Ein Abend in einer Bergmannsstube

Es bürgert sich allmählich immer mehr ein, dass man nicht mehr „Bergmann“ sagt, sondern „Bergarbeiter“, wie an die Stelle des Ehrentitels „Pochjunge“ das Wort „jugendlicher Arbeiter“ getreten ist. Die Wandlung der Sprache bezeichnet eine Wandlung der Verhältnisse. Noch in meiner Kindheit hätte ein Bergmann es von sich abgewiesen, als „Arbeiter“ zu gelten. Der Bergmannsstand war ein Ehrenstand und galt in noch früheren Zeiten als höher wie der Handwerkerstand. Ehe die technischen Kenntnisse in der heutigen vollkommenem Art durch Lehranstalten übermittelt wurden, konnte auch das höhere Wissen zum Teil nur durch die praktische Arbeit erworben werden, und dieses Wissen aus der Praxis hatte solche Bedeutung gegenüber dem anderen, dass selbst Personen, welche den höheren Beamten von heute entsprachen, oft vom Pochjungen aufwärts gedient hatten: nur die Begabung und Tüchtigkeit, nicht notwendig höhere Vorbildung, sondern außerdem nur Familienbeziehungen entschieden, ob einer in die höheren Stellungen aufrückte. So ging von dem berühmten Oberbergmeister Stelzner der napoleonische Spruch: „Doss muss ä schlachter Puchjung sein, dar do net wullte Barkmäster warn“ ; und in jenen patriarchalischen Zeiten wurde der nur Dialekt — und zwar einen sehr kräftigen Dialekt, der keine Verblümtheit kennt — redende Stelzner neben dem (damals immer adeligen) Berghauptmann stets als dritter zum Whist befohlen, wenn der hannoversche König in Clausthal weilte. Noch im Anfang der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wurden oft einfache Bergleute in fremde Länder berufen, um dort große Betriebe zu leiten; fast alle kehrten mit den Ersparnissen wieder in die geliebte Heimat zurück, denn ein rechter Harzer Bergmann kann in der Fremde nicht dauern. Viele arbeiteten sogar wieder als einfache Bergleute. Der Prozess der sozialen Differenzierung geht heute mit Naturnotwendigkeit vor sich; wie schon längst die höheren Beamten, so beginnen auch allmählich die mittlern und untern Beamten sich sozial vom Bergmann zu trennen, der dadurch allerdings zum Arbeiter herabsinkt; wieso manche Entwicklung unserer neuzeitlichen Verhältnisse, geht auch diese auf Kosten der Menschen vor sich und hat Unzufriedenheit und üble Sitten zur Folge : denn was soll man von Menschen erwarten, die keinerlei Aussicht und Hoffnung haben, aus dem allerengsten Kreise in die Höhe zu kommen. Alle Besserung der Lebensverhältnisse kann da nichts ändern. Heute gewinnt die Sozialdemokratie immer mehr Boden: wie rührend ist da die Geschichte, die mir einmal mein Vater erzählte: In Andreasberg gingen in den vierziger Jahren die Gruben eine Weile sehr schlecht, weil die erzhaltigen Gänge abgebaut und keine neuen Aufschlüsse gemacht waren. Um die Leute zu beschäftigen, veranlasste die Hannoversche Regierung einen Unternehmer, eine große Fabrik zu bauen, an welche man die Bergleute als Fabrikarbeiter abgab, die man nicht mehr beschäftigen konnte. Da kamen die Märztage des Jahres 1848 und die Kunde von den Revolutionen drang nach Andreasberg; die in der Fabrik beschäftigten Leute verabredeten sich, zogen ihr schwarzes Bergmannskleid an, nahmen ihr Grubenlicht in die Hand, und gingen zu ihren alten Gruben, zu denen sie gehörten, um wieder anzufahren; und statt der wüsten Revolutionsgassenhauer sangen sie das zwei und ein halbes Jahrhundert alte Bergmannslied mit dem Vers:

Frisch auf, ihr Barkleit, jung un alt,
Säd frisch und wuhlgemut.
Erhebet Eure Stimmen bald,
Es wird noch warden gut.
Gott hot uns ollen die Gnad gegab'n,
Doss mir vun edeln Bargwark labn,
Drum rufft mit uns der ganze Häuf:
Glück auf, Glück auf, Glück auf.


Gute Sitten, Ehrbarkeit und sittlicher Stolz, die in zwar furchtbar armen, aber sichern und geachteten Verhältnissen sich durch Jahrhunderte entwickelten, gehen nicht so schnell verloren; noch heute lebt manches von dem alten Bergmannsgeist. In meiner Kindheit gab das noch den allgemeinen Charakter für die oberharzische Bevölkerung; und ich habe Jahre gebraucht, als ich meine Heimat verließ, ehe ich mich in die ganz andere Lebensauffassung der Städte gewöhnte. Diesen Unterschied von heutigen Verhältnissen muss man sich immer klar machen, wenn man an Volksleben denkt, wie es früher war. Wenn ich mir meine Kindheitserinnerungen ins Gedächtnis zurückrufe, so taucht etwa das Andenken an einen Abend bei dem alten Klingensöhr in mir auf. Ein hohes Alter erreicht der Bergmann selten ; die Grubenarbeit in der schlechten Luft erzeugt die „Bergsucht“, an welcher die meisten um die sechziger Jahre sterben; dafür werden die Frauen oft sehr alt. Ich denke an die niedrige Stube, durch deren Tür ein großer Mann nur gebückt eintreten konnte; die Fenster sind zum Schieben eingerichtet, der häufigen Stürme wegen; in den Fensterbrettern stehen sorgfältig gepflegte Blumen, meistens die rosa Alpenveilchen, seltener die weiße Art, von der erzählt wurde, dass es unter ihnen „Böcke“ gebe, die tauben Samen tragen ; am häufigsten waren dann noch Geranium und Rosmarin. Der Ofen sprühte eine starke Hitze aus; das Holzfeuer wurde fleißig unterhalten, denn der Bergmann erhielt sein Feuerholz für einen nur nominellen Betrag und sägte und spaltete es selbst am Feierabend, sodass mit der Feuerung Luxus getrieben wurde. Das neumodische Petroleum hatte der alte Klingensöhr noch nicht eingeführt, er brannte noch die trübe „Ölfunzel“, die einst den noch älteren Kienspan abgelöst hatte. Der sechzigjährige Alte saß in einem uralten Lehnstuhl mit Schnitzerei, den ich später seinem Enkel abgekauft habe; mit andern alten heimatlichen Möbeln befindet er sich heute, von einem geschickten Tischler repariert, in meinem Arbeitszimmer und erregt den Neid meiner altertümersammelnden Freunde. Die fast neunzigjährige Mutter saß auf der „Hitsch“, dem Fußbänkchen, am Ofen, die Frau des Alten wirtschaftete rüstig in der Küche, der verheiratete Sohn passte „Vugelhaisel“ zusammen, die allbekannten kleinen Harzer Vogelbauer, die Schwiegertochter strickte lange weiße baumwollene Strümpfe, die ein Unternehmer nach Leipzig brachte, und die Kinder saßen zu zweit auf dem noch übrigen hochlehnigen alten Stuhl und horchten aufmerksam auf den Erzähler; selber sprechen durften sie nicht. Da erzählte denn der Alte von der Erfindung der „Kunst“: wie früher die Bergleute auf Leitern einfuhren, die im Schacht von einer gezimmerten Bühne zur andern hoch gestellt waren, und wie ein Pochjunge die jetzige Art erfunden habe — man stelle sich ein doppeltes Gestänge vor, das von oben bis unten in den Schacht reicht und in gewissen Entfernungen mit Trittbrettern und Handgriffen versehen ist, und sich in entgegengesetzter Richtung abwechselnd von oben nach unten und unten nach oben bewegt, so, dass für einen Augenblick sich immer die Tritte gegenüberstehen und der ein- oder ausfahrende Bergmann, immer auf den gegenüberstehenden Tritt tretend, nach oben oder nach unten getragen wird. Dann erzählte er von der Kathedrale von Sevilla, denn in seiner Jugend war er in Spanien gewesen, und schilderte die Pracht des verschiedenartigen Marmors, sprach auch abfällig über den Dom von Mailand, den er selbst zwar nicht gesehen, aber ein Kamerad, der zwar viel Geld aus der Fremde mitgebracht, aber keinen guten Namen hatte. Derselbe stammte nämlich vom „gelben Wagner“ ab, der als Wildschütze einen Förster erschossen hatte und bei Zellerfeld auf der Wiese neben der Chaussee nach Schulenberg geköpft war; sein Körper war nach Göttingen gebracht, wo er zur Schande seiner Nachkommen noch heute zu sehen sein sollte, und ich nahm mir vor, dass mein erster Weg als Student einmal zu dem Glasschrank auf der Universität sein werde, in dem der ausgestopfte gelbe Wagner stand. So kam dann das Gespräch auf die Streiche des gelben Wagners, wie er einmal einem Förster ein Heckebauer machen sollte — das sind die ganz großen Flugbauer für die Heckzeit der Kanarienvögel — und wie er das so groß machte, dass der Förster, nachdem er es bezahlt und auf den Rücken genommen hatte, nicht zur Tür hinaus konnte. Über eine solche Geschichte stimmten denn auch die schweigsamen Kinder ein respektvolles Lachen an. Und indem eine Erzählung sich an die andere hängte, kam die Rede auf die alten hannoverschen Zeiten und auf den geliebten König Ernst August. Da wurde die Probenbüchse — das ist eine für die Schliegproben bestimmte holzgedrehte Büchse — aus dem Schapp geholt und ein Taler mit dem Kopf des Ernst August gezeigt und dann kamen noch andere alte Münzen zum Vorschein: ein Zweidrittelstück (Gulden) mit dem wilden Mann, das in der Clausthaler Münze geprägt war, und ein Andreasgulden und ein ganz alter Glockentaler, der einmal beim Heumachen auf der Wiese von einem Maulwurf aus der Erde geworfen war. So feines Silber, wie die alten Zweidrittelstücke hatten, wurde heute gar nicht mehr vermünzt; und wenn heute der Bergmann sein Lohn bekam — wennschon es höher war wie früher, was man schuldigerweise nicht verschweigen sollte, denn einiges Gute hatten die Preußen doch an sich — so kriegte er ein paar Goldstücke: die füllten nicht die Hand, wie in den hannoverschen Zeiten die Gulden und Taler; ganz zu schweigen, dass es auch die Mathier (Vierpfennigstücke aus Kupfer), die Mariengroschen (Achtpfennigstücke aus Silber) und die Nappelpfennige (einseitig geprägte und deshalb hohle Stücke) nicht mehr gab. Aber freilich, der Segen beim Bergbau hatte überhaupt nachgelassen, und das war Gottes sichtbare Strafe für das Überhandnehmen der Ruchlosigkeit; wie denn auch der Bergmann heutzutage ein Sopha haben wollte mit einem polierten runden Tisch davor. In den alten Zeiten muss der Segen ganz anders gewesen sein, nur waren die Harzer damals noch zu dumm; damals soll ein Venediger gesagt haben, der Stein, den einer nach einer Kuh wirft, um sie aus der Wiese zu jagen, ist mehr wert wie die Kuh selber. Einmal hat ein fremder Mann im Morgenbrodstal an einer Quelle gestanden und hat ein Sieb untergehalten, in dem sind lauter Perlen gewesen. Wie er die gewaschen hat, da hat er sie in seinen Holster getan, und dann hat er sich selber die Hände gewaschen und dabei gesprochen:

Im Morgenbrodstal, da wasch' ich mich,
Und in Venedigen, da drög' ich mich.

Wie er das gesagt hat, ist er mit einem Male verschwunden gewesen. Das hat ein Bergmann gesehen und gehört und hat ihm die Worte nachgesprochen und plötzlich ist er in einer ganz fremden Stadt, wo die Leute eine Sprache sprechen, die er nicht versteht. Da begegnet ihm der Mann, den er belauscht hatte und sagt ihm, dass er in Venedig ist, und nimmt ihn in sein Haus mit, das ist ganz aus Marmorstein gebaut und alle Geräte sind aus Silber und Gold; da bewirtet er ihn und erzählt ihm, dass er seinen ganzen Reichtum aus dem Morgenbrodstal hat. Dann behält er ihn die Nacht bei sich, und am andern Morgen, wie er sich wäscht, da muss er sagen:

In Venedigen wasch' ich mich,
Im Morgenbrodstal, da drög' ich mich.

Da ist er plötzlich wieder im Morgenbrodstal gewesen. Solche Geschichten kommen zwar heute nicht mehr vor, aber die Alten haben sie erzählt und zu ihrer Zeit sind solche Dinge geschehen.

Inzwischen ist es acht Uhr geworden und die Kinder werden zu Bett gebracht in die Bodenkammer, wo die ganze Familie schläft, dicht unter den Ziegeln, zwischen denen wohl der Wind einmal den Schnee durchbläst auf die Betten der Schlafenden; und auch die Erwachsenen und die Alten denken nun an die Ruhe; da holt der Sohn, der seine Schnitzarbeit beendet hat, seine Guitarre von der Wand, der Alte nimmt die Zither, und nun folgt noch ein schönes altes Lied: Ist alles dunkel, ist alles trübe, Dieweil mein Schatz einen andern liebt. Denn ich hab gedacht, er liebet mich, Ach nein! Ach nein! Ach nein! Ach nein! Ach nein! Ach nein! Er hasset mich. Die Kanarienvögel in den Bauern an den Wänden werden wach und schmettern in den Gesang hinein, und auch dann noch können sie sich nicht beruhigen, wie zum Schluss der Alte aus der großen Bibel noch das abendliche Kapitel vorliest. Die Fröhlichkeit und Frömmigkeit sind vereinigt in diesen guten, tüchtigen Gemütern, wie das Trillern der Vögelchen zwischen die düstern Schilderungen der Offenbarung Johannis tönt. Wenn der Bergmann in die Grube steigt in seiner schwarzen Tracht, so weiß er nicht, ob er nicht in sein Grab steigt; da mag er wohl ernst werden; aber sein gläubiges Herz bewahrt ihm einen fröhlichen Sinn.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Harz