Abschnitt. 2 - Moses Freudenstein stand natürlich dem deutschen Vaterland ebenso ...

Moses Freudenstein stand natürlich dem deutschen Vaterland ebenso objektiv gegenüber wie allem andern, worüber sich reden ließ. Über seine Stellung ließ er sich ungefähr folgendermaßen aus:
„Ich habe das Recht, nur da ein Deutscher zu sein, wo es mir beliebt, und das Recht, diese Ehre in jedem mir beliebigen Augenblick aufzugeben. Wir Juden sind doch die wahren Kosmopoliten, die Weltbürger von Gottes Gnaden oder, wenn du willst, von Gottes Ungnaden. Seit der Erschaffung bis zum Zehnten des Monats Ab im Jahre siebenzig eurer Zeitrechnung haben wir eine Ausnahmestellung innegehabt, und nach der Zerstörung des Tempels ist uns dieselbe geblieben, wenn auch in etwas veränderter Art und Weise. Durch lange Jahrhunderte hatte diese Ausnahmestellung ihre großen Unannehmlichkeiten für uns; jetzt aber fangen die angenehmen Seiten des Verhältnisses an, zutage zu treten. Wir können ruhig stehen, während ihr euch abhetzt, quält und ängstet. Die Erfolge, welche ihr gewinnt, erringt ihr für uns mit, eure Niederlagen brauchen uns nicht zu kümmern. Wenn wir in den Kampf eintreten, so ist es immer nur, sozusagen, die Hand des Pococurante, die wir dazu bieten. Wir sind Passagiere auf eurem Schiff, das nach dem Ideal des besten Staates steuert; aber wenn die Barke scheitert, so ertrinkt nur ihr; – wir haben unsere Schwimmgürtel und schaukeln lustig und wohlbehalten unter den Trümmern. Seit man uns nicht mehr als Brunnenvergifter und Christenkindermörder totschlägt und verbrennt, sind wir viel besser gestellt als ihr alle, wie ihr euch nennen mögt, ihr Arier: Deutsche, Franzosen, Engländer. Einzelne Narren unter uns mögen diese günstige Stellung aufgeben und sich um ein Adoptivland zu Tode grämen à la Löb Baruch, germanice Ludwig Börne; mein Freund Harry Heine in Paris bleibt trotz seines weißen Katechumenengewandes ein echter Jude, dem alles Taufwasser, aller französische Champagner und deutsche Rheinwein das semitische Blut nicht aus den Adern spült. Weshalb sollte er deutsche Schmach und Schande nicht mit einem Anhauch von Wehmut verspotten? Jede Dummheit und Niederträchtigkeit, die man diesseits des Rheins begeht, ist ja ein Gottessegen für ihn!“
Wie Hans Unwirrsch während solcher Auseinandersetzung auf dem Stuhle hin und her rutschte, wie er vergeblich versuchte, den Redner zu unterbrechen, ist kaum zu beschreiben. Und wenn Moses endlich eine Pause machte, um Atem zu schöpfen, zog Hans doch keinen Vorteil daraus; er war ebenso atemlos wie der Redner und brachte kaum einige klägliche Interjektionen und das Wort „Egoismus“ heraus.
Egoismus?! Moses Freudenstein hatte das Wort natürlich sogleich aufgefangen und ging mit frischer Kraft ins Zeug:
„Egoismus? Du nennst das so; aber beschau nur die Sache näher. Die Philosophie der Geschichte nicht weniger als die Philosophie des Individuums gibt mir recht. Ich sage übrigens ja gar nicht, daß der Vorteil unserer gegenwärtigen Stellung darin bestehe, daß wir bei euren Haupt- und Staatsaktionen schadenfroh oder achselzuckend mit dem bekannten Spiel des Daumens als Zuschauer im Circus maximus sitzen. Wir können auch für irgendeine schöne, hohe Sache, zum Beispiel Schicksal, Ehre und Glück der deutschen Nation in die Arena hinabsteigen und Elend und Tod dafür auf uns nehmen. Unser Vorteil besteht gerade auch darin, daß wir mit einem freieren, geistigeren animus in solches Elend, in solchen Tod gehen. Ihr kämpft und leidet pro domo; wir opfern uns für einen reinen Gedanken; – was sagst du dazu, mein Sohn Johannes?“
Nun wäre es selbst für einen schnellern Geist schwierig gewesen, auf diese Rede alles das kurz und bündig zu erwidern, was darauf gehörte. Von Hans Unwirrsch war es nicht zu verlangen, und Moses Freudenstein durfte nach Herzenslust mit den Augen zwinkern, Hände und Knie aneinander reiben. Wenn aber Hans den Wortschwall gehörig verdaut hatte, wozu er öfters mehrere Tage, jedenfalls aber eine Stunde nötig hatte, ermangelte er nicht, seine Einwendungen und seine Verwahrungen gegen solche Sophismen gehörig vorzubringen, worauf er durch die talmudistische Spitzfindigkeit natürlich von neuem in eine gelinde Betäubung versetzt wurde.
Das oft so närrische und triviale Treiben unserer deutschen Universitäten ist nur allzuoft mit Begeisterung beschrieben worden; Hans und Moses wurden wenig davon berührt; das, was die Mehrzahl sich unter einem „Studenten“ vorstellt, war keiner von beiden. Hans ging ganz unangefochten seinen Weg, und Moses hätte es auch so haben können, wenn er nicht durch zwei Charakterzüge mehrfach in unangenehme Vorfälle verwickelt worden wäre. Wir müssen leider an dieser Stelle eingestehen, daß er nicht nur sehr naseweis, sondern auch im höchsten Grade neugierig war und daß er seiner Neugier oft sogar die gewohnte Klugheit und gepriesene Logik zum Opfer brachte. Die Folge davon war, daß er zum öfteren in Lagen geriet, aus welchen ihn ein schlagfertiger Arm leichter und anständiger erlöst hätte als sein schlagfertiges Maul. Aber viele große Männer haben die Meinung der Welt, insofern sie ihnen keinen Schaden bringen konnte, verachtet, und so trug es auch Moses Freudenstein mit ziemlichem Gleichmut, wenn er dann und wann für einen Duckmäuser und „schofeln Kerl“ erklärt wurde. –
Nach dem ersten Semester bereits sah Hans Unwirrsch ein, daß er mehr für die praktische als für die theoretische Theologie bestimmt sei. Mit Eifer suchte er unter der Leitung des Professors Vogelsang die hohen Geheimnisse der Homiletik zu ergründen; und wenn er einst als Kind in seiner Mutter Stube der Base Schlotterbeck erbauliche Predigten gehalten hatte, so erbaute er jetzt sich selber nächtlicherweile, erboste aber dadurch nicht wenig seinen Stubennachbar, einen Mediziner, der meistens sehr spät und sehr betrunken nach Hause kam. Es war für den Redner nicht gerade angenehm, statt durch das Schluchzen einer höchlichst gerührten Zuhörerschaft durch ein ärgerliches Klopfen des Stiefelknechtes an der dünnen Wand akkompagniert zu werden und dumpf dazwischen allerlei böse Wünsche für den „wahnsinnigen Bonzen“ zu vernehmen. Am Tage war die Sache noch schlimmer; dann hatte der Mediziner gewöhnlich den Katzenjammer und konnte das Predigen noch weniger vertragen. Die Versunkenheit des Menschen war so groß, daß er selbst in den Momenten kläglichster Auflösung noch imstande war, dem armen Hans sein Mißfallen zu erkennen zu geben.
Am liebsten hielt Hans daher seine Predigten im Freien. Längst hatte er den Weg zu dem Berge, den er von seinem Fenster aus erblickte, gefunden. Dort unter den schattigen Bäumen, und vorzüglich unter einer hohen Eiche auf einer engen Waldwiese richtete er seine Kanzel auf, predigte er den Vögeln; und es war ein ganz ander Ding, wenn der Kuckuck als wenn der Mediziner die Responsen sang.
Unter der großen Eiche war der Prädikante vor noch einem anderen Freudenstörer sicher, vor dem berühmten Professor Vogelsang nämlich.
Dieser ehrwürdige Herr war nicht immer, ja sogar sehr selten mit der Art zufrieden, in welcher Hans die gegebenen Themata behandelte. Er – der Professor – fand in den Reden des Schülers viel zuviel „Poäsie“, viel zuviel Naturschwärmerei; er witterte sogar stellenweise einen Duft von Pantheismus, der seiner orthodoxen Nase im höchsten Grade widerlich war; aber er hatte gut reden, er war nicht der Abkömmling einer so langen Reihe nachdenklicher, grübelnder Schuster, und über seine Wiege hatte wahrlich nicht die wundersame schwebende Kugel, die auch über Jakob Böhmes Tisch hing, ihr Licht ergossen.
Finke und Specht im Walde waren duldsamer als der Professor, das Eichhörnchen sah von seinem Zweig nicht so grimmig herab wie der Professor von seinem Katheder; und wenn der Prediger in der Wildnis an den Rand des Holzes vortrat und die Aussicht über Tal, Stadt, Berg und Ebene bis zur blauesten Ferne sich vor ihm entfaltete, so lag in dem Sonnenschein, der das alles überstrahlte, selber etwas so Pantheistisches, daß es dem Professor nicht zu verargen war, wenn er niemals solch einen Berg bestieg und von der weiten Welt und den Wundern, die außerhalb seiner vier Wände lagen, nur mit Geächz, Geseufz und Gestöhn sprach. –
In den Kollegien, die der Professor Gingler über praktische Pastoralklugheit hielt, träumte Hans viel Angenehmes und Idyllisches von einer künftigen Dorfpfarre unter Blumen, Kornfeldern und frommen Bauern. Der näselnde Vortrag in den Mittagsstunden war ganz geeignet, dabei allerlei Phantasien über Trösten der Kranken, Kindtaufen, Hochzeiten sich hinzugeben; Hans mußte die Enttäuschungen, die er später erfuhr, als er in Grunzenow das Ideal mit der Wirklichkeit verglich, dann auch hinnehmen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor