Der Brocken

Heute ist der Brocken ohne alle Schwierigkeiten durch die Brockenbahn zu erreichen; schon lange vorher aber bot eine Brockenbesteigung keine besonderen Aufgaben, denn eine bequeme Chaussee führte bis zum Gipfel. Etwa um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts beginnen die ersten Beschreibungen von Brockenbesteigungen, von denen aus der des Fürsten Friedrich von Anhalt-Bernburg einige Sätze folgen mögen:

„Wären (von Rübeland) nach dem Brockensberge zugegangen, und hätten ihn durch einen morastigen, steinichten und sonsten bösen Weg eine Meile hinanbestiegen, die Bäume sich aber in der Höhe immer vergeringert, und endlich gar verloren, also, dass oben der Platz, einer guten halben Meile groß ganz kahl mit Haide bewachsen, teils morastig, teils felsig und hart wäre gewesen. Anfangs hätten sie auf offenem Platz ihnen zur linken Hand sich aufeinander gefügte sehr große Steine gesehen, welche daselbst des Königs Kapelle genannt wurden, besser hinauf über ihnen zur Rechten wäre ein ziemlich tiefer und großer Teich gewesen, ungefähr zwei oder drei Morgen groß, der Zauberteich genannt, und weiter fort ein schöner großer Quell guten Wassers, an welchem ein Stein gelegen mit einem Loche, worin eine eiserne Stange gestanden, daran eine eiserne Kelle mit einer Kette angeheftet gewesen, welcher Quell der Zauberbrunnen (heute Kellwasser) genannt wurde. Der Wegweiser hätte, weil es sehr neblig gewesen, sich nicht getraut, den Weg nach Andreasberg zu finden, hätten also die vorige Beschwerde wiederholen und mit Gefahr Menschen und Thiere herabziehen müssen. Sie hätten hernach zur rechten Hand auf einem hohen Berge, die Höhe genannt, viel Felsen und Steinklippen, fast wie eine Mauer liegen lassen, und wären endlich an etliche aufeinander geschichtete Felsen, so auch die Königskapelle wäre geheißen worden und am Wege gelegen, gekommen.“


Wer wirklich Freude an dem Besuch des Brockens haben will, wird auch heute noch lieber zu Fuß aufsteigen als sich der Bahn anvertrauen, deren Rauch und Geräusch hässlich die Ruhe der Berge und Täler stört. Merkwürdig, wie die Menschen heute immer durch das Mittel den Zweck verjagen; wer mit der Harzquerbahn und ihrer Abzweigung auf den Brocken fährt, der sucht die einsamen grünen Täler mit dem rauschenden und kalten, klaren Wasser, in welchem die Forelle springt, und die Waldeseinsamkeit der runden waldbedeckten Höhen, der weiten dunkeln Hochebenen; aber der Eisenbahnzug, der ihn durch diese Herrlichkeit trägt, zerstört sie ja gerade; was der Mensch fliehen will, das bringt er mit an den Ort, wohin er flieht.

Der Aufstieg auf den Brocken ist so wenig mühsam, dass wir als Schüler von Clausthal aus in etwa sechs Stunden den Brockengipfel erreichten; wir gingen die Nacht durch, dass wir zum Sonnenaufgang oben waren und kehrten dann wieder zurück. Ein solcher nächtlicher Weg gehört zu meinen schönsten Erinnerungen. Wir gingen über Altenau und Torfhaus; erst die schöne Altenauer Chaussee, die durch Fichtenhochwald führt, in welchem nächtliche Stille herrschte; am Polstertal schnitten wir leichtsinnig die Windungen der Chaussee ab, indem wir in der Dunkelheit den schmalen Fußsteig einschlugen, der oberhalb der Altenauer Hütte herauskommt; wir gingen einer hinter dem andern tappend den steilen Hüttenberg zwischen den Fichten aufwärts, bis wir auf der Höhe ankamen, wo von der andern Seite der Berge der Hüttenrauch den Baumwuchs vernichtet hat und wir nun nicht mehr die dunkeln Zweige über uns hatten, sondern die Wolken, die zogen und sich drängten; und bald ging dann auch der Mond auf, der die weitläufige Hütte unter uns, das sich windende Tal, den kahlen Bergzug gegenüber so hell beleuchtete, dass man glaubte, die Steine einzeln unterscheiden zu können. Es war gegen Mitternacht, und die Häuser von Altenau waren dunkel, aber die Hunde hatten uns gewittert und bellten schon von weitem; und einmal drang auch wohl der Laut einer klirrenden Kette nach oben, wenn eine Kuh im Stall sich bewegte. Dann ging es im Mondschein weiter durch die Waldwege, wo nun die Zweige der Bäume phantastische Netze auf den Boden malten; die Kühle des Morgens kam zu der Kälte der größeren Höhe, welche wir allmählich erreichten, schweigend, ohne die vielen Gespräche, mit denen sonst Knaben ihre Ausflüge begleiten. Wir kamen in die Gegend der Torfmoore, wo verkrüppelte weißschalige Birken vereinzelt aus der trügerischen Decke aufwachsen zwischen dem dichten Heidelbeerkraut; und wunderliche Gestalten nehmen in dem phantastischen Mondlicht die Birken an. Zuweilen begleitete uns ein heimlich rauschendes Wässerchen, aus dem es hier und da widerblitzte durch den Mondschein; in plätschernder Eile schoss es wegab. Dann kam wieder Wald, wo sich das Mondlicht zwischen den hohen Stämmen verlor; ein Hai mit abgeblühten Kerzen des Fingerhuts, wo man weit über den schweigenden Wald blicken konnte; vor uns stand der Gipfel des Brockens, der sich ruhig erhebt aus den weiten Wäldern. Nun wurde der Anstieg steiler, noch freier und frischer die Luft; große Granittrümmer lagen verstreut zwischen den Stämmen, in Mondlicht und Schatten wunderliche Gestalten bildend. Mit der Zeit wurde der Wald immer dünner, verloren die Fichten ihre gerade Gestalt, zeigten sie sonderbare Krümme und verwachsene Formen; die Spuren des pflegenden Menschen verschwanden; umgestürzte Stämme, die seit Jahren gelegen hatten und ihre rindenentblößten Äste wie weiße Knochen zeigten, lagen zwischen den Felsen; die Kronen waren bei vielen Stämmen abgebrochen; die Bäume wurden auch immer kleiner und kleiner, immer phantastischer die greifenden und klammernden Wurzeln. Es kam die Gegend der fast gestrüppartigen niedrigen Stämme, die viele hundert Jahre lang so niedrig und zäh in den heulenden Stürmen stehen sollen; an einer Stelle waren die Stämme abgestorben und der Rinde beraubt und sahen weiß und knöchern in die mondbeschienene Nacht.

Wir hatten keinen Nebel auf dem Wege gehabt und auch am Fuß des Brockens die Spitze ganz klar gesehen; aber jetzt, eine halbe Stunde etwa von Gipfel und Haus entfernt, war urplötzlich alles von Nebel eingehüllt, ohne dass wir eine Ahnung gehabt hatten. Es war ein Glück, dass wir uns auf dem Weg befanden; nur einer von uns war wenige Schritte zur Seite gegangen, um eine ganz merkwürdig verkrüppelte Zwergfichte zu betrachten; trotzdem er uns so nahe war, gelang es ihm doch nicht gleich, uns wieder zu finden, denn auch die orientierenden Rufe scheinen bei dem dichten Nebel zu äffen. So stiegen wir die letzte Höhe, welche ganz kahl ist, eilig hinauf, bis zu dem gastlichen Brockenhaus, wo wir uns ausruhen und auf den Sonnenaufgang warten konnten.

Der Blick vom Brocken ist sehr reizvoll bei klarem Wetter, wenn man über die steinige nächste Umgebung fort die weiten Wälder übersieht mit den einzelnen Hais und jüngeren Beständen, den einsamen Forsthäusern; weiterhin die versteckten Orte des Harzes, und dann die flache Ebene mit ihren vielen, vielen Städten, Flecken und Dörfern in ihren Fluren. Ein solcher Blick gibt ein Gefühl der Weite und Freiheit in die Seele, eine Lust zu fliegen und zu herrschen, eine Ungebundenheit und Leichtigkeit, ein Vergessen alles bürgerlichen und trägen Lebens im Behagen der Städte und Häuser. Aber seinen Reiz hat auch der Nebel und die Wolkenhülle, welche meistens den Gipfel umgibt. Auch da ist nichts Träges, Schweres oder Gleichgültiges. In dem Nebel wirbelt und brodelt es, zieht und flattert, ballt sich und türmt sich. Der Sturm legt sich in die Wolke und zerreißt sie, und ein Blick auf die Wälder und die Ebene wird frei; Fetzen der Wolke hängen sich an Felsen, an Baumspitzen, und ziehen leidenschaftlich den Entflohenen nach; da stürmt wieder ein neuer Wolkenwall herbei, wälzt sich und ballt sich in die Lücke, im Nu alles verdeckend und verfinsternd; an einer andern Stelle wird plötzlich durch einen Riss die Bläue des Himmels sichtbar; dann entsteht an einer ganz andern Stelle eine neue Öffnung mit einem neuen Blick, und die Wolken fliehen eilfertig wie ein geschlagenes Heer; aber wieder verfolgt von neuen Geschieben, Ballen, Mächten und treibenden Zügen. Und nichts scheint spielerisch bei diesen Bewegungen, alles ist Leidenschaft, Ernst, Sehnsucht, Verlangen, Hass, und düstere, furchtbare Schwermut. Stundenlang, tagelang könnte einer diesem Kampf der Wolken zuschauen, und immer neue Arten der Leidenschaft in ihnen finden. Das Meer ist eintönig gegen diese Wolken.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Harz