Zur gleichen Zeit, da sich diese Tragödie abspielte, wurde in der Rue Grand Cours ein zweites Verlobungsfest gefeiert.

Zur gleichen Zeit, da sich diese Tragödie abspielte, wurde in der Rue Grand Cours ein zweites Verlobungsfest gefeiert. Hatte es sich dort aber nur um Leute des bürgerlichen Mittelstandes gehandelt, fand man hier einen erlesenen Kreis der vornehmsten Marseiller Gesellschaft vor. Man saß bei Tisch, und die Unterhaltung wurde lebendig durch die Leidenschaften jener Zeit. Leidenschaften, die um so heftiger und zündbarer waren, als seit fünfhundert Jahren der religiöse Haß dem politischen fort und fort neue Nahrung gab.

Der Kaiser -- damals König auf der Insel Elba --, der einen großen Teil der Welt beherrscht hatte und sich nun mit dem kleinen Elba begnügen mußte, schien dieser Gesellschaft ein toter Mann und für immer erledigt.


So erhob denn der greise Marquis von Saint-Méran, der heute seine Tochter Renée mit dem Substitut des königlichen Prokurators Herrn de Villefort verlobt hatte, sein Glas, um ein Hoch auf das Wohl Ludwigs XVIII. auszubringen. Das rief allgemein eine stürmische Begeisterung hervor. Man schwang die Gläser auf englische Manier, und die Damen lösten ihre Blumensträuße auf, um die Tafel mit Blüten zu bestreuen.

In diesem Augenblick trat ein Kammerdiener ein, näherte sich dem Herrn de Villefort und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr. Villefort entschuldigte sich bei seiner Braut und verließ eilends die Festtafel.

Villefort hatte kaum den Speisesaal verlassen, als er auch sogleich eine gestrenge Amtsmiene aufzusetzen sich bemühte. Es gelang ihm dies heute nicht so leicht, da er sich froh und glücklich fühlte, wie es ein Mensch nur sein kann. Er hatte auch allen Grund dazu. So jung er noch war, bekleidete er bereits eine ansehnliche Stellung, und durch seine Verlobung mit der schönen Renée de Saint-Méran kam er in eine Familie, die bei Hofe zurzeit das größte Ansehen hatte. Dazu war Renée das einzige Kind ihrer Eltern und brachte ihm eine Mitgift von fünfzigtausend Franken in die Ehe. Sollte er da nicht guter Dinge sein?

Er traf vor der Tür den Polizeikommissar, der auf ihn wartete. Er trat zu ihm heran und sagte: »Es ist gut, daß Sie den Mann verhafteten. Wissen Sie bereits Näheres über dieses Komplott?«

»Von einem Komplott, mein Herr, weiß ich nichts. Alle Papiere, die man bei ihm fand, liegen versiegelt in Ihrem Bureau. Was den Verhafteten betrifft, so ist es ein gewisser Edmond Dantes, Kapitän des Handelsschiffes von Morrel & Sohn in Marseille.«

Auf dem Wege zum Justizpalast wurde Villefort von jemand angesprochen. Es war Herr Morrel.

»Ah, Herr von Villefortl« rief der redliche Mann, als er den Substituten erblickte. »Ich bin sehr erfreut, Ihnen hier zu begegnen. Man hat eben den seltsamsten und unerhörtesten Mißgriff getan und Edmond Dantes verhaftet, den Kapitän meines Schiffes.«

»Ich weiß es, mein Herr!« entgegnete Villefort. »Und ich gehe, um ihn zu verhören.«

»Ach, mein Herr,« fuhr Morrel, voller Angst und Sorge um seinen jungen Kapitän, dringend fort, »Sie kennen ihn nicht, den man beschuldigt; aber ich kenne ihn. Denken Sie sich den friedlichsten, rechtschaffensten Menschen, ich möchte fast sagen, den Mann, der bei der ganzen Handelsmarine seinen Platz am besten ausfüllt. Oh, Herr von Villefort, ich empfehle Ihnen den Mann aufrichtig und von ganzem Herzen.«

Wie man weiß, gehörte Villefort der Adelspartei der Stadt an und Morrel der bürgerlichen; der erste war Ultra-Royalist, der zweite des geheimen Bonapartismus verdächtig. Villefort blickte mit Geringschätzung auf Morrel und sprach zu ihm mit Kälte:

»Sie wissen, mein Herr, man kann friedlich sein im Privatleben, rechtschaffen im Handelsverkehr, geschickt in seinem Berufe und, politisch gesprochen, dennoch ein großer Verbrecher. Sie wissen das, Herr, nicht wahr? Im übrigen mögen Sie überzeugt sein, daß man Ihrem Schützling Gerechtigkeit widerfahren lassen wird.«

Damit grüßte er frostig und ließ den gütigen Mann auf der Straße stehen.

Der Vorraum des Justizpalastes war voll von Gendarmen und Polizeiagenten. Mitten unter ihnen stand regungslos der Gefangene.

Als Villefort eintrat, warf er einen scheelen Blick auf Dantes. Dann nahm er das Bündel Schriften in Empfang und sagte: »Man führe den Gefangenen vor!«

Als Dantes vor dem Richter stand, grüßte er höflich.

»Wer sind Sie? Wie ist Ihr Name?« fragte Villefort.

»Ich nenne mich Edmond Dantes, mein Herr,« antwortete der junge Mann mit einer ruhigen, klangvollen Stimme, »und bin Kapitän an Bord des Schiffes ›Pharaon‹ der Herren Morrel & Sohn.«

»Ihr Alter?« fragte Villefort weiter.

»Neunzehn Jahre«, entgegnete Dantes.

»Was haben Sie in dem Augenblick getan, als Sie verhaftet wurden?«

»Ich hielt mein eigenes Verlobungsmahl, mein Herr«, versetzte Dantes mit bewegter Stimme.

»Sie waren bei Ihrem Verlobungsmahl?« fragte der Substitut, unwillkürlich zitternd.

»Ja, mein Herr, ich stehe im Begriff, ein Mädchen zu heiraten, das ich seit drei Jahren liebe.«

Wie unempfindlich auch Villefort gewöhnlich war, so wurde er doch durch dieses Zusammentreffen der Umstände erschüttert.

»Man beschuldigt Sie stark übertriebener politischer Gesinnungen«, fuhr er nun fort.

»Was meine politischen Gesinnungen betrifft, mein Herr, so schäme ich mich beinahe, es zu sagen; ich habe nie das gehabt, was man solch eine Gesinnung nennt. Ich zähle kaum neunzehn Jahre, weiß nichts und bin nicht dazu bestimmt, irgendeine Rolle zu spielen; das wenige, was ich bin, habe ich Herrn Morrel zu verdanken. Sonach beschränken sich alle meine Gesinnungen einzig auf drei Empfindungen: ich liebe meinen Vater, ich achte Herrn Morrel und bete meine Mercedes an. Das ist alles, mein Herr, was ich dem Gericht sagen kann.«

Villefort grübelte vor sich hin.

»Haben Sie Feinde?« fragte er dann.

»Ich bin noch zu wenig, um Feinde zu haben«, äußerte Dantes bescheiden.

»Nun -- oder Neider«, forschte Villefort. »Sie sind mit neunzehn Jahren zum Kapitän ernannt, ein schönes Mädchen hat Ihnen seine Neigung geschenkt, zwei Tatsachen, um die Sie wohl beneidet werden könnten.«

»Bisher habe ich nie an dergleichen gedacht; indessen, Sie mögen recht haben. Sollte ich die Neider aber unter meinen Freunden suchen müssen, wünschte ich sie lieber nicht zu kennen, um nicht genötigt zu sein, sie zu hassen.«

»Das ist töricht, mein Lieber. Wohl dem, der klar sieht. Ihnen wäre vielleicht all dies erspart geblieben, denn Sie scheinen mir wirklich ein Opfer von Neid und Mißgunst zu sein. Ich will Ihnen gern zur Aufklärung Ihrer Lage verhelfen. Sehen Sie einmal: kennen Sie diese Handschrift?«

Er reichte ihm den anonymen Anklagebrief hinüber.

Dantes las, und seine Stirn umdüsterte sich.

»Nein, mein Herr, ich kenne die Handschrift nicht. Sie ist verstellt, trotzdem sie Schwung hat.«

Villefort ging ein paarmal hin und her, dann wandte er sich an Dantes und sagte: »Jetzt antworten Sie mir mal ganz freimütig, nicht wie ein Angeklagter seinem Richter, sondern wie ein Mensch in einer schiefen Stellung einem andern Menschen antwortet, der ihm Teilnahme schenkt: Was ist Wahres an dieser anonymen Beschuldigung?«

»Alles und nichts, mein Herr! Das ist die reine Wahrheit, sie ist's bei meiner Seemannsehre, bei meiner Liebe zu Mercedes, bei dem Leben meines Vaters!«

»Sprechen Sie, Herr!« sagte Villefort.

»Wohlan! Als wir Neapel verließen, wurde Kapitän Leclerc von einer Gehirnentzündung befallen; als er den Tod herannahen fühlte, beschied er mich zu sich und sagte: ›Mein lieber Dantes, schwören Sie mir bei Ihrer Ehre, das zu tun, was ich Ihnen sagen werde, denn es ist von größter Wichtigkeit.‹ ›Ich schwöre es Ihnen, Kapitän!‹ war meine Antwort. ›Nun gut; da Ihnen als Vizekapitän nach meinem Tode das Schiffskommando gebührt, so übernehmen Sie dasselbe; Sie segeln nach der Insel Elba, landen in Porto-Ferrajo, fragen nach dem Großmarschall und überreichen ihm diesen Brief; vielleicht übergibt man Ihnen einen andern Brief und erteilt Ihnen irgendeinen Auftrag. Diese Sendung, Dantes, die mir zugedacht war, sollen Sie nun statt meiner übernehmen, und es wird Ihnen sodann alle Ehre zuteil werden.‹ ›Ich will es tun, Kapitän. Aber vielleicht kann man nicht so leicht, wie Sie glauben, zum Großmarschall gelangen.‹ ›Hier ist ein Ring, den Sie ihm zukommen lassen,‹ sagte der Kapitän, ›dieser wird alle Schwierigkeiten beseitigen.‹ Mit diesen Worten übergab er mir einen Ring; es war hohe Zeit, zwei Stunden darauf lag er im Delirium, am folgenden Tage war er tot.«

»Und was haben Sie getan?«

»Was ich tun mußte, mein Herr, und was an meiner Stelle jeder andre getan hätte. Die Bitten eines Sterbenden sind heilig; aber bei den Seeleuten sind die Bitten eines Vorgesetzten Befehle, die man erfüllen muß. Ich segelte also nach der Insel Elba, wo ich am folgenden Tage anlangte; ich gab der ganzen Mannschaft Befehl, auf dem Schiffe zu bleiben, und stieg allein ans Land. Wie ich es voraussah, machte man mir Schwierigkeiten, mich beim Großmarschall einzuführen; als ich ihm aber den Ring zuschickte, wurden mir alle Türen geöffnet. Er empfing mich, befragte mich um die letzten Lebensumstände des unglücklichen Kapitäns Leclerc und übergab mir einen Brief mit dem Auftrage, ihn persönlich nach Paris zu bringen. Ich versprach es ihm, denn dies hieß den letzten Willen meines Kapitäns vollziehen. Ich kehrte an Bord zurück, steuerte nach Marseille, wo ich gestern landete, und nachdem ich rasch alle Schiffsangelegenheiten in Ordnung gebracht hatte, eilte ich zu meiner Braut. Morgen hatte ich die Absicht, nach Paris zu fahren.«

»Ja, ja,« murmelte Villefort, »das alles dünkt mich Wahrheit, und wenn Sie schuldig sind, so sind Sie es aus Unklugheit; ferner ward diese Unklugheit gesetzlich durch die Befehle Ihres Kapitäns. Übergeben Sie uns jenen Brief, den man Ihnen auf der Insel Elba eingehändigt hat. Verbürgen Sie mir Ihr Ehrenwort, sich bei der ersten Vorladung zu stellen, und kehren Sie jetzt zu Ihren Freunden zurück.«

»Ich bin also frei, mein Herr?« rief Dantes voll Entzücken.

»Ja, nur geben Sie mir jenen Brief.«

»Er muß vor Ihnen liegen, mein Herr, denn man hat ihn mir mit meinen andern Papieren weggenommen, und ich erkenne einige davon in diesem Bündel.«

»Warten Sie,« sagte der Substitut zu Dantes, der schon seine Handschuhe und seinen Hut genommen hatte, »warten Sie, an wen war er adressiert?«

»An Herrn Noirtier, Rue Coq-Héron in Paris«, antwortete Dantes.

Als hätte ihn ein Blitz getroffen, sank Villefort auf seinen Stuhl zurück. Dann griff er mit zitternder Hand nach dem Brief.

»Mr. Noirtier, Rue Coq-Héron, Nummer 13?«

Stöhnend barg der Mann einen Augenblick sein Haupt in den Händen. Dann fragte er mit rauher Stimme: »Weiß noch jemand um den Brief?«

»Nein, Herr«, sagte Dantes verwundert.

»Und war dies der einzige Brief?«

»Ja. Herr.«

»Können Sie beides beschwören?«

»Ich beschwöre es.«

»Gut«, sagte der Richter mit Anstrengung. »Der Brief könnte für Sie sehr verhängnisvoll werden. Ich habe Interesse für Sie und möchte Ihnen helfen. Sehen Sie: ich vernichte den Brief, daß keine Spur von ihm bleibt.« Er war zum Kamin gegangen und warf das Schriftstück in die lodernden Flammen. Dann sah er Dantes mit erloschenen Augen an.

»Dafür erwarte ich von Ihnen eine Art Gegenleistung ... zwar kann ich Sie im Augenblick doch noch nicht gehen lassen... ein anderer Beamter wird Sie noch einmal verhören. Sagen Sie alles, was Sie mir gesagt haben, aber kein Wort von dem Brief.«

»Ich verspreche es Ihnen.«

»Das ist recht so. Und nun noch ein wenig Geduld und den Kopf hoch.«

»Ich danke Ihnen, mein Herrl«

Villefort griff nach der Klingelschnur; der Kommissar trat ein. Der Richter flüsterte ihm einige Worte ins Ohr. Der Beamte nickte, dann wandte er sich an Dantes:

»Folgen Sie mir!«

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo