Morrel begnügte sich nicht mit den Nachrichten, die ihm Valentine gab; er ging zum Notar, und dieser bekräftigte es ihm,

Morrel begnügte sich nicht mit den Nachrichten, die ihm Valentine gab; er ging zum Notar, und dieser bekräftigte es ihm, daß die Unterfertigung des Vertrages auf neun Uhr festgesetzt sei.

Hierauf ging er zu Monte Christo, und da brachte er noch mehr in Erfahrung. Franz hatte dem Grafen Nachricht von dieser Feierlichkeit gegeben, Frau von Villefort ihn schriftlich um Entschuldigung gebeten, daß sie ihn deshalb nicht einlade, weil durch den Tod des Herrn von Saint-Méran und durch den Zustand, in dem seine Witwe sich befinde, eine Feier nicht möglich sei.


Tags zuvor war Franz der Frau von Saint-Méran vorgestellt worden, die zu diesem Zweck das Bett verlassen hatte, dann aber schnell wieder zur Ruhe ging.

Wie es sich leicht denken läßt, befand sich Morrel in einer solchen Aufregung, daß es einem so durchdringenden Scharfblick, wie dem des Grafen, nicht entgehen konnte. Monte Christo war liebevoller gegen ihn als jemals, so liebevoll, daß Maximilian zwei- oder dreimal auf dem Punkte stand, ihm alles zu entdecken. Er gedachte aber des förmlichen Versprechens, das er Valentine gegeben, und so blieb das Geheimnis im Grunde seiner Seele verschlossen. Alles war zur Flucht vorbereitet; zwei Leitern waren im Gehege verborgen, ein leichter Wagen, den Maximilian selbst führte, stand zur Verfügung.

Von Zeit zu Zeit fühlte sich Morrel von Schauern durchrüttelt; er gedachte des Augenblicks, wo er Valentine beim Herabsteigen von der Mauer beschützen, wo er die Geliebte zitternd und hingegeben in seinen Armen fühlen würde, der er bisher nur die Hand gedrückt und die Fingerspitzen geküßt hatte.

Als aber der Nachmittag kam und die Stunde immer näher heranrückte, fühlte Morrel das Bedürfnis, allein zu sein; sein Blut wallte; einfache Fragen, ja, schon die Stimme eines Freundes hätte ihn gereizt; er schloß sich ein und versuchte zu lesen; jedoch sein Blick glitt über die Seiten hin, ohne etwas zu verstehen, und kehrte immer wieder zurück zu den zu erwartenden Ereignissen. Endlich kam die Stunde heran.

Noch niemals ließ ein Verliebter die Uhren im friedlichen Gange gehen; Morrel stellte die seinigen dergestalt, daß sie um sechs Uhr schon halb neun zeigten. Nun sagte er sich, daß es Zeit wäre, fortzugehen, denn um neun Uhr wäre die Stunde, wo der Vertrag unterzeichnet werden sollte; aber wahrscheinlich würde Valentine auf diese nutzlose Unterfertigung nicht warten. Somit war Morrel seiner Pendeluhr nach um halb neun Uhr in der Rue Meslan aufgebrochen und kam nach dem Gehege, als es zu Saint- Philippe-du-Roule acht Uhr schlug.

Das Pferd und den Wagen stellte Morrel hinter die Trümmer eines alten Mauerwerkes, wo er sich sonst selbst zu verbergen pflegte.

Der Tag neigte sich mehr und mehr, und das Blätterwerk des Gartens hüllte sich in dichte, schwarze Finsternis. Nun trat Morrel aus seinem Versteck hervor und blickte klopfenden Herzens durch die Öffnung im Gitter; doch war noch niemand hier.

Es schlug halb neun Uhr.

Es verging wieder eine halbe Stunde mit Warten. Morrel streifte hin und her, dann hielt er in immer kürzeren Zwischenräumen sein Auge an die Bretter. Der Garten verfinsterte sich immer mehr, doch in der Dunkelheit suchte er vergeblich nach einem weißen Kleide und lauschte ganz umsonst auf ein Geräusch von Tritten.

Das Haus, das man durch das Blätterwerk erblickte, war düster und hatte ganz und gar nicht den Charakter eines Hauses, das sich für ein so wichtiges Ereignis öffnet, wie es die Vollziehung eines Ehegelöbnisses war.

Morrel befragte seine Taschenuhr; sie schlug drei Viertel auf zehn Uhr, doch fast in demselben Augenblick berichtigte der oft gehörte Klang der Turmuhr den Irrtum der Taschenuhr, indem sie halb zehn Uhr schlug.

Das Warten dauerte schon eine halbe Stunde länger, als Valentine es selbst anberaumt hatte; sie sagte: um neun Uhr, und lieber früher als später.

Das war für das Herz des jungen Mannes der schrecklichste Augenblick, da jede Sekunde wie ein bleierner Hammer auf ihn fiel.

Das mindeste Geflüster des Laubes, das leiseste Geräusch des Windes spannte sein Ohr und trieb ihm den Schweiß auf die Stirn; dann stellte er, am ganzen Leibe zitternd, die Leiter zurecht und setzte den Fuß auf die erste Sprosse, um keine Zeit zu verlieren.

Mitten in diesen Wechsel von Furcht und Hoffnung, unter furchtbaren Beklemmungen des Herzens verkündete die Kirchenuhr die zehnte Stunde.

»Ach,« murmelte Maximilian bekümmert, »unmöglich kann die Schließung eines Vertrages ohne einen unvorhergesehenen Zwischenfall so lange dauern; ich habe alle Möglichkeiten bedacht, die Zeit aller Formalitäten berechnet -- es ist etwas Besonderes vorgegangen.«

Bald schritt er in ungestümer Bewegung am Gitter auf und ab, bald drückte er seine brennende Stirn an die kalten Eisenstangen. Ist Valentine nach dem Vertrage ohnmächtig geworden? Oder hat man sie auf der Flucht ergriffen? Das waren die einzigen Vermutungen, bei denen der junge Mann stehenblieb, und beide waren verzweiflungsvoll.

Auch bei dem Gedanken hielt er noch an: Valentine sei auf der Flucht schwach geworden und mitten in der Allee in Ohnmacht gefallen.

»Oh, wenn das wäre,« rief er, von der Höhe der Leiter herabspringend, »so müßte ich sie verlieren, und das durch meine Schuld.«

Der Dämon, der ihm diesen Gedanken eingab, verließ ihn nicht mehr und flüsterte mit jener Beharrlichkeit in sein Ohr, aus der gewisse Zweifel kraft der Schlüsse schnell zu Überzeugungen werden. Seine Augen, die die wachsende Dunkelheit zu durchbohren suchten, glaubten in der düstern Allee einen liegenden Körper wahrzunehmen; Morrel ging so weit, daß er rief, und es dünkte ihn, als brächte ihm der Wind eine hauchleise Klage zurück.

Endlich schlug es halb elf Uhr, es war unmöglich, diese Bedrängnis länger auszuhalten. Alles war zu vermuten. In Maximilians Schläfen schlug es ungestüm. Er bestieg die Mauer und sprang auf der andern Seite hinab.

Er war nun bei Villefort. Er kam durch das Einsteigen dahin; wohl dachte er an die Folgen, die ein solcher Schritt haben könnte, doch vermochte er es nicht mehr über sich, umzukehren.

Er ging eine Strecke längs der Mauer fort, durchflog rasch die Allee und versteckte sich dann in einem Gebüsch. In einem Augenblick hatte er das Gebüsch durchstreift und gelangte dahin, wo man das Haus überschauen konnte.

Nun versicherte sich Morrel eines Umstandes, den er schon vermutet hatte, als sein Blick durch die Baumzweige glitt; er sah statt der Lichter, die bei einer so feierlichen Zeremonie an jedem Fenster schimmern sollten, nichts weiter als eine graue Masse, die überdies noch von einem großen Schattenvorhang verschleiert wurde, den eine ungeheure, über den Mond ausgespannte Wolke verbreitete.

Ein Licht schweifte von Zeit zu Zeit wie verloren umher und ging an den drei Fenstern des ersten Stockes vorüber. Diese drei Fenster gehörten zur Wohnung der Frau von Saint-Méran.

Ein anderes Licht blieb unbeweglich hinter den roten Vorhängen. Diese roten Vorhänge befanden sich im Schlafgemach der Frau von Villefort.

Morrel erriet das alles. Um Valentine zu jeder Stunde des Tages im Geiste zu begleiten, hatte er sich so oft den Plan dieses Hauses gemacht und es gekannt, ohne es je im Innern gesehen zu haben.

Der junge Mann erschrak jetzt noch mehr über diese Dunkelheit und Stille, als früher über das Ausbleiben Valentinens.

Niedergebeugt, wahnsinnig vor Schmerz und entschlossen, alles zu wagen, um Valentine wiederzusehen und sich des geahnten Unglückes zu versichern, wie es auch beschaffen sei, drang er bis zum Rande des Gebüsches vor und schickte sich an, so schnell als möglich den ganz offenen Raum zu durcheilen, als der noch ferne Schall einer Stimme, den der Wind herantrug, zu ihm drang.

Bei diesem Geräusch wich er einen Schritt zurück; er versteckte sich wieder in dem Laubwerk, aus dem er herausgetreten war, und verhielt sich in dieser Dunkelheit unbeweglich und stumm.

Sein Entschluß war gefaßt; wäre es Valentine allein, so würde er ihr im Vorübergehen einen Wink geben, käme sie in Begleitung, so würde er sie mindestens sehen und sich versichern, daß ihr kein Leid geschehen sei; wären es aber Fremde, so könnte er einige Worte von ihrer Unterredung erlauschen und sich dadurch das Geheimnis erklären, das ihm bis jetzt unbegreiflich war.

Der Mond trat aus der Wolke, die ihn barg, hervor, und Morrel sah Villefort mit einem Manne in schwarzer Kleidung von der Gartentreppe kommen. Sie nahmen ihren Weg nach dem Gebüsch und hatten kaum vier Schritte gemacht, als er an dem schwarzgekleideten Manne den Doktor d'Avrigny erkannte.

Als der junge Mann die beiden herankommen sah, trat er schleunigst zurück bis zu dem Stamme einer Sykomore, die mitten in einem Dickicht stand, hier mußte er anhalten.

Der Sand knarrte bald nicht mehr unter den Tritten der Männer.

»Ach, lieber Doktor,« sprach der königliche Prokurator, »der Himmel erklärt sich entschieden gegen unser Haus. Welch ein entsetzlicher Tod; welch ein Schicksalsschlag! Bemühen Sie sich nicht, mich zu trösten, ach, für ein solches Unglück gibt es keinen Trost. Die Wunde ist zu tief, zu schmerzlich; tot, tot ist sie!«

Kalter Schweiß bedeckte die Stirn des jungen Mannes, als er diese Worte hörte. Wer starb in diesem Hause, das Villefort selbst ein verfluchtes nannte?

»Mein lieber Herr von Villefort,« erwiderte der Arzt in einem Tone, der den Schrecken des jungen Mannes verdoppelte, »ich führte Sie nicht hierher, um Sie zu trösten -- im Gegenteil.«

»Was wollen Sie mir sagen?« fragte entsetzt der königliche Proturator.

»Ich will sagen, daß hinter diesem letzten Unglück, das Sie betroffen, vielleicht noch ein anderes, viel größeres steckt.«

»Oh, mein Gott,« stammelte Villefort, die Hände ringend, »was wollen Sie mir noch sagen?«

»Sind wir ganz allein, mein Freund?«

»Ja, ganz allein. Doch was bedeutet diese Vorsicht?«

»Sie bedeutet, daß ich Ihnen Entsetzliches anzuvertrauen habe«, sprach der Doktor. »Wir wollen uns setzen.«

Villefort setzte sich oder fiel vielmehr auf eine Bank. Der Doktor blieb vor ihm stehen, eine Hand auf seine Schulter legend.

Morrel hielt, vor Schreck erstarrt, mit der einen Hand seine Stirn, die andere preßte er auf sein Herz, aus Furcht, man könnte die Pulse desselben vernehmen.

»Tot, sie ist tot!« wiederholte er im Geiste mit der Stimme seines Herzens.

Er fühlte sich selbst dem Sterben nahe.

»Reden Sie, Doktor,« sagte Villefort, »ich höre. Sprechen Sie; ich bin auf alles gefaßt.«

»Frau von Saint-Méran war wohl schon sehr bejahrt, doch erfreute sie sich einer vortrefflichen Gesundheit.«

Morrel atmete nach langer Pause zum ersten Male wieder.

»Der Kummer hat sie getötet,« sagte Villefort; »ja, der Kummer, Doktor! Diese Gewohnheit des Zusammenlebens mit dem Marquis seit vierzig Jahren...«

»Das lag nicht am Kummer, mein lieber Villefort,« entgegnete der Doktor; »in seltenen Fällen kann der Kummer wohl töten, jedoch tötet er nicht an einem Tage, nicht in einer Stunde, nicht in zehn Minuten.«

Villefort antwortete nichts; er richtete nur den Kopf empor, den er bisher gesenkt hielt, und blickte den Doktor mit verstörten Augen an.

»Waren Sie während des Todeskampfes zugegen?« fragte Herr d'Avrigny.

»Allerdings,« antwortete der königliche Prokurator, »Sie sagten mir ja leise, ich solle nicht fortgehen.«

»Haben Sie die Symptome des Übels bemerkt, dem die Frau von Saint-Méran unterlag?«

»Ja, Frau von Saint-Méran hatte binnen weniger Minuten drei Anfälle aufeinander und jedesmal schneller und ungestümer. Als Sie ankamen, keuchte sie schon seit mehreren Minuten; hierauf hatte sie eine Krisis, die ich für einen Nervenanfall hielt; ich fing aber an, wirklich zu erschrecken, als ich sah, wie sie sich mit erstarrten Gliedern und starrem Halse im Bette erhob. Da las ich in ihrem Gesicht, daß die Sache viel bedenklicher sei, als ich wähnte. Als die Krisis vorüber war, suchte ich ihre Augen, begegnete ihnen aber nicht. Sie prüften den Puls, zählten die Schläge, und die zweite Krisis trat ein, ehe Sie noch zu mir zurückkamen. Diese zweite Krisis war viel schrecklicher als die erste; die Nervenzuckungen wiederholten sich, der Mund zog sich zusammen und wurde veilchenblau.«

»Bei der dritten Krisis atmete sie aus.«

»Ich erkannte bereits bei der ersten den Starrkrampf; Sie haben mich in dieser Meinung bekräftigt.«

»Ja, vor den anderen,« entgegnete der Doktor, »aber jetzt sind wir allein.«

»Was wollen Sie sagen? Ach, mein Gott!«

»Daß die Symptome des Starrkrampfes und der Vergiftung durch vegetabilische Materien ganz gleich sind.«

Herr von Villefort richtete sich auf, aber nach einem Augenblick der Unbeweglichkeit und des Schweigens fiel er wieder auf die Bank und stammelte:

»Oh, mein Gott, Doktor, bedenken Sie auch, was Sie mir da sagen?«

Morrel wußte nicht, ob er wache oder träume.

»Hören Sie,« sprach der Doktor, »ich kenne die Wichtigkeit meiner Behauptung und den Charakter des Mannes, gegen den ich sie mache.«

»Sprechen Sie zu dem Beamten oder zum Freunde?« fragte Villefort.

»Zu dem Freunde, in diesem Augenblick bloß zu dem Freunde; die Symptome des Starrkrampfes und der Vergiftung durch vegetabilische Substanzen sind so zusammentreffend, daß ich Anstand nähme, wenn ich unterschreiben müßte, was ich da spreche. Auch wiederhole ich Ihnen, daß ich mich nicht an den Beamten wende, sondern an den Freund. Nun, ich sage also dem Freunde: durch die Dauer der drei Viertelstunden studierte ich den Todeskampf, die Konvulsionen und das hinscheiden der Frau von Saint-Méran, und nach meiner Überzeugung starb sie nicht allein vergiftet, sondern ich könnte auch sagen, ja, ich weiß es, was für ein Gift sie getötet hat.«

»Doktor!«

»Sehen Sie, alles trifft zusammen: Schlafsucht, durch Nervenreize unterbrochen, Aufregung des Gehirns, Starrkrampf in den innersten Nervensträngen; Frau von Saint-Méran unterlag einer starken Dosis von Brucine oder Strychnin, die ihr zweifelsohne aus Zufall, vielleicht aus Versehen beigebracht wurde.«

Villefort ergriff die Hand des Doktors und sprach:

»Oh, es ist unmöglich, ich träume, mein Gott, ich träume; es ist entsetzlich, solche Dinge von einem Manne zu vernehmen, wie Sie sind! In des Himmels Namen bitte ich Sie, lieber Doktor, sagen Sie mir, daß Sie sich irren können.«

»Das kann ich allerdings, jedoch --«

»Jedoch?«

»Ich glaube es aber nicht.«

»Doktor, haben Sie Mitleid mit mir; seit einigen Tagen kommen so unerhörte Dinge über mich, daß ich glaube, verrückt werden zu müssen.«

»Hat noch irgend jemand Frau von Saint-Méran gesehen?«

»Niemand.«

»Ließ man bei einem Apotheker eine Arznei holen, die ich nicht angeordnet hatte?«

»Keine.«

»Hat Frau von Saint-Méran Feinde gehabt?«

»Mir sind keine bekannt.«

»Hatte jemand Interesse an ihrem Tode?«

»Aber nein, mein Gott, nein! Meine Tochter ist alleinige Erbin, Valentine allein ... Oh, wenn mir so ein Gedanke aufstiege, ich würde mich erdolchen, um mein Herz zu bestrafen, daß es einen Augenblick lang einen solchen Gedanken hegen konnte.«

»Oh, lieber Freund!« sagte Herr d'Avrigny, »Gott soll mich bewahren, daß ich jemanden beschuldige; ich spreche nur von einem Zufall, verstehen Sie, von einem Versehen. Aber Zufall oder Versehen, die Tatsache ist da, die ganz leise zu meinem Gewissen spricht und begehrt, daß mein Gewissen laut zu Ihnen spreche. Dem nachzuforschen, ist Ihre Pflicht!«

»Bei wem? Wie? Worüber?«

»Sehen Sie, konnte sich nicht der alte Diener Barrois geirrt und der Frau von Saint-Méran einen Trank gegeben haben, der für seinen Herrn bereitet war?«

»Für meinen Vater?«

»Ja.«

»Wie kann denn ein Trank, der für Herrn Noirtier bereitet ist, Frau von Saint-Méran vergiften?«

»Es gibt nichts Einfacheres. Sie wissen, daß die Gifte bei gewissen Krankheiten als Heilmittel dienen; die Lähmung ist eine von diesen Krankheiten. Nachdem ich schon alles versucht hatte, um Herrn Noirtier die Bewegung und Sprache wieder zu verschaffen, entschloß ich mich vor etwa drei Monaten, ein letztes Mittel in Anwendung zu bringen; seit drei Monden, sage ich, behandle ich ihn mit Brucine; so sind in dem letzten Trank, den ich verordnete, sechs Gramm enthalten; aber sechs Gramm, die auf die gelähmten Organe des Hern Noirtier nur wenig wirken, da er sich durch allmähliches Einnehmen daran gewöhnt hat, sechs Gramm sind hinreichend, jeden anderen zu töten.«

»Mein lieber Doktor, zwischen der Wohnung des Herrn Noirtier und jener der Frau von Saint-Mèran besteht keine Verbindung. Der alte Barrois aber kam nie zu meiner Schwiegermutter. Doktor, obwohl ich Sie als den geschicktesten und zumal gewissenhaftesten Mann von der Welt kenne, obwohl in jeder Hinsicht Ihr Wort für mich eine Leuchte ist, die mich leitet wie das Licht der Sonne, so muß ich Ihnen doch sagen, Doktor, daß es für mich trotz dieser Überzeugung doch ein Bedürfnis ist, mich auf diesen Satz zu stützen: 'Errare humanum est.' «

»Hören Sie, Villefort,« versetzte der Doktor, »kennen Sie einen meiner Kollegen, zu dem Sie so viel Vertrauen haben wie zu mir?«

»Warum das? Wo wollen Sie damit hinaus?«

»Rufen Sie ihn, ich werde ihm sagen, was ich gesehen und bemerkt, und wir nehmen eine Leichenuntersuchung vor.«

»Und werden Sie die Spuren des Giftes finden?«

»Nein, nicht des Giftes, das habe ich nicht gesagt, sondern wir werden die Überreizung des Nervensystems bestätigen und den augenfälligen Schlagfluß erkennen und Ihnen sagen, lieber Villefort: Geschah die Sache aus Fahrlässigkeit, so überwachen Sie Ihre Dienerschaft; geschah sie aus Haß, so überwachen Sie Ihre Feinde!«

»Oh, mein Gott, was für einen Vorschlag machen Sie mir, d'Avrigny?« antwortete Villefort niedergebeugt. »Von dem Moment an, da noch ein anderer außer Ihnen in das Geheimnis gezogen wird, ist eine Untersuchung vonnöten, und eine Untersuchung bei mir? Unmöglich! Dennoch,« fuhr der königliche Prokurator fort, indem er unruhvoll den Arzt anblickte, »dennoch, wenn Sie es wollen und durchaus fordern, so mag es geschehen. Ich muß dieser Sache vielleicht wirklich Folge geben, mein Charakter gebietet es mir. Aber, Doktor, Sie sehen mich tief gebeugt; nach soviel Leid soll über mein Haus nun auch noch ein Skandal kommen! Oh, meine Gattin und Tochter werden darüber sterben; und ich - ich, Doktor, ein Mann gelangt nicht bis dahin, wo ich stehe, ein Mann ist nicht fünfundzwanzig Jahre lang königlicher Prokurator gewesen, ohne daß er sich nicht viele Feinde gemacht hätte. Die meinigen sind zahlreich. Wird dieser Vorfall ruchbar, so ist er für sie ein Triumph, wobei sie vor Freuden springen, während ich mit Schmach bedeckt würde. Doktor, vergeben Sie mir diese weltlichen Gedanken. Sie sind ein Mann, Sie kennen die Menschen; Doktor, Sie haben mir nichts gesagt -- nicht wahr?«

»Lieber Herr von Villefort,« erwiderte der Doktor erschüttert, »meine erste Pflicht ist Menschlichkeit. Ich hätte Frau von Saint-Méran gerettet, hätte es in der Macht der Wissenschaft gelegen, das zu tun; nun sie aber tot ist, muß ich die Lebendigen berücksichtigen. Lassen Sie uns dieses schreckliche Geheimnis in die Tiefen unseres Herzens begraben. Gehen jemandem darüber die Augen auf, so will ich es zugeben, daß man das Stillschweigen, das ich beobachtete, meiner Unwissenheit zuschreibe. Indes, mein Freund, forschen Sie, forschen Sie eifrig nach, denn vielleicht bleibt die Sache nicht bei diesem Punkte stehen... Und haben Sie den Schuldigen gefunden, so werde ich Ihnen sagen: ›Sie sind Beamter, tun Sie, was Sie wollen‹«

»Oh, Dank, Dank, Doktor!« sprach Villefort mit unaussprechlicher Freude. »Ich hatte nie einen besseren Freund, als Sie sind.«

Und als ob er befürchtete, der Doktor d'Avrigny könnte von diesem Zugeständnis wieder abkommen, stand er auf und zog ihn fort, nach dem Hause.

Morrel streckte, als hätte er des Atems bedurft, den Kopf aus dem Gebüsch, und der Mond beschien dieses Gesicht, das so blaß war, daß man es für ein Gespenst hätte halten können.

»Gott schirmt mich auf eine offenbare, doch schreckliche Weise!« rief er. »Aber Valentine! Meine arme Valentine! Wie wird sie all diese Leiden ertragen?«

Bei diesen Worten blickte er abwechselnd bald nach dem Fenster mit den roten Vorhängen, bald nach den drei Fenstern mit den weißen Vorhängen.

Von dem Fenster mit den roten Vorhängen war das Licht beinahe ganz verschwunden. Sicher hatte Frau von Villefort ihre Lampe ausgelöscht, und nur das kleine Nachtlicht warf seinen Schein auf die Fensterscheiben.

Dagegen sah er am Ende des Hauses eines von den drei Fenstern mit den weißen Vorhängen aufmachen. Die Kerze auf dem Kamine warf einige Strahlen ihres blassen Lichtes nach außen, und ein Schatten lehnte sich einen Augenblick lang mit dem Ellbogen auf den Balkon.

Morrel erbebte; es dünkte ihn, als hätte er ein Schluchzen vernommen.

Man braucht sich nicht zu verwundern, daß diese sonst so mutige Seele abergläubischen Befürchtungen unterlag, denn sie war erschüttert, überreizt, und somit geschwächt durch die zwei stärksten menschlichen Leidenschaften: durch die Liebe und die Furcht.

Obgleich es unmöglich war, daß ihn Valentine in seiner Verborgenheit wahrnehmen konnte, so kam es ihm doch vor, als rufe ihn der Schatten am Fenster. Es sagte ihm dies sein verwirrter Geist, und sein glühendes Herz wiederholte es ihm. Dieser doppelte Irrtum wurde zur unwiderstehlichen Wirklichkeit, er sprang aus dem Versteck hervor und setzte, auf die Gefahr hin, gesehen zu werden und Valentine zu erschrecken, mit zwei Sätzen über das Parterre, das im Mondlicht breit und weiß aussah wie ein See, gelangte zu den Orangenbäumen, die vor dem Hause in Reihen aufgestellt waren, und stieß an eine Tür, die ohne Widerstand vor ihm aufging.

Valentine hatte ihn nicht gesehen; ihre zum Himmel erhobenen Augen folgten einer silbernen Wolke, die im Azur dahinglitt und einem Schatten ähnlich war, der zum Himmel emporschwebt; ihr aufgeregtes Gemüt sagte ihr, daß es die Seele ihrer Großmutter sei.

Inzwischen durchschritt Morrel das Vorhaus und fand das Treppengeländer; die über die Stufen gebreiteten Teppiche dämpften seine Tritte; übrigens befand sich Morrel in einem solchen Zustande von Aufregung, daß ihn selbst das Erscheinen des Herrn von Villefort nicht erschreckt hätte. Wenn ihm Villefort entgegenkäme, so war sein Entschluß schon gefaßt; er wollte sich ihm nähern, ihm alles gestehen, ihn bitten, daß er seine Liebe zu Valentine und die Gegenliebe derselben vergeben und entschuldigen möge; Morrel war völlig irr.

Zum Glück sah ihn niemand.

Jetzt besonders nützte ihm die Kenntnis, die er vom Innern des Hauses hatte; er kam ohne Zwischenfall oben an der Treppe an, und während er sich hier zurechtzufinden suchte, zeigte ihm ein Schluchzen, das er erkannte, den Weg, den er zu nehmen hatte; er wandte sich um, durch eine halbgeöffnete Tür sah er den Widerschein eines Lichtes. Er öffnete diese Tür und trat ein.

Die Verstorbene lag im Hintergrund eines Alkovens, ein weißes Tuch über dem Kopfe, das jedoch die Form erkennen ließ; der Anblick wurde noch schrecklicher für Morrel durch die Enthüllung jenes Geheimnisses, zu dem er durch Zufall gekommen war.

Neben dem Bett kniete Valentine, den Kopf versenkt in die breiten Kissen, zuckend und bebend von heftigem Schluchzen, die Hände über dem Haupte faltend und ringend.

Sie hatte das Fenster, das offen stand, verlassen und betete laut mit einem Ausdruck, der das Herz des Gefühllosesten gerührt hätte; die Worte entglitten ihren Lippen rasch, unzusammenhängend, unverständlich, so sehr ward ihre Kehle von Schmerz zusammengepreßt.

Der Mond, der durch die Öffnung der Vorhänge lugte, ließ den Schein der Kerze erbleichen und ergoß seine silberne Flut über das Bild der Trostlosigkeit.

Morrel blieb einige Augenblicke stumm; dann seufzte er beklommen. Valentine sah sich um und schaute ihn ohne Erstaunen an.

Es gibt Augenblicke, wo unser Herz in Verzweiflung stumpf wird und für weitere Eindrücke unempfindlich ist.

Beide wagten es nicht, in diesem Zimmer des Todes zu sprechen. Valentine wies nur mit einer erhabenen Gebärde auf das Sterbebett. Dann aber konnte sie sich doch nicht enthalten, mit leiser Stimme zu fragen: »Wie bist du hierhergekommen?«

»Valentine,« erwiderte Morrel mit zitternder Stimme und die Hände faltend, »ich wartete seit halb neun Uhr auf dich -- du kamst und kamst nicht. Schließlich trieb mich die Unruhe, ich sprang über die Mauer, drang in den Garten, hörte Stimmen, die von dem Vorgefallenen sprachen...«

»Was für Stimmen?« fragte Valentine.

Morrel bebte, denn die Unterredung des Doktors mit Herrn von Villefort kam ihm jetzt erst recht zum Bewußtsein, und er wähnte, durch das Leichentuch die gekrampften Arme, den starren Hals, die blauen Lippen zu sehen.

»Es werden eure Bedienten gewesen sein; durch sie hörte ich von allem.«

»Doch hierherkommen heißt, uns zugrunde zu richten, mein Freund?« sagte Valentine ohne Schreck und ohne Zorn.

»Verzeihe mir,« sagte Morrel in demselben Tone, »ich will gleich wieder gehen.«

»Nein, bleib, man würde dir begegnen.«

»Doch wenn man käme?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf und sagte:

»Sei unbekümmert, es wird niemand kommen; hier ist unsere Schutzwache.«

Sie zeigte auf den verhüllten Leichnam.

»Aber ich bitte dich nun, sag', was ist mit Herrn d'Epinay geschehen?« fragte Morrel.

»In dem Augenblick, da er kam, hauchte meine Großmutter ihren letzten Seufzer aus«, erwiderte Valentine still.

»Oh!« rief Morrel mit einem Gefühl selbstsüchtiger Freude, denn er dachte, dieser Todesfall werde Valentinens Heirat auf unbestimmte Zeit verzögern.

»Was jedoch meinen Schmerz verdoppelt,« fuhr das Mädchen fort, als sollte jene Selbstsucht augenblicklich ihre Strafe erhalten, »ist der Umstand, daß meine liebe arme Großmutter noch im Sterben die schnellste Vollziehung dieser Heirat anbefohlen hat; oh, mein Gott, sie tat es in der Meinung, mich zu beschützen.«

»Gib acht!« sagte Morrel.

Die jungen Leute schwiegen.

Man hörte, wie eine Tür aufging und wie der Parkettfußboden des Korridors und die Stufen der Treppe knarrten.

»Das ist mein Vater, der aus seinem Kabinett geht«, sagte Valentine.

»Und den Doktor zurückbegleitet«, fügte Morrel bei.

»Wie weißt du, daß es der Doktor ist?« fragte Valentine erstaunt.

»Ich vermute es«, entgegnete Morrel.

Valentine blickte den jungen Mann an.

Nun hörte man die Haustür zuschließen. Herr von Villefort drehte auch den Schlüssel an der Gartenpforte um und stieg wieder die Treppe hinauf.

Im Vorgemach hielt er einen Augenblick an, als ob er unentschlossen sei, in sein Zimmer oder in das der Frau von Saint-Méran zu gehen. Morrel verbarg sich hinter einem Türvorhang. Valentine rührte sich nicht; man könnte sagen, daß sie der höchste Schmerz über die gewöhnliche Furcht erhob.

Herr von Villefort ging in sein Zimmer.

»Nun kannst du weder durch die Gartenpforte noch durch die Haustür hinausgelangen«, sagte Valentine.

Morrel starrte das Mädchen betroffen an.

»Jetzt gibt es nur noch einen erlaubten und sicheren Ausgang: durch die Wohnung meines Großvaters.«

Sie stand auf und sagte:

»Komm.«

»Wohin?« fragte Morrel.

»Zu meinem Großvater.«

»Ich, zu Herrn Noirtier!«

»Ja!«

»Kann ich das denn wagen, Valentine?!«

»Ich bedenke das schon lange. Ich habe keinen Freund mehr in der Welt als ihn, und wir brauchen ihn beide. Komm.« Valentine ging durch den Korridor und stieg über eine kleine Treppe, die zu Noirtier führte. Morrel folgte ihr auf den Fußspitzen nach. Vor der Wohnung trafen sie den alten Diener.

»Barrois,« sagte Valentine, »schließet die Tür und lasset niemanden ein.«

Sie ging voran.

Noirtier, der noch in seinem Lehnstuhle saß, auf das mindeste Geräusch horchte und durch seinen Diener von allem, was vorging, unterrichtet war, richtete seine durchdringenden Blicke nach dem Eingange des Zimmers; als er Valentine sah, strahlte sein Auge.

Im Gang und der Haltung des Mädchens lag etwas Ernstes, Feierliches, das dem Greise auffiel.

»Lieber Vater,« sprach Valentine mit gepreßter Stimme, »du weißt, daß Frau von Saint-Méran vor einer Stunde entschlafen ist und daß ich jetzt außer dir niemand mehr habe, der mich liebt.«

Ein Ausdruck unendlicher Zärtlichkeit leuchtete in den Augen des Greises.

»Also zu dir allein darf ich mit meinem Kummer und mit meinen Hoffnungen kommen?«

Der Gelähmte machte ein bejahendes Zeichen.

Valentine faßte Maximilian bei der Hand und sagte:

»Sieh diesen Mann, lieber Großvater.«

Der Greis richtete etwas betroffen seinen prüfenden Blick auf Morrel.

»Es ist Maximilian Morrel, der Sohn des Kaufmanns Morrel in Marseille, von dem du sicher gehört hast.«

»Ja«, winkte der Greis.

»Ein tadelloser Name, den Maximilian in Ehren halten wird; denn mit dreißig Jahren ist er bereits Spahis-Kapitän und Offizier der Ehrenlegion.«

Der Greis bedeutete, daß er sich daran erinnere.

»Nun wohl, guter Vater,« sagte Valentine, indem sie vor dem Greise niederkniete und auf Morrel zeigte, »ich liebe Maximilian, und nur ihm allein will ich angehören; wenn man mich aber nötigen sollte, einen anderen zu heiraten, dann würde ich sterben.«

Aus den Augen des Gelähmten leuchtete eine ganze Welt von stürmischen Gedanken.

»Nicht wahr, Großvater, du wirst Maximilian deine Liebe schenken und ihn als Sohn willkommen heißen?« fragte das Mädchen.

»Ja«, winkte der regungslose Greis.

»Und du willst uns, da wir deine Kinder sind, gegen den Willen des Vaters in Schutz nehmen?«

Noirtier richtete einen prüfenden Blick auf Morrel, als wollte er sagen:

»Je nach Umständen.«

Maximilian verstand ihn und sagte:

»Mein Fräulein, wollen Sie mir einen Augenblick die Ehre überlassen, mit Herrn Noirtier zu sprechen?«

»Ja, ja?« bedeutete ihm das Auge des Greises.

Dann warf er einen unruhigen Blick auf Valentine.

»Du willst sagen, guter Vater, wie er dich verstehen wird?«

»Ja.«

»Oh, sei unbekümmert, wir haben so oft von dir gesprochen, daß er recht gut weiß, wie ich mit dir rede.«

Dann wandte sie sich mit einem trüb-holdseligen Lächeln zu Morrel und sagte:

»Er weiß alles, was ich weiß.«

Valentine stand auf, rückte für Morrel einen Stuhl herbei, gebot Barrois, niemand eintreten zu lassen, umarmte zärtlich ihren Großvater, sagte Maximilian still Lebewohl und ging fort.

Morrel nahm nun, um Noirtier zu beweisen, daß er Valentinens Vertrauen besaß und alle ihre Geheimnisse kannte, das Wörterbuch, Feder und Papier und legte alles auf den Tisch, auf dem eine Lampe brannte.

»Erlauben Sie mir zuvörderst,« sagte Morrel, »daß ich Ihnen mitteile, mein Herr, wer ich bin, daß ich Fräulein Valentine innig liebe, und was in bezug darauf meine Absichten sind.«

»Ich höre«, bedeutete Noirtier.

Mit tiefer Rührung sah Morrel auf den greisen Mann, der, scheinbar so überflüssig in der Welt, der einzige Beschützer, die einzige Stütze und der einzige Richter der beiden Liebenden war, die jung, schön und tatkräftig dem Leben gegenüberstanden.

Morrel begann mit seinen Ausführungen.

Er gestand, wie er Valentine kennen und lieben gelernt, und wie sie in ihrer traurigen Lage sein Anerbieten aufgenommen habe. Er sprach von seiner Abkunft, seiner Stellung, seinem Vermögen, und wenn er den Blick des Gelähmten befragte, so antwortete ihm dieser öfter als einmal:

»Es ist gut, fahren Sie nur fort.«

Nun begann Morrel von seinen Plänen zu sprechen. Er erzählte Noirtier alles: wie ein Wagen im Gehege warte, wie er Valentine entführen, zu seiner Schwester bringen und sie heiraten wolle in der ehrfurchtsvollen Erwartung, von Herrn von Villefort Vergebung zu erlangen.

»Nein«, bedeutete ihm Noirtier.

»Nein?« erwiderte Morrel. »Sollen wir nicht so handeln?«

»Nein!«

»Dieser Plan hat nicht Ihre Einwilligung?«

»Nein!«

»Nun gut,« sagte Morrel, »es gibt wohl auch noch andere Wege.«

Der forschende Blick des Greises fragte: »Wie denken Sie sich diese?«

»Ich will zu Franz d'Epinay gehen,« fuhr Maximilian fort; »ich bin glücklich, Ihnen das sagen zu können, wo Valentine nicht anwesend ist, und ich werde mich so gegen ihn betragen, daß er genötigt ist, als ein Mann von Mut und Ehre zu handeln. Ist er ein feinfühlender Mensch, dann wird er der Hand seiner Verlobten entsagen, und ich widme ihm von dieser Stunde an meine Freundschaft und Ergebenheit; weigert er sich, sei nun Eigennutz oder lächerlicher Stolz der Beweggrund, so will ich ihm beweisen, daß er Valentine Zwang antäte, daß sie mich liebt und keinen anderen lieben könnte. Gern will ich ihm alle möglichen Vorteile einräumen und mich mit ihm schlagen, dann werde ich ihn oder er mich töten. Sollte ich ihn töten, so kann er Valentine nicht heiraten, tötet er mich, so bin ich versichert, daß ihn Valentine nicht heiraten wird.«

Noirtier betrachtete mit unbeschreiblicher Wonne das edle und offene Antlitz, auf dem sich alle Regungen eines vornehmen männlichen Charakters so deutlich widerspiegelten. Als Morrel zu sprechen aufgehört hatte, schloß Noirtier mehrmals die Augen, womit er, wie man weiß, »nein« sagen wollte.

»Nein?« fragte Morrel. »Sie verwerfen also den zweiten Entschluß ebenso wie den ersten?«

»Ja, ich verwerfe ihn«, bedeutete ihm der Greis.

»Was soll ich also tun, mein Herr?« fragte Morrel. »Soll ich die Sache ihren Gang gehen lassen?«

Noirtier blieb unbeweglich.

»Ja, ich verstehe,« sprach Morrel, »ich soll warten.«

»Ja!«

»Doch jeder Aufschub bringt uns Verderben«, bemerkte der junge Mann. »Für sich allein ist Valentine ohne Kraft, und man wird sie nötigen wie ein Kind. Ich kam auf wundersame Weise hierher, um zu wissen, was hier vorgeht, und wurde auf wundersame Art zu Ihnen gelassen; allein ich kann vernünftigerweise nicht hoffen, daß sich diese Glücksfälle wiederholen sollten. Woher soll uns also Hilfe kommen? Vom Himmel?«

Der Greis lächelte mit den Augen, wie er zu tun pflegte, wenn man vom Himmel sprach. Es blieb noch immer ein bißchen Atheismus im Kopfe des alten Jakobiners zurück. »Nein!« antwortete er.

»Von Ihnen?«

»Ja!«

»Von Ihnen?«

»Ja«, wiederholte der Greis.

»Sie begreifen doch ganz, mein Herr, was ich Sie frage? Entschuldigen Sie meine Zudringlichkeit, denn mein Leben hängt von Ihrer Antwort ab. Wird unser Heil von Ihnen kommen?«

»Ja.«

»Sind Sie dessen ganz gewiß?«

»Ja.«

»Sie bürgen dafür?«

»Ja!«

In dem Blick, der diese Versicherung gab, lag eine solche Festigkeit, daß man, wenn auch an der Macht, doch nicht am Willen zweifeln konnte.

»Oh, Dank, mein Herr! Hundertfachen Dank! Da Sie aber stumm und regungslos an diesen Stuhl gekettet sind, wie können Sie sich dieser Heirat widersetzen, wenn Ihnen nicht der Herr durch ein Wunder die Sprache, die Gebärde und Bewegung zurückgibt?«

Ein Lächeln verklärte das Antlitz des Greises, ein seltsames Lächeln der Augen auf dem unbeweglichen Angesichte.

»Ich soll also warten?« fragte der junge Mann.

»Ja.«

»Und die beabsichtigte Eheschließung?«

Es zeigte sich dasselbe Lächeln.

»Sie wollen mir sagen, daß sie nicht zustande kommt?«

»Ja«, sagte Noirtier.

»Der Heiratsvertrag wird also nicht unterschrieben werden?« rief Morrel. »Oh, vergeben Sie mir, mein Herr, bei der Ankündigung eines großen Glückes ist es erlaubt, zu zweifeln; der Vertrag wird nicht unterschrieben?«

»Nein«, winkte der Gelähmte.

Ungeachtet dieser Zusicherung war Morrel doch noch nicht völlig überzeugt. Dies Versprechen eines ohnmächtigen Greises war so seltsam, daß es keine besondere Willenskraft, sondern ebensogut Schwäche bedeuten konnte, eine Schwäche, die sich selbst nicht mehr einzuschätzen weiß.

Ob nun Noirtier die Unentschlossenheit des jungen Mannes erriet, ob er der Willfährigkeit, die er gezeigt, keinen vollen Glauben schenkte, er heftete seinen Blick starr auf ihn.

»Was wünschen Sie, mein Herr?« fragte Morrel. »Soll ich Ihnen mein Versprechen wiederholen, daß ich nichts unternehmen werde?«

Der Blick Noirtiers blieb fest und starr, als ob er sagen wollte, ein Versprechen sei nicht hinreichend; dann ging er vom Gesicht auf die Hand über.

»Wollen Sie, mein Herr, daß ich schwöre?« fragte Maximilian.

»Ja,« winkte der Gelähmte mit derselben Feierlichkeit, »ich will es.«

Morrel sah ein, der Greis lege ein großes Gewicht auf diesen Schwur. Er erhob die Hand und sprach: »Bei meiner Ehre schwöre ich Ihnen, abzuwarten, was Sie gegen Herrn d'Epinay zu tun beschlossen haben.«

»Gut«, sprachen die Augen des Greises.

»Nun, mein Herr,« fragte Morrel, »wollen Sie, daß ich mich entferne?«

»Ja.«

»Ohne Fräulein Valentine wiederzusehen?«

»Ja.«

Morrel gab das Zeichen, daß er zu gehorchen bereit sei.

»Gestatten Sie mir, sehr verehrter Herr,« fuhr Morrel fort, »daß Ihr Sohn Sie umarmt, wie es eben Ihre Tochter getan hat?«

Man konnte sich nicht irren an Noirtiers ausdrucksvollen Augen.

Der junge Mann preßte seine Lippen auf die Stirn des Greises, und zwar auf dieselbe Stelle, auf die Valentine die ihrigen gepreßt hatte. Dann verneigte er sich zum zweiten Male und ging fort.

Im Vorhause stand der alte Diener, der von Valentine schon unterrichtet war; er wartete auf Morrel und führte ihn sodann durch die Krümmungen eines düstern Korridors, der zu einer kleinen Tür nach dem Garten ging. Morrel gelangte von da zu dem Gitter, von der Hecke im Augenblick auf die Mauer und mittels seiner Leiter in einer Sekunde nach der Luzernepflanzung, wo ihn noch immer sein Wagen erwartete.

Er stieg ein und war wohl erschöpft durch so viele Gemütsbewegungen, doch kehrte er freieren Herzens gegen Mitternacht in die Rue Meslay zurück; er warf sich in sein Bett und schlief wie in tiefer Trunkenheit.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo