Ein Spaziergang bei Clausthal

Ich will einen Spaziergang in der Nähe von Clausthal beschreiben.

Die schöne Zeit der Wiesen ist der Anfang Juni, vor dem ersten Schnitt. Da ist es bunt von den Wiesenblumen, und das Gras selbst hat seine unscheinbaren Blüten in die Höhe getrieben; alle die vertrauten Namen sind da: der gelbe Hahnenfuß, der Kälberkropf mit seinen sperrigen Dolden, der Fuchsschwanz, die unscheinbare Männertreu, so ehrlich uns anblickend, und doch so vergänglich, dass die Blüte schon abfällt, wenn wir sie pflücken; das treuherzige Marienblümchen; Gundermann, Teufelsklaue, Arnica, Hühnerdarm und Löwenzahn, Bärenklaue und Storchschnabel, und all das andere Kraut und Gras. Vom hellblauen Himmel scheint die Sonne über alles lustige Grün, und auf den Weg, der am Graben entlang führt, welcher Wasser leitet zu einer Grube, die Kunst zu treiben, oder zu einem Pochwerk, die stampfenden Stempel in Bewegung zu setzen. Unhörbar schießt das klare Wasser dahin über den bunten Kiesgrund, die kleinen Ellritzen stehen gegen den Strom, wenden sich, blitzschnell mit dem Schwänzchen schlagend, oder springen einmal silbern aus dem Wasser, nach einer Mücke schnappend. Frisch und berauschend, wie perlender Sekt, ist die Luft in der leuchtenden Sonne; kein Staub und Schmutz wird durch den Wind hergetragen, und blitzblank sind die Halme des Grases, sauber der schwarzweiße Kies des Weges.


Am Waldrande wachsen die Zweige der Fichten bis tief nach unten, und in schönem Bogen berühren die letzten Äste fast die Erde. Die hellgrünen Spitzen hängen in jugendlicher Schlaffheit an den Enden der Zweige und Zweiglein vor dem dunkeln Grün der alten Nadeln. Im Wald selber, wo die Bäume sich drängen, sind die untern Äste abgestorben, und unentwirrbar schieben sich vor dem Blick die rotbraunen, glatten Stämme durcheinander, die gleichmäßig und nicht unterschieden gerade aufwärts wachsen nach dem Licht und Regen zu, ihre Kronen durcheinanderwebend und mit jeder Nadel fleißig Sonnenschein und Feuchtigkeit auffangend. Wie eine Moosdecke sieht von oben der Fichtenwald aus, die ohne Lücke sich meilenweit breitet, Täler und Höhen gleichmäßig überziehend, alles Eckige bedeckend, dass nur Rundung erscheint. Kein einzelner Baum strebt hervor vor dem andern, keine Spitze ist zu unterscheiden, nur die gleichmäßige freundliche Decke des Waldes ist zu sehen. Aber von unten ist der Anblick anders; wo die Berge steil ansteigen, da klettern die hohen und schlanken Stämme in unerschütterten Reihen gleichmütig wie Krieger auf eine Schanze, klammern sich fest über Felsen und Steine mit ihren Wurzeln. Einst, in Urzeiten, hoben die unterirdischen Gewalten den Berg mit furchtbarer Kraft in einem Augenblick in die Höhe, schleuderten die Felsen von dem Gipfel wieder zum Fuß, um den Zugang nach oben zu verbieten. Aber die geduldigen Pflanzen haben in den unzähligen Jahren das Ungestüm der zerstörenden Gewalten überwunden, die Felsen allmählich mit lichtem Grün überzogen, den Boden geschaffen erst für Sträucher und Knieholz, und endlich für die aufrechten, stolzen Fichten, welche die Felsen und Abhänge hinaufschreiten, ohne sich zu bücken und ohne dem Blick, der von den höheren Bergen von oben auf sie fällt, etwas außerordentliches zu zeigen, etwas, das auf mehr schließen ließ, wie auf das Wachsen im nadelbedeckten Waldboden.

Unhörbar ist der Schritt auf den glatten Nadeln, die Jahr für Jahr von den Fichten hier aufgehäuft worden, immer eine neue hellbraune Schicht auf der verwesenden dunkeln. Leise nur und unhörbar bewegen sich die schlanken Stämme in dem leichten Winde, der auf dem Wald liegt; das Knarren eines Astes, der sich reibt, tönt einmal von weitem und macht die Stille bemerkbar. Aber das Schweigen ist nicht tot, denn das atmende Leben und frische Wachsen der unbekümmerten Bäume dringt in die Empfindung des Wanderers; die Waldeinsamkeit ist nicht eine Einsamkeit, wie das Alleinsein in den menschenwimmelnden Straßen zwischen den himmelhohen Häusern der Großstadt; sie beengt nicht das Herz, umkleidet den Menschen nicht mit Eis, flößt ihm nicht Hass ein, sondern sie macht ihn fröhlich und dankbar und verursacht ihm ein Gefühl, als erweitere er sich, als gehöre alles zu ihm, die schweigenden Bäume und der helle glatte Grund, als habe er selbst Ruhe, Selbstgenügsamkeit und ein zufriedenes, glückliches Wachsen. In der Jugend mag man sich über das Glücksgefühl täuschen; aber schon auf der Höhe des Lebens, wenn man zurückblickt, so sieht man, wie wenige Sekunden Glück in den Hunderttausenden von Sekunden des Lebens waren: eine solche Sekunde war mir einst als Knaben im heimatlichen Walde, als ich, auf dem Boden liegend, zu den unhörbar sich verschiebenden Wipfeln der Fichten aufsah, und das leise Steigen des Saftes in der Rinde empfand, als sei ich Eins mit dem Wald und gehöre zu dem Boden, wie die andern Bäume, die aus ihm gewachsen waren. Da war Ruhe und eine unendliche Harmonie, und alles war schön, nichts Zufälliges war, sondern alles war notwendig, und die Schönheit war Güte und Zufriedenheit.

Heute sitze ich vor meinem Schreibtisch und rufe mir Bilder wach von einsamen Wanderungen im heimatlichen Wald, an die ich lange Jahre nicht gedacht habe; da wird alles lebendig wieder, was damals in meine Seele kam, und deutlich sehe ich Täler und Hügel, Abhänge, einzelne Bäume, Teiche, Gras und Blumen, Bäche, stille Hauungen; sonnenbeschienene Wege mit blauen Bergen erscheinen vor mir, wo Schmetterlinge um die dürftigen Blumen des Angers gaukelten, um die Steinnelke, das Johanniskraut, die Schafgarbe; düstere Hohlwege, in deren Mitte zwischen üppigem breitblättrigem Moos Wasser sickernd sich bergab bewegte, über welche sich spitzbogig die Fichten neigten, und wo noch vor hundert Jahren Räuber gehaust haben mögen. Kaum noch halbverstandene Namen erinnern an die wilden Zeiten, wie das Mordtal oder der Schnapphahnenweg; vergessen sind auch die Zeiten, wo der Bärenbruch seinen Namen empfing und die noch früheren, wo man nach dem Scheich die Schalke benannte; aber das breitblättrige Moos in dem längst unbenutzten Hohlweg grünt noch wie es damals grünte, als noch nicht Fichten diese Berge bedeckten, sondern Buchen, Eichen und Birken.

Das ist das Merkwürdigste für die Empfindung bei diesem frommen Fichtenwald: er ist Natur nur so, wie das Kornfeld Natur ist; der Mensch hat ihn gepflanzt für seine Zwecke, er hat die Natur gänzlich geändert, wie sie vorher war, und der Frieden, die Harmonie, die Stille und das Glück: nur die menschliche Zwecksetzung erzeugte sie hier, wo wilde Tiere sich zerfleischten, Mörder auf den vorüberziehenden Fuhrmann warteten und die Bäume einen stillen, aber erbitterten Kampf mit einander kämpften, die Birke mit ihren geschmeidigen Ruten unbarmherzig die Gipfel von Buche und Eiche dürr peitschte, über die sie schnell hinausgewachsen war, die breite Eiche der Buche das Licht nahm und sie trocken machte. Nun wachsen im Schutz der Menschen die Fichten, wie der Roggen wächst und reif wird. Nach verständiger Berechnung lässt der Forstmann sie ihr nutzbarstes Alter erreichen und fällt sie dann; nicht mehr ein wüster Kampf ums Dasein entscheidet, was aus jungem Bestand groß wird, sondern vernünftiges Ausholzen, durch das die einen weggenommen werden, damit die andern wachsen können: jene so wie diese durch ihren Tod dem höheren Wesen Dienste leistend.

So stört es nicht den Frieden, wenn wir an eine Stelle des Waldes kommen, wo abgetrieben ist. Die alten Stümpfe stehen in der Erde und vermodern; zwischen ihnen haben sich die Blumen angesiedelt, die auf den Hauungen gedeihen, vor allem die Säulen des Fingerhuts und der Königskerze und das schmalblättrige Gras; auch hier bringt die Tätigkeit der Menschen wieder Neues in die Natur; der dürftige Graswuchs wird von der Rinderherde abgeweidet, deren harmonisch gestimmte Glocken weit durch den Wald schallen. Der Hirt im schwarzem Kittel, Kniehosen, steifem Filzhut, die Axt am messingverzierten Bandelier an der Seite, sieht ruhig den Weidenden zu, neben ihm spitzt der Hund aufmerksam die Ohren und blickt aufmerksam nach der Richtung, in welche sein Herr sieht. Wie im Süden der Olivenhain zwischen den scharfen Felsen das rührende Bild des Friedens und höheren Zweckes ist, welchen erst der Mensch in die Natur brachte, so im Norden die weidende Herde mit ihren läutenden Glocken, die auf einen Kanon abgestimmt sind. Nur wo jahrhundertelang tiefe Sicherheit war, tragen die alten Ölbäume ihre grüne Frucht, und das Geläut der Viehherde bekundet die Zuversicht des armen Bergmanns, dass am Abend, wenn der Hirt die Herde heimwärts getrieben hat, seine Kuh stolpernd sich in ihren Stall findet, nicht wilden Tieren oder raubgierigen Menschen zur Beute wurde.

Erst vier Jahrhunderte ist der Oberharz besiedelt, und doch hat der Mensch das Landschaftsbild schon gänzlich umgestaltet. Zum Betriebe des Bergbaus sind die Wasser nötig, welche ja reichlich durch die häufigen Niederschläge geliefert, und von den Hochmooren wie von Schwämmen aufgesaugt und nur langsam wieder entsendet werden; aber der Natur musste der Mensch doch nachhelfen durch ein kunstreiches System von Teichen und Gräben. Durch Absperren der Täler werden die Wasser in den Teichen aufgestaut, welche mit einander in Verbindung stehen, so, dass durch den Striegel, welcher in der Mitte des Dammes eingebaut ist, Abfluss und Zufluss immer genau geregelt werden kann. Dergestalt ist es möglich, in den wasserreichen Jahreszeiten den Bedarf für die wasserarmen zu sammeln und die täglich erforderliche Menge von Wasserkraft für die Maschinen der Gruben und Aufbereitungswerke zu liefern. Diese Teiche liegen zum großen Teil in den dichten Wäldern; die Bäume drängen sich bis an den Rand des Wassers, und in dem klaren Spiegel erscheinen sie doppelt, nach unten wachsend, und den blauen Himmel zwischen den Zweigen. Wie mit freundlichen Augen sieht hier der Wald in die Höhe; auch hier hat der Mensch die nutzlose und zerstörende Kraft zu Zwecken gewendet. Wenn die gewaltigen Schneemassen, die durch Windwehen gelegentlich wohl so hoch werden, dass sie über die Spitzen der Chausseebäume gehen, im Frühjahr schmelzen, so hat niemand Besorgnis, selbst in dem gefährlichst gelegenen Dörfchen, das sich in einem engen Tal hinzieht; die Wasser müssen den Weg nehmen, wo sie nützen und dienen, und nicht, wo sie schaden. Die Teiche und Gruben sind vor Jahrhunderten schon von den Alten angelegt und so mit der Landschaft verwachsen, dass man sie nicht fortdenken kann; sie gehören zur Natur, wie Gaipel und Pochwerk zu ihr zu gehören scheinen.

Das ist das Merkwürdige: wo die Natur nicht geknechtet wird, sondern nur den ihr fehlenden Zweck durch den Menschen erhält, da wirkt die Arbeit und das Schaffen der Menschen in ihr immer schön. Die Sägemühle mit dem rauschenden Aufschlagwasser am drehenden Rad und den spritzenden Tropfen, dem tönenden Klange der Säge, dem hurtigen Durchschneiden des Blocks; das Pochwerk mit dem Trampeln der Stempel, dem Rieseln des Wassers über den langsam sich drehenden Herd, dem krachenden und malmenden Steinbrecher — sie gehören so zu der Landschaft, wie die weidenden Kühe, die Züge der Fuhrleute, welche das lange Schachtholz fahren, wie die schwarzen Karren der Köhler. Und auch die Menschen sind zwar Diener ihrer Arbeit, in solchem Masse, dass sie den Charakter der Arbeit bekommen, und dass im Aussehen und Wesen der Bergmann ein anderer Mensch ist wie Fuhrmann oder Köhler: aber auch sie sind noch nicht versklavt und zum bloßen Anhängsel der Maschine geworden; deshalb ist ihre Arbeit auch ihre Freude und ihr Stolz, nicht ihre Qual. Die Fremden lernen den Harz fast nur im Sommer kennen. Aber auch im hohen Winter hat die Landschaft ihren wunderbaren Reiz. Nirgends sonst macht eine Schlittenfahrt eine solche Freude. Ich erinnere mich einer solchen Fahrt durch den Wald, der stundenweit in Raureif stand. Kommt Nebelwetter mit niedriger Temperatur zusammen, so schlägt sich das Wasser in ganz kleinen Tröpfchen überall an alle hervorragenden Gegenstände und erstarrt hier sofort zu zierlichen, kleinen, nadelspitzen Kristallen; an diese setzen sich dann andere Kristalle an, die bis zu einem Zentimeter Länge erreichen können. Denke man sich eine Fichte so an ihren feinsten Nädelchen verziert, dass an jeder Nadel wohl zehn Eiskristalle sitzen; und nun Baum für Baum stundenweit in der Sonne funkelnd und glitzernd, indessen die mutigen Pferde den leichten Rennschlitten wie im Fluge dahinziehen, das läutende Schellenwerk auf dem Rücken! Zuweilen kracht ein Ast nieder, dem die Last des Eises zu schwer wurde, auch ein ganzer Baum wird umgerissen, dass er durch die Stille des Waldes donnert.

Zu Zeiten zeigen die Naturgewalten noch ihre alte Furchtbarkeit. Ich selber habe als Junge den Schneebruch von 1883/84 miterlebt. Wenn Schnee an windstillen Tagen fällt, so verfängt er sich in den Nadeln und Zweigen und bleibt liegen; bei beginnendem Tauwetter rückt er zusammen und wird schwerer durch die Feuchtigkeit, welche er aus der Luft annimmt. Kommen dann Stürme, welche den Schwerpunkt des belasteten Baumes verlegen, so werden die dicken Stämme mit der ganzen Wurzelscheibe aus der Erde gerissen, oder wo die Wurzeln sich in Felsen zu fest verklammert haben, werden die Stämme mannshoch über dem Boden abgebrochen wie Streichhölzer. Ist erst eine Lücke in dem dichten Forst geschaffen, so reißt der Sturm erbarmungslos weiter. Bei jenem großen Windbruch war im ganzen Mönchstal nicht ein einziger Baum stehen geblieben. Die Stämme waren so übereinander geworfen, dass sie halb haushoch über dem Boden lagen. Wer in einer solchen Nacht durch den Wald geht, dem mag wohl zu Mut sein wie einem Soldaten inmitten der Schlacht: so furchtbar ist das Krachen, Ächzen und Splittern der Stämme, das Heulen und Sausen des Windes, das dumpfe Stürzen der zentnerschweren Schneemassen; und die Lebensgefahr ist für den Wanderer nicht geringer wie für den Krieger.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Harz