recht unangenehm machen. Da das Lämmerweiden und -scheren ein wenig aus der Mode gekommen ist, so fiel man sich einander gegenseitig in die Wolle, und es mangelte nicht an Scherereien aller Art. Aber man freite und ließ sich freien und kam, alles in allem genommen, doch ziemlich gemächlich durch das Leben; – daß die Lebensbedürfnisse nicht unerschwinglich teuer waren, trug wohl sein Teil dazu bei. Der Teufel hole den ganzen Geßner, wenn Obst und Most mißraten und Milch und Honig rar sind in Arkadien!
Doch wir werden wohl noch Gelegenheit finden, über dies alles hie und da einige Worte zu verlieren, und wenn nicht, so schadet es nichts. Für jetzt müssen wir uns zu dem jungen Arkadier Hans Unwirrsch zurückwenden und sehen, auf welche Weise er sich im Leben zurechtfindet.
Eine recht ungebildete Frau war die Witwe des Schusters. Lesen und schreiben konnte sie kaum notdürftig, ihre philosophische Bildung war gänzlich vernachlässigt, sie weinte leicht und gern. In der Dunkelheit geboren, blieb sie in der Dunkelheit, säugte ihr Kind, stellte es auf die Füße, lehrte ihm das Gehen, stellte es für das ganze Leben auf die Füße und lehrte ihm für das ganze Leben das Gehen. Das ist ein großer Ruhm, und die gebildetste Mutter kann nicht mehr für ihr Kind tun.
In einem niederen, dunkeln Zimmer, in das wenig frische Luft und noch weniger Sonne drang, erwachte Hans zum Bewußtsein, und dies war in einer Hinsicht gut; er fürchtete sich später nicht allzusehr vor den Höhlen, in welchen die bei weitem größere Hälfte der an den Segnungen der Zivilisation teilnehmenden Menschheit ihr Dasein hinbringen muß. Sein ganzes Leben hindurch nahm er Licht und Luft für das, was sie sind, Luxusartikel, die das Geschick gibt und verweigert und welche es lieber zu verweigern als zu geben scheint.
Die nach der Gasse gelegene Stube, welche zugleich des Meisters Anton Werkstatt gewesen war, wurde unverändert in ihrem vorigen Zustande erhalten. Mit ängstlicher Sorgfalt wachte die Witwe darüber, daß nichts von ihres Seligen Arbeitsgerät verrückt wurde. Der Oheim Grünebaum hatte zwar das ganze überflüssige Handwerkszeug für einen namhaften Preis an sich kaufen wollen; aber die Frau Christine konnte sich nicht entschließen, irgendein Stück davon herzugeben. In allen ihren Feierstunden saß sie auf ihrem gewohnten Platz neben dem niedrigen Schustertisch, und am Abend konnte sie, wie wir wissen, nur beim Licht der Glaskugel stricken, nähen oder das große Gesangbuch durchbuchstabieren.
Die arme Frau mußte sich jetzt sehr quälen, um sich und ihr Kind ehrlich durchzubringen; in der kleinen Schlafkammer, deren Fenster nach dem Hofe hinaussahen, lag sie manche Nacht wachend in großen Sorgen, während Hans Unwirrsch in seines Vaters großer Bettstatt von den großen Butterbroten und den Semmeln glücklicherer Nachbarskinder träumte. Der weise Meister Grünebaum tat an seinen Verwandten, was er konnte; aber das Handwerk hatte für ihn nicht den Segen, den man nach jedem Kinderfreund davon erwarten möchte; er hielt allzugern allzulange Reden im Roten Bock, und seine Kunden vertrauten ihm lieber ein Paar kranke Stiefel zum Kurieren an, als daß sie ein neues Paar bei ihm bestellten. Er hielt selber mit Mühe den Kopf überm Wasser; – mit seinem Rat aber hielt er nicht zurück, sondern gab ihn willig und in großen Quantitäten; und leider müssen wir das nicht ungewöhnliche Faktum berichten, daß die Quantität meistenteils durchaus nicht im richtigen Verhältnis zur Qualität stand. Die Base Schlotterbeck, obwohl lange nicht so weise wie der Meister Grünebaum, war praktischer, und auf ihren Rat wurde die Frau Christine eine Wäscherin, welche des Morgens zwischen zwei und drei Uhr aufstand und am Abend um acht todmüde und zerschlagen nach Hause kam, um den ersten, den physischen Hunger ihres Kindes stillen und seine Träume in die Wirklichkeit setzen zu können.
Hans Unwirrsch behielt aus dieser Zeit seines Lebens dunkle, unbestimmte, wunderliche Erinnerungen und hat davon seinen nächsten Freunden Bericht gegeben. Von frühester Jugend an hatte er einen leisen Schlaf, und so erwachte er auch öfters von dem Lichtschein des Schwefelhölzchens, mit welchem seine Mutter in dunkler, kalter Winternacht ihre Lampe anzündete, um sich zu ihrem frühen Wege zu rüsten. Warm lag er in seinen Kissen und rührte sich nicht, bis die Mutter sich über ihn beugte, um nachzusehen, ob sie den kleinen Schläfer auch nicht durch das Klappern der Pantoffeln erweckt habe. Dann schlug er seine Arme um ihren Hals und lachte, bekam einen Kuß und die Ermahnung, schnell wieder einzuschlafen, da es noch lange nicht Tag sei. Dieser Ermahnung folgte er entweder sogleich oder erst später. Im zweiten Fall beobachtete er durch halbgeschlossene Augenlider die brennende Lampe, die Mutter und die Schatten an der Wand.
Merkwürdigerweise stammten diese frühen Erinnerungen fast alle aus der Zeit des Winters. Um die Flamme der Lampe war ein Dunstkreis, der Atem fuhr in einer Wolke gegen das Licht; die gefrorenen Fensterscheiben flimmerten, es war bitter kalt, und in das Behagen des sichern, warmen Bettes mischte sich für den kleinen Beobachter das Grauen der bitteren Kälte, vor welchem er sein Näschen unter die Decke ziehen mußte.
Begreifen konnte er nicht, weshalb die Mutter so früh aufstehe, während es so dunkel und kalt war und während so tolle schwarze Schatten an der Wand vorübergingen, nickten, sich aufrichteten und sich beugten. Noch unbestimmtere Begriffe hatte er von den Orten, wohin die Mutter ging; je nach seinen Gemütsstimmungen stellte er sich diese Orte mehr oder weniger angenehm vor und vermischte damit allerlei Einzelheiten der Märchen und allerlei Bruchstücke aus den Gesprächen der erwachsenen Leute, denen er gelauscht hatte und die sich jetzt in diesen unklaren Augenblicken zwischen Schlaf und Wachen bunt und immer bunter färbten und mischten.
Endlich war die Mutter mit ihrem Ankleiden fertig, und noch einmal beugte sie sich über das Lager des Kindes. Abermals erhielt es einen Kuß, allerlei gute Ermahnungen und lockende Versprechungen, damit es stilliege, nicht heule, schnell wieder einschlafe. Die Versicherung, daß der Morgen und die Base Schlotterbeck bald kommen würden, wurde hinzugefügt; die Lampe wurde ausgeblasen, die Kammer versank in die tiefste Dunkelheit, die Tür knarrte, die Schritte der Mutter entfernten sich; – schnell war der Schlaf wieder da, und wenn Hans zum zweitenmal erwachte, saß die Base gewöhnlich vor seinem Bett, und in der Stube nebenan prasselte das Feuer im Ofen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor