Abschnitt. 3 - In die dornigen Wüsteneien der Kasuistik führte ihn der Doktor und Professor ...

In die dornigen Wüsteneien der Kasuistik führte ihn der Doktor und Professor Mundrecht, und in diesem Kolleg traf er stets mit einem eifrigen Hospitanten, dem Philosophen Moses Freudenstein, zusammen, welcher bereits so viel Fetzen seines besseren Selbstes an den Büschen hatte hängenlassen, daß ihm der Geistesglanz dieses helleuchtenden Kirchenlichtes wenig mehr schaden konnte.
Die Jahreszeiten wechselten nach altgewohnter Weise; vorwärtsstrebten beide jungen Männer, jeder in seiner Art, mit nie erlöschendem Hunger nach dem Wissen. Beim Beginn jeder Ferien schnürte Hans seinen Ranzen mit hoher Freude zur Fahrt nach der Heimat und steuerte derselben manchmal auf einem kleinen Umwege, aber immer mit dem nämlichen Behagen entgegen. Und jedesmal trat er mit lichterm Haupt und mit erweitertem Herzen in den kleinen, engen Kreis der treuen, beschränkten Menschen, die er hinter sich zurückgelassen hatte, die er aber nicht verachtete, wie Moses sie verachtete. Letzterer kehrte während seiner Studienzeit nicht nach Neustadt zurück; das Nest mit all seinen Erinnerungen war ihm sehr zuwider. Fest verriegelte er sich in den Ferien in seinen Zimmern und kam beim Wiederbeginn der Vorlesungen jedesmal skeptischer und sarkastischer in betreff dessen, was Alma mater ihren Kindern zu bieten hatte oder bieten wollte, zum Vorschein.
So kam endlich für Hans und Moses das letzte Halbjahr ihrer Universitätszeit heran. Um Michaelis sollte Hans in der Heimat das Examen als Kandidat der Gottesgelahrtheit machen, und da er das Seinige getan hatte, so sah er diesem kritischen Moment trotz des Professors Vogelsang und anderer schwer zu befriedigender Gemüter mit ziemlicher Gelassenheit entgegen.
Zu Anfang desselben Semesters schrieb Moses eine famose Doktordissertation über die „Materie als Moment des Göttlichen“ und verteidigte seine Meinungen darüber, indem er die These ganz allmählich umdrehte und das Göttliche zu einem Moment der Materie machte, vor einer zahlreichen Versammlung in klassischem Latein. Das Schriftstück sowie die Disputation erregten viel Lärm, und viel Staub wurde durch dieselben aufgewirbelt; der israelitische Schlaukopf aber grinste nicht wenig durch den Dunst, der von den Häuptern der Pneumatomachoi (Geisttotschläger), wie der Schurke seine ehrwürdigen Lehrer nannte, aufstieg. Als Doctor philosophiae stieg aber auch Moses Freudenstein aus dem Dunste der Aula empor; sein Ruf war groß in den letzten Tagen seiner studentischen Laufbahn, und soweit er nicht berühmt war, war er berüchtigt; – von Hans Unwirrsch sprach niemand, und durch seinen Abgang fühlte sich niemand bedrückt und niemand erleichtert.
Bis jetzt hatte Moses auf alle Fragen, was er inskünftige mit seinem Leben zu beginnen gedenke, nur durch ausweichende Redensarten geantwortet, oder er hatte auch wohl die fabelhaftesten Pläne mit treuherzigstem Ernst dem guten Hans zur Begutachtung vorgelegt. Nach seiner Promotion erklärte er eines Abends ganz beiläufig:
„Ah, ehe ich’s vergesse, Hans; übermorgen gehe ich nach Paris: heute nachmittag hab ich den Paß von der französischen Gesandtschaft in erhalten. Fall nicht vom Stuhl, mein Junge! Siehst du irgend etwas außergewöhnlich Interessantes an meiner Nase? Was starrst du mich so an?“
Hans Unwirrsch machte wirklich ein verwunderungsvolles Gesicht; wenn der Professor Vogelsang auf seinem Katheder plötzlich das Lied: Mein Lebenslauf ist Lieb und Lust, angestimmt hätte, würde ihn Hans auf ungefähr gleiche Weise angeblickt haben. Erst als Moses ihm den Paß unter die Nase hielt, glaubte er, was er vernommen hatte.
„O Moses, Moses, was willst du dort?“ rief er endlich, und Moses antwortete:
„Das Schwimmen will ich dort lernen. Wir Deutsche sind seltsame Fische; eine Quabbenart mit ungeheuern Geistesflossen, mit denen sich ein ungeheuerliches Geplätscher machen läßt. Wenn nur nicht die Pfützen, in denen wir unser jämmerliches Dasein hineinbringen, so seicht, so eng wären! Was ist Deutschland anders als ein Strand, von welchem sich die Flut zurückgezogen hat? Hier ein Sumpf, dort ein Sumpf voll elender Geschöpfe, glotzäugig, quabbelig, dumm und zufrieden mit ihrer jämmerlichen Pfuhlexistenz, trotzdem daß sie alle Augenblicke auf dem Trockenen schnappen. Ich danke dafür; ich habe die Ahnung des großen Meeres noch nicht verloren und bin so gottverlassen und unpatriotisch, mich danach zu sehnen. Ich will einmal weiteres Wasser für meine Flossen suchen, Hänschen. Was meinst du, wenn du den Ausflug nach Sodom und Gomorra mitmachtest, frommer Hans?“
„Über Sodom und Gomorra steht das Tote Meer“, sagte Hans, der sich allmählich wieder beruhigt hatte und sehr nachdenklich dasaß, „Moses, wenn deine ersten Vergleiche richtig waren, so hast du das durch dein letztes Wort umgestoßen.“
„Bravo!“ lachte Moses. „Sei nur ruhig, du sanftes theologisches Gemüt, ich will dich deinem behaglichen Sumpf nicht entreißen; aber jetzt komm mit mir, wir wollen auf den Schrecken eine Flasche Wein trinken – ich stehe sie.“
Moses Freudenstein „stand“ wirklich die Flasche Wein, und dies Faktum wäre vielleicht für mehr als einen von denen, welche die Ehre seiner Bekanntschaft genossen, das sicherste Zeichen davon gewesen, daß er ein außergewöhnliches Vorhaben in seinem Busen bewege.
Am bezeichneten Tage stieg er wirklich in den Postwagen und fuhr ab gen Westen, und sehr bewegt blieb Hans auf den Stufen der Tür des Posthauses zurück. Er konnte es törichterweise noch immer nicht fassen, daß die beiden Wege, welche so lange nebeneinander hergelaufen waren, sich jetzt, vielleicht für alle Zeit, getrennt hatten. Es war ihm wie ein Traum, in welchem selbst das Natürliche, ganz Gewöhnliche in unbegreiflichen, seltsamen, verwirrenden Farben spielt.
Eine große Lücke war in Hans Unwirrschs Leben entstanden, und schwer, schwer vermißte er trotz allen seinen unliebenswürdigen Eigenschaften diesen „Freund“, welcher die Existenz des Jugendgenossen wahrscheinlich noch vor dem ersten Pferdewechsel vergessen hatte. Er zog sich noch mehr als sonst aus dem Leben zurück und verbrachte seine Tage in angestrengter Arbeit; er verfiel in einen trüben, ungesunden Zustand, aus welchem er erst gegen Ende des Semesters durch einen Brief gerissen wurde, der ihm zeigte, daß in seinem Dasein noch größere Lücken entstehen konnten.
Dieser Brief kam vom Oheim Grünebaum, und Hans fand ihn, an einem grauen Abend von einem langen Spaziergang heimkehrend, auf seinem Tisch.
Wenn der Oheim Grünebaum schrieb, so schrieb er wenig anders, als er sprach.
Der Brief lautete folgendermaßen:
„Liebwertester Nevö!
Teuerster Bruder Studio!
Wenn Du, wie nicht zu erwägen steht, von wegen Deines seligen Vaters in Erfahrung gebracht haben wirst, daß der Mensch nicht ewig lebt allhier auf dieser Erde, sondern daß des Menschen Leben seine Zeit währet und er schon zufrieden sein muß, wenn er nicht schon vor der Zeit abfährt und nach dem Kirchhof abgefahren wird, und sintemalen und alldieweilen Du nun, mit Respekt zu sagen, ein angehender Pastore bist und in Gottes Wort erzogen bist und sonsten ein verträgliches Gemüt und patibeles Temperament hast, so verhoffen wir, als wie ich, Deine Mutter und die Base Schlotterbeck, daß Du dieses Schreiben Dir nicht zu sehr zu Herzen nehmen wirst. Denn mit Deiner Mutter steht es schlecht! Wir haben länglich geschwiegen, weil es leise anging und wir vermeinten, es solle besser werden, ehe wir Dir Nachricht von das Malör gäben, aber nun ist’s aus und am Ende, schlechter kann’s nicht werden, und wir vermelden es Dir hiermit, Du mußt den Bündel auf den Buckel laden und als ein geistlicher Mensche zeigen, daß Du den Trost nicht bloß für andere in der Tasche trägst und mits Schnupptuch herfürziehst. Habe Dir also nicht zu schrecklich und unvernünftig über das, was in diesem selbigen Brief Dir zukommt! Deiner Mutter, der guten Seele, ist es denn doch wohl zu gönnen, daß sie einen sanften Tod hat und sich nicht allzu elend und langweilig hinquälen muß, ehe ihr der Odem stillesteht. Aber der Doktor sagt, es kann nicht sein, und sie wird noch viel Drangsal leiden, ehe und bevor der liebe Gott sie zu sich nimmt. Du mußt Dich also darin finden, mein Junge, laß es gehen, wie’s geht, ich sage nichts weiter. Die Frau hat aber grausame Sehnsucht nach Dir, und wenn Du abkommen kannst von Deine Gelehrsamkeit und Deine Herren Lehrerprofessors Dich loslassen wollen, so wäre es uns sehr angenehmlich, wenn Du Dein Wanderbuch so schnell als möglich hierherfisieren lassen wolltest. Deine Mutter hat es wohl um Dich verdient, daß sie Trost an Dir hat in ihre letzten Tage und große Schmerzen, denn sie hat die zurückgetretene Gicht, und das Wasser und Waschen hat ihr den Dampf angetan, was was Schreckliches ist. Mache Dich also somit auf die Wanderschaft und komm eilends hierher, wo wir in großer Not Deiner erwarten.
Sonsten ist noch alles wie sonst, aber es ist nicht viel Pläsier mehr in der Welt und in den Zeitungen auch nicht mehr. Es waren ganz andere Zeiten, als ich und Deine Mutter noch solch jung Volk waren wie Du anjetzo, und Dein Vater, auch ein jung Blut, um Deine Mutter freiete, welches mir ist wie heute, und kann noch nicht daran glauben, wenn ich bedenke, daß der Anton schon so lange tot ist, und wenn ich die Christine, will sagen, Deine Mutter ansehe, wie sie da liegt.
Komm also schnell und behalte bis dahin in guten Gedanken Deinen geliebten Oheim und Paten
Niklas Grünebaum,
Schuhmachermeister.“
Der Blitz, welcher zu den Füßen Hans Unwirrschs einschlug, betäubte ihn nur auf kurze Zeit, er stand auf den Füßen und horchte auf den feierlich verrollenden Donner. Hans, der so leicht vor jeder rauhen Berührung zurückwich, wich nicht, als sich die Hand des Unglücks nun wirklich grimmig gegen ihn ausstreckte. Er packte seine Zeugnisse und wenigen Habseligkeiten mit Überlegung zusammen und zog fort von der Universität nach dem alten Neustadt zum Sterbebett der Mutter.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor