Vierzehn Tage hindurch war in Paris von nichts die Rede als von diesem Einbruch beim Grafen. Die Polizei wurde aufgefordert,

Vierzehn Tage hindurch war in Paris von nichts die Rede als von diesem Einbruch beim Grafen. Die Polizei wurde aufgefordert, dem Mörder auf allen Wegen nachzuspüren. Der Graf versicherte jedem, dieser Vorfall habe sich ereignet, während er in Auteuil weilte; folglich wisse er davon nur so viel, als ihm der Abbé Busoni berichtet habe, der an diesem Abend zufällig in seinem Hause war.

So vergingen Wochen, ohne daß irgendeine Aufklärung in dieser Sache erfolgte, und das Pariser Publikum wandte sich anderen Interessen zu. Da war die bevorstehende Vermählung des Grafen Cavalcanti mit Fräulein Danglars, die viel besprochen wurde. Der liebe Schwiegervater sei ganz vernarrt in den schönen Andrea, hieß es.


Dann aber kam wieder etwas anderes, das die Gemüter der sensationslüsternen Pariser erregte.

Eines Tages brachte das Morgenblatt eine Notiz folgenden Inhalts:

»Man meldet uns aus Janina: Eine bisher unbekannte Tatsache ist zu unserer Kenntnis gelangt. Die Burgen von Janina, von denen aus die Stadt verteidigt wurde, hat ein französischer Offizier, namens Fernand Mondego, auf den der Wesir Ali-Tebelen volles Vertrauen setzte, an die Türken verraten. Dieser Fernand Mondego nennt sich jetzt Graf von Morcerf und ist Mitglied der Pairskammer.«

Ein Sturm der Entrüstung brach los. Herr von Morcerf aber, außer sich über derart gehässige Verleumdungen, verlangte, daß eine Extrasitzung anberaumt werde, um ihm zu ermöglichen, sich durch klare Beweisführung von jeder Verdächtigung zu befreien.

Die Pairs waren damit einverstanden, und der Tag rückte heran.

Der Graf begann seine Verteidigungsrede, und alles lauschte ihm gespannt und teilnahmsvoll. Er zog Papiere hervor, die den Beweis lieferten, daß ihn der Wesir von Janina mit seinem ganzen Zutrauen beehrt hatte, denn er beauftragte ihn mit einer Unterhandlung beim Kaiser. Er zeigte auch den Ring, mit dem Ali seine Briefschaften zu siegeln pflegte und der ihm bei seiner Rückkehr zu jeder Stunde Zutritt bei dem Wesir verschaffte. Leider scheiterten die Unterhandlungen, und als er zurückkehrte, um seinen Wohltäter zu schirmen, war er dem Tode verfallen. Aber sterbend noch habe ihm Ali Pascha -- so groß sei sein Vertrauen gewesen -- seine Lieblingsgattin und die Tochter anvertraut.

In diesem Augenblick wurde dem Präsidenten ein Schreiben überreicht. Er las und stutzte; dann wandte er sich Morcerf zu:

»Sie sagten eben, Graf, daß Ihnen der Wesir von Janina seine Frau und Tochter anvertraut habe?«

»Ja, mein Herr!« entgegnete Morcerf.

»Wohlan,« sagte der Präsident, »Ali-Tebelens Tochter steht draußen und bittet, selber ihre Aussagen machen zu dürfen.«

Eine Aufregung sondergleichen bemächtigte sich der Versammlung. Der Präsident rief: »Führen Sie die Dame herein!«

Aller Blicke wandten sich der Tür zu. Eine tief verschleierte, schwarz gekleidete Frau trat in den Saal, von einem Diener gefolgt. Der Präsident ersuchte sie, den Schleier zu lüften, und man sah ein junges, wunderschönes Weib -- Haydee, die Griechin des Grafen von Monte Christo.

Das Staunen nahm kein Ende. Graf Morcerf aber war, wie vom Schlage gerührt, halb ohnmächtig in seinen Sessel gesunken.

»Meine Gnädigste,« sagte der Präsident, »Sie sind gewillt, uns Auskunft über die damaligen Vorgänge in Janina zu geben? Können Sie das?«

»Wohl vermag ich es«, sprach Haydee bescheiden, mit traurig klingender Stimme. »Zwar war ich damals erst vier Jahre alt; doch die Furchtbarkeit jenes Ereignisses hat jede Einzelheit mit Blut in mein Gedächtnis geschrieben.«

»Madame,« sagte der Präsident, sich tief verneigend, »wir zweifeln nicht daran, Ali Tebelens erhabene Tochter vor uns zu sehen, doch vermögen Sie es zu beweisen?«

Da zog Haydee mit einer vornehm stolzen Bewegung eine Rolle hervor, die sie dem Präsidenten reichte, »hier meine Geburtsurkunde, von meinem Vater aufgesetzt und unterzeichnet von seinen höchsten Offizieren. Dann mein Taufschein -- ich bin Christin, denn ich wurde im Glauben meiner Mutter erzogen --, und schließlich hier ein Dokument, das wohl von besonderer Bedeutung ist.«

Bleich vor höchster Erregung rollte sie ein Schriftstück auseinander, das ein herbeigerufener Dolmetsch zu übersetzen begann:

»Ich, El-Kobbir, Händler von Sklavinnen und Versorger des Harems Seiner Hoheit, erkläre hiermit, daß ich zur Übergabe an den erhabenen Kaiser von dem fränkischen Grafen von Monte Christo einen Smaragd im Werte von zweitausend Beuteln als Kaufpreis für eine christliche Sklavin, namens Haydee, anerkannte Tochter des verstorbenen Ali Tebelen, Pascha von Janina, erhalten habe; diese ist vor sieben Jahren mit ihrer bei der Ankunft in Konstantinopel verstorbenen Mutter durch einen fränkischen Obersten im Dienste des Wesirs Ali Tebelen, namens Fernand Mondego, an mich verkauft worden.

Der besorgte Verkauf geschah für Rechnung Seiner Hoheit und in dessen Auftrag gegen die Summe von eintausend Beuteln.

Geschehen in Konstantinopel mit der Autorisation Seiner Hoheit im Jahre der Hegyra 1247.

Unterfertigt: El-Kobbir.

Um gegenwärtiger Urkunde Glaubhaftigkeit zu verleihen, versieht es der Verkäufer mit dem kaiserlichen Insiegel.«

Nach diesem Vorlesen trat ein schauerliches Stillschweigen ein; der Graf saß regungslos mit starrem Blick, und dieser Blick, der sich auf Haydee heftete, war wie in Flamme und Blut getaucht.

»Madame,« sprach der Präsident, »könnte man den Grafen von Monte Christo nicht auch in dieser Sache befragen?«

»Der Graf von Monte Christo, mein zweiter Vater, befindet sich seit drei Tagen in der Normandie.«

»Wer aber riet Ihnen zu diesem Schritte?«

»Wer, mein Herr? Nun -- die Verehrung für den geliebten Vater, der Wunsch, den an ihm begangenen Verrat zu rächen! Wenn mein Leben auch still und zurückgezogen verläuft, so sorgt mein edler Beschützer doch dafür, daß ich von allem, was vorgeht, unterrichtet bin. So las ich von dieser Sache in den Blättern und eilte her.«

»Und Sie erkennen in diesem Manne hier den Offizier Fernand Mondego?«

»Ob ich ihn erkenne!« rief Haydee. »Oh, meine Mutter! Du hast zu mir gesagt: ›Sieh dir diesen Menschen genau an: er hat dich zur Sklavin gemacht, er hat den Kopf deines Vaters auf einer Lanze herumgetragen, er hat uns verkauft und ausgeliefert! Betrachte seine rechte Hand, sie hat eine Narbe; wenn du auch sein Antlitz vergäßest, so müßtest du ihn doch wiedererkennen an dieser Hand, in die der Händler El-Kobbir ein Goldstück nach dem andern fallen ließ‹ O Mörder! Mörder!«

Wie Keulenschläge fielen diese Worte auf Morcerfs Haupt, und bei den letzten suchte er rasch die Hand zu verstecken, die durch eine Verwundung verstümmelt war.

»Graf Morcerf, was haben Sie auf all diese Anklagen zu erwidern?« fragte der Präsident.

Morcerf rang nach Atem, dann sagte er dumpf: »Nichts!« Plötzlich sprang er auf, griff an den Kragen seines Rockes, als müsse er ersticken, und rannte wie ein Wahnsinniger aus dem Saal.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo