Abschnitt. 1 - Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, von dem, was er bedeutet, ...

Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, von dem, was er bedeutet, was er will und was er vermag. Wie er für die Welt im ganzen Schiwa und Wischnu, Zerstörer und Erhalter in einer Person ist, kann ich freilich nicht auseinandersetzen, denn das ist die Sache der Geschichte; aber schildern kann ich, wie er im einzelnen zerstörend und erhaltend wirkt und wirken wird bis an der Welt Ende.
Dem Hunger, der heiligen Macht des echten, wahren Hungers widme ich diese Blätter, und sie gehören ihm auch von Rechts wegen, was am Schluß hoffentlich vollkommen klargeworden sein wird. Mit letzterer Versicherung bin ich in einer weiteren Vorrede, welche zur Gemütlichkeit, Erregung und Aufregung des Lesers doch nur das wenigste beitragen würde, überhoben und beginne meine Geschichte mit unbegrenztem Wohlwollen sowohl gegen die Mitwelt und Nachwelt als auch gegen mich selber und alle mir im Lauf der Erzählung vorübergleitenden Schattenbilder des großen Entstehens, Seins und Vergehens – des unendlichen Werdens, welches man Weltentwicklung nennt, welches freilich ein wenig interessanter und reicher als dieses Buch ist, das aber auch nicht wie dieses Buch in drei Teilen zu einem befriedigenden Abschluß kommen muß.
„Da haben wir den Jungen! Da haben wir ihn endlich – endlich!“ rief der Vater meines Helden und tat einen langen, erleichternden Atemzug, wie ein Mann, der langes, vergebliches Sehnen, schwere Arbeit, viele Mühen und Sorgen getragen hat und endlich glücklich zu einem glücklichen Ziel gekommen ist. Mit klugen, glänzenden Augen sah er herab auf das unansehnliche, kümmerliche Stück Menschentum, welches ihm die Wehemutter in die Arme gelegt hatte, grad als die Feierabendglocke erklang. Eine Träne stahl sich über die hagere Backe des Mannes, und die scharfe, spitze, kluge väterliche Nase senkte sich immer tiefer gegen das unbedeutende, kaum erkennbare Näschen des Neugeborenen, bis sie plötzlich mit einem Ruck wieder emporfuhr und sich ängstlich fragend gegen die gute, hilfreiche Frau, die soviel zu seinem Entzücken beigetragen hatte, richtete.
„O Frau Gevatterin – Gevatterin Tiebus, es ist doch wirklich, wirklich einer? Sagt’s noch einmal, daß Ihr Euch nicht irrt – daß dem wirklich, wirklich so ist!“
Die Wehemutter, welche bis jetzt mit selbstbewußtem, lächelndem Kopfnicken der ersten zärtlichen Begrüßung zwischen Vater und Sohn zugesehen hatte, hob nun ebenfalls ihre Nase sehr ruckartig, verscheuchte mit einer unnachahmlichen Bewegung beider Arme alle Geister und Geisterchen des Wohlwollens und der Zufriedenheit, von welchen sie bis jetzt umflattert wurde, stemmte die Fäuste in die Seite, und mit Hohn, Verachtung und beleidigtem Selbstgefühl sprach sie:
„Meister Unwirrsch, Ihr seid ein Narr! Laßt Euch an die Wand malen! ... Ob es einer ist? – Hat die Welt je so was gehört von solchem alten, verständigen Menschen und Hausvater? ... Ob es einer ist!? Meister Unwirrsch, ich glaube, nächstens verlernt Ihr noch, einen Stiefel von einem Schuh zu unterscheiden. Da sieht man’s recht, was für ein Leiden es ist, wenn die Gottesgabe so spät kommt. Ist das kein Junge, den Ihr da haltet? Ist das wirklich kein Junge, kein richtiger, echter Junge? Jesus, wenn die alte Kreatur nicht das arme Geschöpf in den Armen hielte, so möchte ich ihr schon eine Tachtel um solch ‘ne nichtsnutzige, fürwitzige Frage stechen! Kein Junge!? Wohl ist es ein Junge, Gevatter Pechdraht – zwar keiner von die schwersten, aber doch ‘n Junge wie was! Und wieso, ist’s kein Junge? Ist nicht der Buohnohpartch, der Nahpohlion wieder unterwegens übers Wasser, und gibt’s nicht Krieg und Katzbalgerei zwischen heut und morgen, und braucht man etwan keine Jungen, und werden nicht etwan in jetziger gesegneter und geschlagener Zeit mehr Jungen als Mädchen drum in die Welt gesetzt, und kommen nicht auf ein Mädchen drei Jungen, und kommt Ihr mir so, Gevatter, und wollt einer gewickelten und gewiegten Perschon nichtswürdige Fragen stellen? Laßt Euch an die Wand malen, Gevatter Unwirrsch, und drunter schreiben, wofür ich Euch halte. Gebt her den Jungen, Ihr seid gar nicht wert, daß er sich mit Euch abgibt – marsch, fort mit Euch zu Eurer Frau – am Ende fragt Ihr die auch noch, ob’s – ein – Junge – ist!“
Unsanft wurde das Wickelkind aus den Armen des verachteten, niedergeschmetterten Vaters gerissen, und nach abermaligem Atemholen humpelte der Meister Anton Unwirrsch in die Kammer zu seiner Frau, und die Glocken des Feierabends läuteten immer noch; wir aber wollen weder die beiden Ehegatten noch die Glocken stören – sie sollen ihre Gefühle ausklingen lassen, und niemand soll dreinreden und schreien dürfen.–
Arme Leute und reiche Leute leben auf verschiedene Art in dieser Welt; aber wenn die Sonne des Glücks in ihre Hütten, Häuser oder Paläste scheint, so vergoldet sie mit ganz dem nämlichen Schein die hölzerne Bank wie den Samtsessel, die getünchte Wand wie die vergoldete, und mehr als ein philosophischer Schlaukopf will bemerkt haben, daß, was Freude und Leid betrifft, der Unterschied zwischen reichen und armen Leuten gar so groß nicht sei, wie man auf beiden Seiten oft, sehr oft, ungemein oft denkt. Wir wollen das dahingestellt sein lassen; uns genügt es, daß das Lachen nicht Monopol und das Weinen nicht Servitut ist auf diesem rundlichen, an beiden Polen abgeplatteten, feuergefüllten Ball, auf welchem wir uns ohne unsern Willen einfinden und von welchem wir ohne unsern Willen abgehen, nachdem uns der Zwischenraum zwischen Kommen und Gehen sauer genug gemacht wurde.
In armer Leute Haus schien jetzt die Sonne, das Glück beugte sein Haupt unter der niederen Tür und trat lächelnd herein, beide Hände offen zum Gruß darbietend. Es war hohe Freude über die Geburt des Sohnes bei den Eltern, dem Schuster Unwirrsch und seiner Frau, welche so lange darauf gewartet hatten, daß sie nahe daran waren, solche Hoffnung gänzlich aufzugeben.
Und nun war er doch gekommen, gekommen eine Stunde vor dem Feierabend! Die ganze Kröppelstraße wußte bereits um das Ereignis, und selbst zum Meister Nikolaus Grünebaum, dem Bruder der Wöchnerin, welcher ziemlich am anderen Ende der Stadt wohnte, war die frohe Botschaft gedrungen. Ein grinsender Schusterjunge, der seine Pantoffeln, um schneller laufen zu können, unter den Arm genommen hatte, brachte die Nachricht dahin und schrie sie atemlos dem Meister in das weniger taube Ohr, was zur Folge hatte, daß der gute Mann während fünf Minuten viel dümmer aussah, als er war. Jetzt aber war er bereits auf dem Wege zur Kröppelstraße, und da er als Bürger, Hausbesitzer und ansässiger Meister die Pantoffeln nicht unter den Arm nehmen konnte, so war davon die Folge, daß ihn der eine treulos an einer Straßenecke verließ, um das Leben auf eigene Hand oder vielmehr auf eigener Sohle anzufangen.
Als der Oheim Grünebaum in dem Hause seines Schwagers ankam, fand er daselbst so viele gute Nachbarinnen mit Ratschlägen und Meinungsäußerungen vor, daß er sich in seiner jammerhaften Eigenschaft als alter Junggesell und ausgesprochener Weiberhasser höchst überflüssig erscheinen mußte. Er erschien sich auch in solchem Lichte und wäre beinahe umgekehrt, wenn ihn nicht der Gedanke an den in dem »Lärmsal« elendig verlassenen Schwager und Handwerksgenossen doch dazu gebracht hätte, seine Gefühle zu bemeistern. Brummend und grunzend drängte er sich durch das Frauenvolk und fand endlich richtig den Schwager in einer auch nicht sehr beneidenswerten und leuchtenden Lage und Stellung.
Man hatte den Armen vollständig beiseite geschoben. Aus der Kammer der Wöchnerin hatte ihn die Frau Tiebus hinausgemaßregelt; in der Stube unter den Nachbarinnen war er auch vollkommen überflüssig; der Gevatter Grünebaum entdeckte ihn endlich kümmerlich in einem Winkel, wo er zusammengedrückt auf einem Schemel saß und Teilnahme nur an der Hauskatze fand, die sich an seinen Beinen rieb. Aber in seinen Augen war noch immer jener Glanz, der aus einer anderen Welt zu stammen scheint: der Meister Unwirrsch hörte nichts von dem Flüstern und Schnattern der Weiber, er sah nichts von ihrem Durcheinander, er sah auch den Schwager nicht, bis dieser ihn an den Schultern packte und ihn auf nicht sehr sanfte Art ins Bewußtsein zurückschüttelte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Hungerpastor