Wenige Tage danach saß Caderousse mit seinem kranken Weibe vor der Tür seines ärmlichen Gasthauses

Wenige Tage danach saß Caderousse mit seinem kranken Weibe vor der Tür seines ärmlichen Gasthauses und hörte die Klagen der Frau über ihr elendes Dasein mit verdrießlicher Miene an.

»Sei still, Weib; Gott will es nicht anders!« schrie er sie schließlich an. Weshalb Gott es nicht anders wollte, schien ihm bewußt zu sein. Als er nun so saß und starren Blicks die Landstraße entlang sah, bemerkte er einen Reiter, der auf das Gasthaus zugeritten kam. Es war ein schwarzgekleideter Priester mit einem dreieckigen Hut. Caderousse ging ihm ehrfurchtsvoll entgegen und fragte nach seinem Begehr.


»Seid Ihr Gaspard Caderousse?« fragte der Priester.

»Stehe zu Diensten, Herr Abbé.«

»Und übtet damals das Schneiderhandwerk aus?«

»Ja, aber der Stand hat sich übel gewendet. In diesem Spitzbuben-Marseille ist's so heiß, daß man am Ende sich gar nicht anziehen wird. Aber da soeben von der Hitze die Rede ist, wollen Sie sich nicht erfrischen, Herr Abbé?«

»Ja, gebt mir eine Flasche von Eurem allerbesten Weine.«

Und um keine Zeit zu verlieren, eine seiner letzten Flaschen Weines von Bahors, die ihm geblieben waren, an den Mann zu bringen, beeilte sich Caderousse, eine Falltür zu öffnen, die ebenfalls in dem Boden jener Art ebenerdigen Zimmers angebracht war, das zugleich als Saal und Küche verwendet wurde. Als er nach fünf Minuten wiederkehrte, fand er den Abbé auf einer Bank mit auf den Tisch gestützten Ellbogen sitzen.

»Ihr seid allein?« fragte der Abbé seinen Wirt, während dieser die Flasche und ein Glas auf den Tisch stellte.

»O mein Gott, ja, allein oder wenigstens soviel wie allein, Herr Abbé, denn ich habe niemanden als mein Weib, die mir in nichts helfen kann, da sie nämlich immer krank ist, die arme Carconte.«

»Ach, seid Ihr verheiratet?« fragte der Priester mit einer Art Teilnahme und einen Blick um sich werfend, der den winzigen Wert der magern Wirtschafts- und Ausstattungsgeräte zu schätzen schien.

»Sie finden, daß ich nicht reich bin, nicht wahr, Herr Abbé?« sprach Caderousse seufzend. »Aber was wollen Sie, es reicht nicht aus, ein ehrlicher Mann zu sein, um in dieser Welt sein Glück zu machen.«

Der Abbé heftete einen durchdringenden Blick auf ihn.

»Ja, ein ehrlicher Mann, des kann ich mich rühmen, Euer Gnaden,« sprach der Wirt, die eine Hand auf seine Brust gelegt, mit dem Kopf nickend, indem er dem Blicke des Abbé standhielt, »und in unserer Zeit kann so was nicht jeder sagen.«

»Um so besser, wenn das, dessen Ihr Euch rühmt, wahr ist,« sprach der Abbé, »denn ich bin fest überzeugt davon, früh oder spät wird der Ehrenmann belohnt und der Bösewicht gezüchtigt.«

»So pflegt Ihr zu behaupten, Herr Abbé«, versetzte Caderousse mit bitterem Ausdruck. »Nachher bleibt es einem aber doch freigestellt, das, was Sie sagen, nicht zu glauben.«

»Ihr habt unrecht, so zu reden,« sprach der Abbé, »denn vielleicht werde ich alsogleich für Euch ein Beweis dessen sein, was ich behaupte.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Caderousse erstaunt.

»Ich will damit sagen, daß ich mich vor allem überzeugen muß, ob Ihr derjenige seid, den ich suche.«

»Was für Beweise wollen Sie denn von mir?«

»Kanntet Ihr im Jahre 1814 oder 1815 einen Seemann namens Dantes?«

»Dantes? Und ob ich ihn kannte, den armen Edmond! Er war sogar einer meiner besten Freunde!« rief Caderousse, dessen Antlitz sich purpurrot färbte, während der klare und feste Blick des Abbés sich zu erweitern schien, um den andern ganz und gar zu durchschauen.

»Ja, ich glaube, er hieß Edmond.«

»Ob er Edmond hieß, der Junge, glaub's gern, so wahr ich Gaspard Caderousse heiße; und was ist aus ihm geworden, gnädiger Herr, aus dem armen Edmond?« fuhr der Gastwirt fort, »hätten Sie ihn vielleicht gar gekannt? Ist er frei, glücklich?«

»Er starb als Gefangener, verzweifelter und elender als jene Zwangsarbeiter, die im Bagno von Toulon die Kugeln an den Füßen schleppen«, antwortete der Abbé. Tödliche Blässe folgte im Angesicht Caderousses auf die Röte, die es vordem überzogen. Er wandte sich um, und der Abbé sah ihn mit dem Tuche, das er am Kopfe trug, sich eine Träne aus dem Auge wischen.

»Armer Junge«, murmelte Caderousse vor sich hin. »Je nun, wieder ein Beweis dessen, was ich Ihnen sagte, Herr Abbé, daß der gute Gott nur für die Bösen gut sei. Ach,« fuhr Caderousse in der farbigen Sprache des Südländers fort, »in dieser Welt wird es immer ärger statt besser. So falle denn zwei Tage Pulver und eine Stunde lang Feuer vom Himmel nieder, und alles habe einmal ein Ende.«

»Ihr scheint den Jungen von ganzem Herzen zu lieben?« fragte der Abbé.

»Jawohl,« sprach Caderousse, »obgleich ich mir den Vorwurf machen muß, ihn eine Weile um sein Glück beneidet zu haben. Seitdem aber habe ich sein unglückliches Schicksal tief beklagt, auf Ehre, so wahr ich Caderousse heiße!« Einen Augenblick trat Stillschweigen ein, währenddessen der starre Blick des Abbés nicht eine Minute aufhörte, das bewegliche Gesicht des Gastwirts zu erforschen.

»Und Sie haben ihn gekannt, den armen Jungen?« fuhr Caderousse fort.

»Ich wurde an sein Sterbebett gerufen, um ihm die letzte Labung der Religion zu reichen«, antwortete der Abbé.

»Und woran starb er?« fragte Caderousse mit erstickter Stimme.

»Woran stirbt man im Gefängnis, wenn man im Alter von dreißig Jahren darin stirbt, wenn nicht am Gefängnis selbst?«

Caderousse wischte sich den Schweiß ab, der ihm von der Stirn rann.

»Was bei alledem das merkwürdigste war, ist, daß Dantes auf seinem Sterbebette mir bei Christus, dessen Füße er küßte, immer schwur, die wahrhafte Ursache seiner Gefangenschaft nicht zu wissen.«

»Wahr, wahr,« flüsterte Caderousse, »er konnte es nicht wissen, mein Herr Abbé, der arme Junge log nicht.«

»Daher kam es, daß er mich beauftragte, über sein Unglück Licht zu verbreiten, da er es nie zu tun imstande war, und sein Andenken wieder zu reinigen, wenn es irgendwo besudelt worden sein sollte.«

Und der Blick des Abbés, immer starrer und strenger werdend, verschlang beinahe den düstern Ausdruck, der das Angesicht Caderousses umzog.

»Ein reicher Engländer, sein Unglücksgenosse,« fuhr er fort, »der während der zweiten Restauration frei ward, war Besitzer eines Diamanten von großem Werte. Als er aus dem Gefängnis kam, wollte er Dantes, der ihn während einer Krankheit wie ein Bruder gepflegt hatte, einen Beweis der Dankbarkeit geben und ließ ihm diesen Diamanten. Anstatt sich dessen zu bedienen, um seine Gefängniswärter zu verführen, die ihm übrigens denselben wegnehmen und ihn vielleicht hätten verraten können, bewahrte ihn Dantes immer sorgfältigst für den Fall, daß er frei würde; denn wäre dies geschehen, so war sein Vermögen durch den Verkauf dieses einzigen Diamanten gesichert.«

»Es war also, wie Sie sagen, ein Diamant von bedeutendem Werte?« fragte Caderousse mit glühenden Blicken.

»Alles ist relativ,« versetzte der Abbé, »wenigstens außerordentlich wertvoll für Edmond; dieser Diamant ward auf fünfzigtausend Franken geschätzt.«

»Fünfzigtausend Franken!« sprach Caderousse. »Aber der muß ja so groß wie eine Nuß gewesen sein.«

»Nicht so ganz,« sprach der Abbé, »aber Sie können ihn selbst sehen, denn ich habe ihn bei mir.«

Caderousse schien in dessen Kleiderfalten das Besprochene zu suchen. Der Abbé zog aus seiner Tasche ein schwarzes Kästchen von Chagrin hervor und ließ in Caderousses geblendete Blicke das glitzernde Wunder funkeln, das in einen Ring von wundervoller Arbeit gefaßt war.

»Und das ist fünfzigtausend Franken wert?« fragte Caderousse gierig.

»Ohne die Fassung, die an und für sich schon einen gewissen Wert hat«, sprach der Abbé. Und er schloß das Kästchen und steckte den Diamant, der in den Tiefen von Caderousses Innerm fort und fort funkelte, wieder in die Tasche.

»Wie aber befinden Sie sich im Besitze dieses Diamanten, Herr Abbé?« fragte Caderousse. »Edmond setzte Sie also zu seinem Erben ein?«

»Nein, aber zu seinem Testamentsvollstrecker. ›Ich hatte drei gute Freunde und eine Verlobte‹, sprach Dantes zu mir; ›alle vier beweinen mich sehr, des bin ich gewiß; einer dieser guten Freunde hieß Caderousse.‹«

Caderousse bebte.

»›Der andere,‹« fuhr der Abbé fort, ohne scheinbar die Erregtheit Caderousses zu bemerken, »›der andere hieß Danglars; der dritte,‹« fügte er hinzu, » ›der dritte, obgleich mein Nebenbuhler, liebte mich ebenfalls...‹«

Teuflisches Grinsen durchzuckte das Antlitz Caderousses, der eine Bewegung machte, um den Abbé zu unterbrechen.

»Warten Sie,« sprach der Abbé, »lassen Sie mich zu Ende kommen, und wenn Sie irgendeine Bemerkung zu machen haben, so können Sie es mir hernach sagen. ›Der dritte, obgleich mein Nebenbuhler, liebte mich ebenfalls und hieß Fernando; was meine Verlobte betrifft, so hieß sie...‹, ich erinnere mich nicht mehr recht ihres Namens«, sprach der Abbé.

»Mercedes!« sprach Caderousse.

»Ach ja, das ist's,« sprach der Abbé mit ersticktem Seufzer, »Mercedes.«

»Nun, dann?« fragte Caderousse.

»Gebt mir ein Glas Wasser«, sprach der Abbé.

Caderousse beeilte sich, zu gehorchen. Der Abbé nahm das Glas und trank mehrere Züge.

»Also,« bemerkte er dann von neuem, das Glas auf den Tisch stellend, »die Verlobte hieß Mercedes; ja, ja, so hieß sie. ›Sie werden sich nach Marseille begeben...‹ Immer spricht Dantes, versteht mich gut.«

»Ganz wohl.«

»›Verkaufen diesen Diamant, teilen das Geld in fünf Teile und verteilen es unter diese guten Freunde, die einzigen, die mich im Leben geliebt haben.‹«

»Wie, fünf Teile, Sie haben mir nur vier Personen genannt.«

»Weil, wie man mir gesagt, die fünfte gestorben ist... die fünfte war Dantes' Vater.«

»Leider ja!« sprach Caderousse, von den Leidenschaften tief erregt, die auf ihn einstürmten, »leider ja, der arme Mann starb!«

»Dies habe ich in Marseille vernommen,« antwortete der Abbé, gleichgültig bleibend, »aber es ist schon so lange, daß ich gar keine einzelnen Erkundigungen einziehen konnte... Wüßten Sie vielleicht etwas von dem Tode dieses Greises?«

»Ei,« sprach Caderousse, »wer könnte das besser wissen als ich?... Ich wohnte Tür an Tür mit dem guten Alten... Du lieber Gott! Ja, kaum ein Jahr nach dem Verschwinden seines Sohnes starb er, der arme Greis!«

»Aber woran starb er?«

»Die Ärzte gaben der Krankheit einen Namen; ich glaube, er starb an einer Magenentzündung; seine Bekannten sagten, er sei vor Schmerz gestorben... Ich aber, der ich ihn sterben gesehen, sage, er starb...«

Caderousse stockte.

»Woran?« fragte der Priester angstergriffen.

»Je nun, vor Hunger starb er.«

»Vor Hunger!« rief der Abbé, von seinem Sitze auffahrend.

»Vor Hunger! Das gemeinste Tier stirbt nicht vor Hunger; Hunde auf der Straße finden eine mitleidige Hand, die ihnen ein Stück Brot hinwirft, und ein Mensch, ein Christ stirbt inmitten der andern Menschen, die wie er sich Christen nennen, vor Hunger! Unmöglich, oh, unmöglich!«

»Ich sage, was ich sage«, versetzte Caderousse.

»Und hast unrecht,« sprach eine Stimme auf der Stiege, »was geht das dich an?«

Die beiden Männer wandten sich um und sahen durch das Gitter der Brüstung das kränkliche Gesicht der Carconte; sie hatte sich bis dahin geschleppt und hörte, auf der letzten Stufe sitzend, mit auf die Knie gestütztem Kopfe dem Gespräche zu.

»Was geht's dich selber an, Weib?« sprach Caderousse. »Der gnädige Herr verlangt Auskunft, die Artigkeit erfordert, daß ich sie ihm gebe.«

»Ja, aber die Klugheit will, daß du sie ihm verweigerst. Wer sagt dir, in welcher Absicht man dich zum Reden bringen will, du Pinsel?«

»In ganz ehrlicher Absicht, meine Liebe, ich stehe Ihnen dafür«, sprach der Abbé. »Ihr Mann hat nichts zu fürchten, er rede nur freiweg.«

»Nichts zu fürchten... Mit schönen Versprechungen fängt man an, dann begnügt man sich, einem zu sagen, man habe nichts zu fürchten, dann geht man, ohne zu halten, was man versprochen, und an einem lichten Morgen kommt Unglück über die armen Leute, ohne daß sie wissen, wie und wann.«

»Seien Sie ruhig, gute Frau«, antwortete der Abbé. »Ich stehe Ihnen dafür, von meiner Seite soll Ihnen kein Unglück widerfahren.«

Die Carconte schmälte einige unvernehmbare Worte, ließ ihren eine Weile emporgerichteten Kopf auf die Knie zurücksinken und stellte ihrem Manne frei, das Gespräch fortzusetzen, verblieb aber in einer Stellung, in der sie kein Wort überhören konnte.

Währenddessen hatte der Abbé einige Züge Wasser getrunken und war wieder bereit.

»Aber«, versetzte er, »war denn dieser unglückliche Greis so weltverlassen, daß er eines solchen Todes starb?«

»Oh, gnädiger Herr,« versetzte Caderousse, »es war nicht, weil ihn vielleicht die Katalanerin Mercedes oder Herr Morrel verlassen haben, aber der arme Alte empfand einen tiefen Abscheu vor Fernando, demselben,« fuhr Caderousse mit ironischem Lächeln fort, »den Dantes Ihnen als seinen Freund nannte.«

»War er's denn nicht?« sprach der Abbé.

»Gaspard, Gaspard,« raunte das Weib von der Stiege herab, »gib acht, was du zu sagen hast!«

Caderousse machte ein Zeichen der Ungeduld, und ohne der, die ihn unterbrach, anderweitige Antwort zu geben, sprach er weiter zum Abbé: »Kann ich ein Freund dessen sein, der nach meinem Weibe Begehren trägt? Dantes, der ein Goldjunge war, nannte alle die Leute seine Freunde... Armer Edmond! Am Ende ist es besser, daß er nichts davon wußte; es wäre ihm zu schwer geworden, ihnen in der Stunde des Todes zu verzeihen. Und man sage darüber, was man wolle,« fuhr Caderousse in seiner Redeweise fort, der es nicht an einer Art rauher Poesie fehlte, »ich fürchte mich mehr vor dem Fluche der Toten als dem Hasse der Lebendigen.«

»Dummkopf!« sprach Carconte.

»Wißt Ihr denn,« sprach der Abbé weiter, »was Fernando Dantes getan hat?«

»Ob ich's weiß? Das will ich meinen!«

»So redet dann.«

»Gaspard, tue was du willst, du bist dein eigener Herr,« sprach das Weib, »wolltest du mir aber folgen, du würdest nichts sagen.«

»Diesmal, Weib, glaube ich, hast du recht«, sprach Caderousse.

»Also Ihr wollt nichts sagen?«

»Wozu!« sprach Caderousse. »Ja, wenn der Junge am Leben wäre und zu mir käme, und ein für allemal seine Freunde und Feinde kennenlernen möchte, sagte ich nicht nein; aber er liegt unter der Erde, wie Sie mir sagen, er kann nicht mehr hassen, er kann sich nimmer rächen, ersticken wir alles lieber.«

»Ihr wollt denn also,« sprach der Abbé, »ich soll jenen Leuten, die Ihr für unwürdige und falsche Freunde ausgebt, eine der Treue zugesprochene Belohnung zukommen lassen?«

»Wohl wahr, Sie haben recht«, sprach Caderousse. »Übrigens, was wäre jetzt das Vermächtnis des armen Edmond für sie? Ein Tropfen ins Meer.«

»Ohne zu rechnen, daß ihn diese Leute mit einem Winke vernichten können«, sprach das Weib.

»Wie das? Sind denn diese Leute reich und mächtig geworden?«

»Kennen Sie ihre Geschichte nicht?«

»Nein, erzählen Sie mir.«

Caderousse schien einen Augenblick zu sinnen.

»Nein, wahrhaftig, das wäre zu lang«, sprach er.

»Es steht Euch frei, zu schweigen, Freund,« sprach der Abbé im Tone größter Gleichgültigkeit, »und ich ehre Eure Skrupel; übrigens kommt das, was Ihr hier sagt, von ganz ehrlichem Herzen: reden wir also nicht mehr davon. Was war mein Auftrag? Ich werde also diesen Diamant verkaufen.«

Und wieder nahm er den Diamant hervor, öffnete das Kästchen und ließ ihn ein zweites Mal dem erstaunten Caderousse in die Augen funkeln.

»Komm doch her, Weib, und schau'«, sprach er mit rauher Stimme.

»Ein Diamant!« sprach die Carconte, aufstehend und ziemlich festen Schrittes von der Stiege herabkommend. »Was ist es denn mit diesem Diamanten?«

»Hast du's denn nicht gehört, Weib,« sprach Caderousse, »ein Diamant, den uns der Junge vermacht hat; erst seinem Vater, seinen Freunden Fernando, Danglars und mir, wie Mercedes, seiner Verlobten. Er ist fünfzigtausend Franken wert.«

»Oh, der schöne Stein!« sprach sie.

»Das Fünftel dieser Summe gehört dann uns?« sprach Caderousse.

»Ja,« sprach der Abbé, »um den Anteil von Dantes' Vater vermehrt, den ich unter euch vier zu verteilen mich ermächtigt glaube.«

»Und warum unter uns vier?« fragte Carconte.

»Weil ihr die vier Freunde Dantes' seid.«

»Verräter nennt man nicht Freunde«, sprach ihrerseits das Weib zwischen den Zähnen.

»Ja, ja,« sprach Caderousse, »das sage ich auch. Beinahe Entweihung, Schmach, Verrat, vielleicht gar Verbrechen zu belohnen.«

»Ihr wolltet es so,« versetzte der Abbé gelassen, den Diamant ruhig wieder in die Tasche seines Oberkleides steckend; »gebt mir jetzt die Adresse von Dantes' Freunden, damit ich seinen letzten Willen vollstrecke.«

In dicken Tropfen rann Caderousse der Schweiß von der Stirn; er sah den Abbé aufstehen, der Tür zuschreiten, als wolle er seinem Pferde einen auffordernden Blick zuwerfen, und wieder zurückkommen. Caderousse und sein Weib sahen einander mit unbeschreiblichem Ausdruck an.

»Der Diamant könnte ganz unser sein!« sprach Caderousse.

»Glaubst du?« antwortete das Weib.

»Ein Geistlicher wird uns nicht verführen wollen.«

»Tu, was du willst«, sprach das Weib. »Was mich betrifft, ich misch' mich nicht hinein.«

Und ganz von Frost durchschauert, stieg sie wieder die Treppe hinauf. Ungeachtet der glühenden Hitze klapperten ihre Zähne. Auf der letzten Stufe stand sie einen Augenblick still und sprach:

»Bedenke wohl, Gaspard!«

»Mein Entschluß ist gefaßt«, antwortete Caderousse. Die Carconte kehrte seufzend in ihr Zimmer zurück; man hörte die Zimmerdecke unter ihren Schritten knarren, bis sie ihren Lehnstuhl erreicht hatte, wo sie schwerfällig auf den Sitz sank.

»Was ist Euer Entschluß?« fragte der Abbé.

»Ihnen alles zu sagen.«

»Ich meine wahrhaftig, daß es das beste sei, was Ihr tun könnt,« sprach der Priester; »nicht, daß ich etwa Gewicht darauf lege, zu erfahren, was Ihr mir verbergen wollt; wenn Ihr mich aber dahin leiten wollt, das Vermächtnis dem Willen des Testators gemäß zu verteilen, so wird es besser sein.«

»Ich hoffe«, antwortete Caderousse, die Wangen von der Röte der Hoffnung und Habgier entflammt.

»Ich höre Euch«, sprach der Abbé.

»Geduld,« versetzte Caderousse, »man möchte uns bei den interessantesten Stellen unterbrechen, und dies wäre unangenehm; übrigens ist es nicht nötig, daß jemand von Ihrer Anwesenheit etwas erfährt.«

Und er ging zur Gasthofstür, die er verschloß, und die er noch aus größerer Vorsicht mit dem Riegel verrammelte. Währenddessen hatte der Abbé seinen Platz gewählt, um bequem hören zu können; er hatte sich derart in einen Winkel gesetzt, daß er im Schatten blieb, während das volle Tageslicht auf das Angesicht des Erzählers fiel. Er selbst aber bereitete sich vor, mit hinabgebeugtem Haupte, gefalteten oder vielmehr krampfhaft ineinandergeflochtenen Händen mit Aug' und Ohr zuzuhören. Caderousse trug eine Bank her und setzte sich ihm gegenüber.

»Denk' daran, daß ich dich zu nichts dränge«, sprach die klappernde Stimme der Carconte, als hätte sie durch den Fußboden die Szene sehen können, die sich vorbereitete.

»Schon recht, schon recht.« sprach Caderousse; »reden wir hierüber nichts mehr, ich nehme alles auf mich.«

Und er begann.

»Vor allem«, sprach Caderousse, »müssen Sie mir, gnädiger Herr, eines versprechen.«

»Was?« fragte der Abbé.

»Daß man niemals, wenn Sie irgendeinen Gebrauch von den Nachrichten machen, die ich Ihnen geben werde, erfahre, daß sie von mir herrühren; denn jene, von denen ich Ihnen erzählen werde, sind reich und mächtig, und berührten sie mich auch nur mit der Fingerspitze, sie zerbrächen mich wie Glas.«

»Seid ruhig, Freund!« sprach der Abbé. »Ich bin Priester, und Bekenntnisse sterben in meinem Busen; bedenkt, daß wir keinen andern Zweck haben, als den letzten Willen unseres Freundes würdig zu vollziehen; sprecht denn ohne Scheu wie ohne Haß, sagt die Wahrheit in ihrem ganzen Umfange, die Personen, von denen Ihr mir erzählen werdet, kenne ich nicht und werde sie vermutlich nie kennenlernen; übrigens bin ich ein Italiener und kein Franzose, bin ein Diener Gottes und nicht der Menschen und werde mich in mein Kloster zurückbegeben, das ich nur verließ, um den letzten Willen eines Sterbenden zu vollziehen.«

Diese bestimmte Versprechung schien Caderousse einigermaßen Zuversicht zu verleihen.

»Je nun, wenn's so ist,« sprach Caderousse, »so will ich, so sage ich sogar mehr: Ich muß Ihnen über jene Freundschaften, die der arme Edmond für aufrichtig und hingebend hielt, die Augen öffnen.«

»Beginnen wir denn mit seinem Vater, wenn es Euch gefällt«, sprach der Abbé. »Edmond sprach viel von diesem Greise mit mir, für den er tiefwurzelnde Liebe empfand.«

»Die Geschichte ist traurig, gnädiger Herr«, sprach Caderousse, den Kopf schüttelnd. »Sie kennen ihren Anfang vermutlich schon?«

»Ja,« antwortete der Abbé, »Edmond hat mir alles bis auf den Augenblick erzählt, wo er in einem kleinen Gasthaus bei Marseille verhaftet wurde.«

»Zur Reserve, o mein Gott, ja, ich sehe es noch, als wenn ich dabeistünde.«

»War es nicht während des Verlobungsschmauses selbst?«

»Ja, und der Schmaus, der einen frohen Anfang hatte, nahm ein trauriges Ende. Ein Polizeikommissar, von vier Wachen begleitet, trat ein, und Dantes wurde verhaftet.«

»Bis hierher reicht alles, was ich hierüber weiß; Dantes selbst wußte nicht mehr, als was ihn persönlich betraf, denn er sah weder mehr eine von den fünf Personen, die ich Euch genannt habe, noch hörte er etwas von ihnen.«

»Je nun, wie Dantes einmal verhaftet war, beeilte sich Herr Morrel, Erkundigungen einzuziehen. Diese lauteten wohl sehr traurig, der Greis kehrte allein nach Hause zurück, legte weinend sein Hochzeitsgewand zusammen, verbrachte den ganzen Tag, indem er im Zimmer auf und ab schritt, und legte sich des Abends nicht zu Bett, denn ich wohnte unter ihm und hörte ihn die ganze Nacht auf und nieder gehen. Auf Ehre, ich selber schlief auch nicht; dieses armen Vaters Schmerz tat mir sehr weh, und jeder seiner Tritte zermalmte mir das Herz, als hätte er wirklich seinen Fuß auf meine Brust gesetzt. Am andern Morgen kam Mercedes nach Marseille, um die Verwendung des Herrn von Villefort zu erflehen; sie erreichte nichts; aber zu gleicher Zeit ging sie, dem Greise einen Besuch zu machen; als sie ihn so düster und niedergeschlagen sah und bemerkte, daß er die ganze Nacht, ohne sich ins Bett zu legen, zugebracht und seit dem Vorabend nichts gegessen hatte, wollte sie ihn mit sich fortführen, um ihn zu hegen und zu pflegen, aber der Greis wollte sich nicht hierzu herbeilassen. ›Nein,‹ sprach er, ›ich will das Haus nicht verlassen, denn mich liebt mein armes Kind vor allen am meisten, und wenn er frei wird, so bin ich es, zu dem er zuerst kommen wird. Was würde er sagen, wenn ich nicht hier wäre, seiner harrend?‹ Alles dies hörte ich von meinem Zimmer aus, denn ich hätte gern gewollt, Mercedes möchte den Greis bewegen, mit ihr zu gehen. Dieser Tag und Nacht über meinem Haupte knarrende Tritt ließ mir keinen Augenblick Ruhe.«

»Gingt Ihr denn nicht selbst zum Alten hinauf, um ihn zu trösten?«

»Ach, gnädiger Herr!« antwortete Caderousse, »trösten kann man nur jene, die getröstet sein wollen, und er wollte es nicht sein. Übrigens, ich weiß nicht warum, aber mir kam es vor, als wäre ihm mein Anblick zuwider. Nachts einmal konnte ich indessen, als ich ihn weinen hörte, nicht umhin und ging hinauf; aber als ich an die Tür kam, schluchzte er nicht mehr, er betete. Ich kann es Ihnen nicht wiederholen, gnädiger Herr, was er für beredte Worte und flehende Bitten hatte, es war mehr als Frömmigkeit, es war mehr als Schmerz; auch dachte ich mir, ich, der ich kein Scheinheiliger bin und Frömmelei eben nicht liebe, ich dachte mir damals: Wahrhaftig ein Glück, daß ich allein bin und mir der gute Gott keine Kinder geschenkt hat; denn wäre ich Vater und litt ich einen dem des armen Greises ähnlichen Schmerz, ich ging geradeswegs und stürzte mich ins Meer, um nicht so lange leiden zu müssen, denn ich fände in meinem Kopf und Herzen nicht alles das, was er dem Herrgott sagte.«

»Armer Vater!« flüsterte der Priester.

»Von Tag zu Tag lebte er verlassener und einsamer. Oft kamen Herr Morrel und Mercedes auf Besuch zu ihm, aber seine Tür war versperrt, und er antwortete nicht, obgleich ich ganz gewiß wußte, daß er zu Hause war; einmal empfing er gegen seine Gewohnheit Mercedes, und als das arme Kind, selber in Verzweiflung, ihn aufzurichten suchte, sprach er zu ihr: ›Tochter, glaube mir, er ist tot, und anstatt daß wir ihn erwarten, erwartet er uns... Ich bin wohl glücklich, daß ich der Ältere bin und ihn folglich zuerst sehen werde...‹ Sehen Sie, man mag gut sein, wie man will, man hört bald auf, Leute zu besuchen, die uns traurig machen; am Ende blieb der alte Dantes immer allein. Seitdem sah ich nur mehr unbekannte Leute von Zeit zu Zeit zu ihm kommen, die mit irgendeinem schlecht versteckten Päckchen fortgingen; nun weiß ich es, was diese Päckchen enthielten: nach und nach verkaufte er, was er besaß, um davon zu leben. Endlich war der gute Alte mit seinen Lappen fertig... er war drei Zinse schuldig, man drohte, ihn aus dem Hause zu jagen, er bat noch um acht Tage, man gestand sie ihm zu, ich weiß diese Einzelheiten, weil der Hausherr, als er von ihm wegging, zu mir kam. Während der ersten drei Tage hörte ich ihn wie gewöhnlich auf und ab schreiten, am vierten Tage hörte ich aber nichts mehr. Ich schlich mich hinauf, die Tür war verschlossen, aber durch das Schlüsselloch sah ich ihn so bleich und entstellt, daß ich ihn für sehr krank hielt und Herrn Morrel davon benachrichtigen ließ und zu Mercedes lief. Beide beeilten sich, zu kommen, Herr Morrel brachte einen Arzt mit. Der Arzt erklärte die Krankheit für ein Magenfieber und verordnete Diät, ich stand dabei, Herr, und werde das Lächeln des Greises bei dieser Verordnung nie vergessen. Von dieser Zeit an ließ er seine Tür offen, er hatte ja eine Entschuldigung, nichts zu essen, der Arzt verordnete ihm Diät.«

Der Abbé stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Nicht wahr, gnädiger Herr, diese Geschichte geht Ihnen zu Herzen?« sprach Caderousse.

»Ja.« antwortete der Abbé, »so ist's.«

»Mercedes kam zurück; sie fand ihn so verändert, daß sie ihn wie zum ersten Male zu sich bringen lassen wollte. Dieser Meinung war auch Herr Morrel, der die Übersiedlung mit Gewalt bewerkstelligen wollte, aber der Greis schrie auf eine Art, daß sie Furcht bekamen. Mercedes blieb an seinem Lager, Herr Morrel entfernte sich, der Katalanerin winkend, er habe auf dem Kamine eine Börse gelassen; aber die Vorschrift des Arztes vorschützend, wollte der Greis nichts zu sich nehmen. Nach neun Tagen endlich, nach neun Tagen der Verzweiflung und des Hungers, gab der Greis, denen, die ihn unglücklich gemacht hatten, fluchend, seinen Geist auf und sprach zu Mercedes die Worte: ›Wenn Sie meinen Edmond sehen, sagen Sie ihm, daß ich sterbe, indem ich ihn segne.‹ «

Der Abbé stand auf, und die eine Hand knirschend an die beklemmte Kehle pressend, ging er zweimal im Zimmer auf und nieder.

»Und Ihr glaubt, daß sein Tod ...?«

»Hunger war... gnädiger Herr, Hunger,« sprach Caderousse, »dafür stehe ich, so wahr, als wir hier zwei Christen sind.«

Der Abbé ergriff mit krampfhaft bewegter Hand das mit Wasser gefüllte Glas, leerte es mit einem Zuge und setzte sich mit geröteten Blicken und bleichen Wangen nieder. »Gesteht, daß das ein großes Unglück ist«, sprach er mit rauher Stimme.

»Um so größer, gnädiger Herr, da Gott nichts dafür kann und die Menschen alles.«

»Gehen wir also auf diese Menschen über,« sprach der Abbé, »aber bedenkt wohl,« fuhr er in beinahe drohendem Tone fort, »Ihr habt Euch verbindlich gemacht, mir alles zu erzählen; laßt hören: welche Menschen sind es, die den Sohn vor Verzweiflung, den Vater vor Hunger sterben ließen?«

»Zwei Männer, gnädiger Herr, die mit Dantes eiferten, der eine aus Liebe, der andere aus Ehrgeiz, Fernando und Danglars.«

»Und was waren die Folgen dieser Eifersucht?«

»Sie klagten Edmond als bonapartistischen Agenten an.«

»Welcher von beiden aber klagte ihn an, welcher von ihnen war der wirklich Schuldige?«

»Beide, gnädiger Herr, der eine schrieb den Brief, der andere gab ihn auf die Post.«

»Und wo ward dieser Brief geschrieben?«

»In der ›Reserve‹ selbst, am Vorabend der Vermählung.«

»So war's wahrhaftig, wahrhaftig so war es«, flüsterte der Abbé. »O Faria; Faria; wie kanntest du die Menschen und die Dinge!«

»Sie meinen, gnädiger Herr?« fragte Caderousse.

»Nichts,« versetzte der Priester, »weiter.«

»Danglars schrieb die Anklage mit der linken Hand, damit man seine Schrift nicht erkennen konnte, und Fernando gab sie ab.«

»Aber Ihr waret ja dabei!« rief der Abbé plötzlich.

»Ich,« sprach Caderousse erstaunt, »wer hat Ihnen gesagt, daß ich dabei war?«

Der Abbé sah, daß er sich zu weit eingelassen habe, und sprach:

»Niemand, aber um von diesen Einzelheiten so wohl unterrichtet zu sein, mußtet Ihr Zeuge davon gewesen sein.«

»Ja, fürwahr, ich war dabei«, sprach Caderousse mit erstickter Stimme.

»Und habt Ihr Euch einer solchen Niederträchtigkeit nicht widersetzt?« sprach der Abbé. »Dann seid Ihr ein Mitschuldiger.«

»Herr,« sprach Caderousse, »sie gaben mir beide so viel zu trinken, daß ich darüber beinahe den Kopf verlor, alles, was ich sah, war wie von einer Nebelwolke verschleiert; ich brachte alles vor, was ein Mensch in einem solchen Zustande vorbringen kann, aber sie antworteten beide, es sei nur ein Spaß, den sie sich vorgenommen, und würde keine Folgen haben.«

»Am andern Tage saht Ihr aber wohl, daß er eine Folge hatte; dennoch sagtet Ihr nichts. Ihr waret dabei, als er verhaftet wurde?«

»Ja, Herr, ich war dabei und wollte reden, wollte alles sagen, aber Danglars hielt mich zurück und sprach zu mir: ›Und wenn er zufälligerweise schuldig ist, wenn er wirklich in Elba gelandet ist, wenn er wirklich mit einem Briefe an das bonapartistische Komitee in Paris beauftragt ist, wenn man diesen Brief bei ihm findet, so wird man jene, die ihn verteidigen, für seine Mitschuldigen halten.‹ Ich fürchte mich vor der Politik, wie sie damals gehandhabt wurde. Ich gestehe es, ich schwieg, es war eine Feigheit, ich gebe es zu, aber es war kein Verbrechen.«

»Ich verstehe, Ihr ließet bloß geschehen, nichts weiter.«

»Ja, gnädiger Herr,« antwortete Caderousse, »und das plagt mich Tag und Nacht; ich schwöre Ihnen, oft flehe ich um Verzeihung zu Gott, um so mehr, da diese Handlung, die einzige, die ich im Laufe meines ganzen Lebens mir vorzuwerfen habe, zweifelsohne die Ursache meines Unglücks ist -- ich büße dafür, daß ich einen Augenblick selbstsüchtig war; auch sage ich immer zur Carconte, wenn sie sich beklagt: ›Schweig', Weib, Gott will es nicht anders.‹«

Und Caderousse ließ mit allen Anzeichen wahrhafter Reue sein Haupt sinken.

»Gut,« sprach der Abbé, »Ihr habt frei gesprochen; sich selbst so der Schuld zeihen, heißt Verzeihung verdienen.«

»Unglücklicherweise ist Edmond gestorben, und er hat mir nicht verziehen«, sprach Caderousse.

»Er wußte es nicht«, sprach der Abbé.

»Aber jetzt weiß er es vielleicht«, versetzte Caderousse. »Man sagt, die Toten wissen alles.«

Es trat ein augenblickliches Schweigen ein; der Abbé war aufgestanden und ging sinnend im Zimmer umher, kam auf seinen Platz zurück und setzte sich nieder.

»Ihr habt mir schon zwei- bis dreimal einen gewissen Herrn Morrel genannt,« sprach er, »wer war dieser Mann?«

»Er war Kaufherr des ›Pharaon‹, Patron des Dantes.«

»Und welche Rolle spielte dieser Mann im Verlaufe dieser traurigen Sache?«

»Die Rolle eines ehrenhaften, wackern und liebevollen Mannes, Herr! Zwanzigmal bat er für Edmond; als der Kaiser zurückkehrte, schrieb er, drohte er dermaßen, daß er bei der zweiten Restauration heftig als Bonapartist verfolgt wurde; wie gesagt, zehnmal kam er zu Dantes' Vater, und wie ich es Ihnen wieder gesagt habe, ließ er am letzten oder vorletzten Tage vor seinem Tode auf dem Kamin eine Börse zurück, mit der man die Schulden des guten Alten bezahlte und sein Begräbnis bestritt, so daß der arme Greis wenigstens sterben konnte, wie er gelebt, ohne daß jemand zu Schaden kam. Ich habe noch diese Börse, eine große, rot genetzte Börse.«

»Und lebt dieser Morrel noch?« fragte der Abbé.

»Ja«, sprach Caderousse.

»Wenn dem so ist,« versetzte der Abbé, »so muß er ein gottgesegneter Mann sein, reich, glücklich?«

Caderousse lächelte bitter.

»Ja, glücklich wie ich«, sprach er.

»Wie? Herr Morrel wäre unglücklich?« rief der Abbé.

»Dem Elende nahe, Herr, und was noch mehr ist, der Schande.«

»Wie das?«

»Ja,« versetzte Caderousse. »es ist dem so. Nach fünfundzwanzig Jahren der Mühe, nachdem Herr Morrel den ehrenhaftesten Platz im Handel von Marseille eingenommen, ist er nun völlig zugrunde gerichtet. In zwei Jahren hat er fünf Schiffe verloren, drei Bankrotte erlebt und jetzt keine Hoffnung mehr, als denselben ›Pharaon‹, den der arme Dantes kommandierte, und der mit Cochenille und Indigo befrachtet aus Indien zurückkommen soll; wenn's diesem Schiffe so geht wie den andern, so ist er verloren.«

»Und hat der Unglückliche Weib und Kinder?« sprach der Abbé.

»Ja, er hat eine Frau, die sich bei alledem wie eine Heilige benimmt; er hat eine Tochter, die einen Mann heiraten soll, der sie liebt, den aber seine Familie ein zugrunde gerichtetes Mädchen nicht heiraten lassen will; endlich hat er einen Sohn, Leutnant in der Armee; aber Sie begreifen wohl, das alles verdoppelt den Schmerz des armen, lieben Mannes, anstatt ihn zu lindern. Wäre er allein, er jagte sich eine Kugel durch den Kopf, und alles wäre aus.«

»Gräßlich!« flüsterte der Priester.

»So belohnt Gott die Tugend, Herr!« sprach Caderousse.

»Sehen Sie, ich, der nie eine böse Handlung verübte, das ungerechnet, was ich Ihnen erzählt, bin elend; ich werde, wenn ich mein armes Weib am Fieber, wider das ich nichts tun kann, habe sterben sehen, selbst vor Hunger sterben, wie Dantes' Vater starb, während Fernando und Danglars sich im Golde wälzen.«

»Und wie das?«

»Weil ihnen alles gelang, während ehrlichen Leuten alles mißlingt.«

»Was ist aus dem Hauptverräter, Danglars, geworden?«

»Den schlimmsten Halunken geht's immer am besten, Herr. Er verließ Marseille auf die Empfehlung des Herrn Morrel, der von seinem Verbrechen nichts wußte, und trat bei einem spanischen Bankier als Rechnungskommis in Dienst; zur Zeit des Krieges in Spanien übernahm er einen Teil der Lieferungen für die französische Armee und machte sein Glück. Dann legte er dieses Geld auf Leibrenten an und vervierfachte sein Kapital, und selber Witwer der Tochter seines Bankiers, heiratete er wieder eine Witwe, die Frau von Nargonne, Tochter des Herrn von Servieuz, Kammerherrn des jetzigen Königs, der in höchster Gunst steht; er machte sich zum Millionär, man machte ihn zum Baron, so daß er jetzt Baron Danglars ist, daß er in der Rue Montblanc ein Hotel, zehn Pferde in seinen Ställen, sechs Lakaien in seinem Vorzimmer und ich weiß nicht wieviel Millionen in seinem Kasten hat.«

»Ach!« rief der Abbé mit seltsamer Betonung. »Und Fernando?«

»Dem geht's noch besser als Danglars.«

»Erzählt Ihr mir da ein Märchen?«

»Freilich sieht's so aus, doch hören Sie. Einige Tage vor Dantes' Rückkehr war Fernando der Konskription verfallen. Die Bourbonen ließen ihn ruhig bei seinen Katalanern; Napoleon aber kehrte zurück, außerordentliche Aushebungen fanden statt, und Fernando mußte fort. Er wurde in die aktiven Truppen eingereiht, kam mit seinem Regiment an die Grenze und wohnte der Schlacht bei Ligny bei. In der Nacht, die auf die Schlacht folgte, stand er als Schildwache vor der Tür eines Generals, der geheime Beziehungen zu dem Feinde hatte. In derselben Nacht sollte der General zu den Engländern stoßen; er tat Fernando den Vorschlag, ihn zu begleiten, dieser nahm es an, verließ seinen Posten und folgte dem General. Was Fernando, wenn Napoleon auf dem Thron geblieben wäre, vor ein Kriegsgericht gestellt hätte, war in den Augen der Bourbonen ein Verdienst; er kehrte als Unterleutnant nach Frankreich zurück, und da ihn die Protektion des Generals, der in hohen Gunsten steht, nicht verließ, so ward er im Jahre 1823 zur Zeit des spanischen Krieges Kapitän, gerade als Danglars seine ersten Spekulationen machte; Fernando war Spanier, er wurde nach Madrid gesandt, um die Gesinnung seiner Landsleute auszukundschaften. Er fand Danglars, kam mit ihm überein, versprach seinem General Hilfe unter den Royalisten der Hauptstadt und der Provinzen, erhielt Zusagen, ging seinerseits Verbindungen ein, führte sein Regiment auf ihm allein bekannten Wegen in von Royalisten bewachten Schluchten und leistete endlich während dieses kurzen Feldzuges solche Dienste, daß er zum Obersten ernannt wurde und das Offizierkreuz der Ehrenlegion mit dem Barontitel erhielt.«

»O Schicksal! Schicksal!« flüsterte der Abbé.

»Ja, aber hören Sie nur, das ist noch nicht alles. Der spanische Krieg war zu Ende; Fernandos Laufbahn sah sich durch den langen Frieden, der in Europa zu herrschen begann, gehemmt; Griechenland allein war gegen die Türkei aufgestanden und begann soeben seinen Freiheitskampf. Fernando erhielt die Erlaubnis, in griechische Dienste zu treten, indem er nichtsdestoweniger auf den Kontrollisten der Armee stehenblieb. Kurze Zeit darauf hörte man, daß der Baron Morcerf, diesen Namen trug er, mit dem Range eines Instruktionsgenerals in die Dienste Ali Paschas getreten sei. Ali Pascha starb, wie Sie wissen; bevor er aber starb, belohnte er Fernandos Dienste, indem er ihm eine bedeutende Summe hinterließ, mit der Fernando nach Frankreich zurückkehrte, wo er in seinem Range als Generalleutnant bestätigt wurde.«

»Also, daß er heutzutage...« fragte der Abbé.

»Daß er heutzutage«, fuhr Caderousse fort, »Graf, Deputierter ist und ein herrliches Hotel in der Rue de Helder Nummer 27 bewohnt.«

Der Abbé tat den Mund auf und verharrte einige Zeit lang wie ein Mensch, der zaudert; aber sich überwindend, fragte er: »Und Mercedes? Man hat mir versichert, sie sei verschwunden?«

»Verschwunden wie die Sonne am Abend, um am andern Morgen um so heller aufzugehen«, sprach Caderousse. »Mercedes ist eine der größten Damen von Paris. Anfangs hat sie namenlos gelitten. Da traf sie in ihrer Verzweiflung ein neuer Schmerz, es war Fernandos Abreise, dessen Verbrechen ihr unbekannt und dem sie wie einem Bruder zugetan war. Fernando war fort, Mercedes blieb allein. Drei Monate verrannen in Tränen für sie; keine Kunde von Edmond, keine Kunde von Fernando, nichts vor den Augen als den Greis, der in Verzweiflung schmachtend dahinstarb. Eines Abends, nachdem sie sich tagüber müde geweint, tat sich die Tür auf, und der Unterleutnant Fernando erschien. Mercedes ergriff freudestrahlend seine Hände. Er nahm diese Freude für Liebe. Als er das erstemal ging, sprach er ihr nicht von Liebe. Jetzt dünkte es ihn an der Zeit. Mercedes bat ihn um sechs Monate Frist, und nach Ablauf der Zeit fand ihre Trauung in der Accoulerkirche statt.«

»Es war dieselbe Kirche, in der sie mit Edmond getraut werden sollte; nur den Bräutigam hatte man gewechselt«, sagte der Abbé voll Bitterkeit.

»Mercedes heiratete also, doch ihr Herz blieb leer. Fernando war glücklich in ihrem Besitz, doch ruhelos. Stets befürchtete er Dantes' Rückkehr. Um Mercedes allen Erinnerungen zu entreißen, zog er fort von hier.«

»Habt Ihr Mercedes wiedergesehen?« fragte der Priester.

»Ja. Zur Zeit des spanischen Krieges in Perpignan, wo sie Fernando zurückgelassen; sie widmete sich damals ganz der Erziehung ihres einzigen Sohnes.«

»Sie -- die Fischerstochter ...?«

»Oh, sie war ein kluges Mädel und hat nie aufgehört, ihr Wissen zu vermehren. Dennoch weiß ich, daß sie nicht glücklich ist.«

Der Abbé seufzte schwer.

»Und Herr von Villefort?« fragte er dann.

»Von dem weiß ich nur, daß er bald nach Edmonds Verhaftung geheiratet hat und fortgezogen ist. Sicher geht's ihm gut, wie den andern Schurken. Nur auf mir ruht Gottes Zorn.«

»Ihr irrt. Gottes Mühlen mahlen langsam. Seht hier den Diamant! Er gehört Euch.«

Caderousse fuhr zurück: »Herr -- treibt nicht Spott mit mir armen Mann.«

»Das liegt mir fern,« sagte der Abbé ernst, »wenn mir auch graut vor den Menschen, die einander soviel Böses tun. Nehmt den Stein als letzten Gruß des armen Dantes; Ihr meintet es wohl am wenigsten böse mit ihm. Doch eine kleine Gegenleistung erbitte ich dafür: gebt mir die alte rotseidene Börse des Herrn Morrel.«

Caderousse ging, beinahe verstört vor Überraschung, Freude, Schamgefühl, um das Gewünschte zu holen. Als er wiederkam, saß der Abbé schon zu Pferde und ritt eiligst davon, um den überschwenglichen Herzensergüssen und Danksagungen des Gastwirtes zu entgehen.

Kaum war der Abbé fort, als das Weib hinter der Tür hervorstürzte und nach dem Diamanten griff. »Fünfzigtausend Franken ... das ist Geld, das ist Geld! Aber noch kein Vermögen.«

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo