Man hatte Dantes in ein ziemlich reinliches Zimmer geführt, allerdings mit Gittern und Riegeln versehen.

Man hatte Dantes in ein ziemlich reinliches Zimmer geführt, allerdings mit Gittern und Riegeln versehen. Er suchte krampfhaft jedes Gefühl von Besorgnis zu unterdrücken und vergegenwärtigte sich immer aufs neue das wohlwollende Verhalten des Substituten, um daraus Mut und Hoffnung zu schöpfen. Die Tageshelle schwand, und Dantes befand sich im Dunkeln. Es verging Stunde um Stunde in Hangen und Bangen.

Endlich hörte er Schritte. Die Tür wurde geöffnet, und der Schein zweier Fackeln fiel ins Zimmer. Dantes sah vier Gendarmen mit Säbeln und Musketen.


»Kommt ihr, um mich zu holen?« fragte er.

»Ja«, erwiderte einer von den Leuten.

»Auf Befehl des Herrn Substituten des königlichen Prokurators?«

»Es wird wohl so sein.«

»Gut,« sagte Dantes, »ich bin bereit, euch zu folgen.« Der Glaube, daß man ihn auf Befehl des Herrn von Villefort hole, benahm dem unglücklichen Jüngling alle Furcht. Er schritt also vorwärts, ruhig im Geiste, frei im Gange, und stellte sich selbst mitten unter seine Begleitung. Ein Wagen hielt am Straßentor, der Kutscher saß auf dem Bock und neben ihm ein Gefreiter.

»Ist dieser Wagen für mich bestimmt?« fragte Dantes.

»Für Sie,« entgegnete einer der Gendarmen, »steigen Sie ein.«

Dantes wollte einige Bemerkungen machen, allein der Kutschenschlag ging auf, und er empfand, daß man ihn hineinschob.

Die Fenster des Fuhrwerks waren vergittert, doch Dantes vermochte zu erkennen, daß die Fahrt nach dem Kai ging. Der Wagen hielt. Ein Dutzend Soldaten eilten herbei und stellten sich auf. »Wie, meinetwegen solch ein militärisches Aufgebot?« fragte Dantes voller Staunen.

Der Gefreite öffnete den Wagenschlag und wies Dantes stumm den Weg zwischen zwei Reihen Bewachung, der zum Hafen führte.

Ehe er sich's versah, saß er, von den Gendarmen umringt, in einem Boot und wurde in die Nacht hinausgerudert.

Trotz seiner Abneigung, mit den Wächtern zu reden, konnte er nun doch nicht den Ausruf unterdrücken: »Mein Gott, wohin führt man mich denn?«

»Wenn Ihr nicht blind seid, schaut Euch doch um«, gab widerwillig einer von den Gendarmen zur Antwort.

Dantes suchte die Dunkelheit zu durchdringen, da sah er in einiger Entfernung aus steilen, schwarzen Felsen das schauerliche Schloß If aufragen. Der Anblick dieses unheimlichen Gebäudes wirkte auf Dantes so furchtbar, wie auf einen zum Tode Verurteilten der Anblick des Schafotts.

»Um des Himmels willen, was sollen wir da?« schrie er auf.

Der Gendarm lächelte.

Bei Dantes überstürzten sich Gedanken und Vermutungen.

»Führt man mich etwa dahin, um mich einzusperren? Das ist doch ein Staatsgefängnis für große politische Verbrecher. Ich habe kein Verbrechen begangen. Gibt es Untersuchungsrichter, Beamte im Schlosse If?«

»Wie ich vermute,« sagte der Gendarm, »gibt es dort einen Gouverneur, einen Kerkermeister, eine Garnison und gute Mauern. He, Freund!«

Die Gendarmen waren aufgesprungen und hielten Dantes gepackt, der sich in der Aufwallung grenzenloser Verzweiflung hatte ins Meer stürzen wollen.

Jetzt lag er auf dem Boden des Bootes, und ein Gendarm hatte ihm das Knie auf die Brust gesetzt:

»Noch eine Bewegung, und ich jage Euch eine Kugel durch den Kopf.«

Er richtete wirklich seinen Karabiner gegen Dantes, der die Mündung des Rohres wie einen eisigen Ring an der Schläfe verspürte.

Dantes hatte einen Augenblick lang wirklich den Gedanken, diese verpönte Bewegung zu machen und auf solche Art dem unerwarteten Unglück ein Ende zu bereiten; allein gerade weil dieses Unglück so unerwartet kam, meinte er, es sei nicht von Dauer. Jetzt wurde die Barke von einem heftigen Stoße erschüttert. Einer der Ruderknechte sprang auf den Felsen, ein Tau knarrte im Abrollen von einer Winde, und Dantes erkannte, daß man gelandet sei. Man packte ihn zugleich am Arme und Kragen, nötigte ihn, aufzustehen und vorwärts zu gehen.

Dantes leistete weiter keinen unnützen Widerstand, die Langsamkeit seines Ganges war viel mehr Erschlaffung als Widersetzlichkeit. Er war betäubt und wankte wie ein Betrunkener. Er sah aufs neue Soldaten kommen, die sich an der steilen Böschung aufstellten, er merkte Stufen, die ihn zwangen, seine Füße zu heben, und gewahrte, daß er unter ein Tor kam, das sich hinter ihm schloß -- aber alles maschinenmäßig, wie im Nebel.

Einen Augenblick wurde in einem dunklen Hofe haltgemacht.

»Wo ist der Gefangene?« fragte eine Stimme.

»Hier«, antworteten die Gendarmen.

»Er folge mir; ich werde ihn in seine Zelle führen.«

»Vorwärts!« riefen die Gendarmen und gaben Dantes einen Stoß.

Der Gefangene folgte seinem Führer, der ihn in ein unterirdisches Gemach geleitete, dessen nackte und feuchte Mauern von Tränendunst geschwängert zu sein schienen. Eine Art Lampe, die auf einem Schemel stand und deren Docht in einem stinkenden Fett schwamm, erleuchtete die Wände dieses schauerlichen Aufenthaltes und zeigte Dantes seinen Führer, der, schlecht gekleidet, gemein aussah und ein untergeordneter Gefängniswärter zu sein schien.

»Sie bleiben hier für diese Nacht«, sagte er. »Es ist schon spät und der Herr Gouverneur bereits zu Bett. Wenn er morgen Ihre Papiere durchgesehen hat, wird er vielleicht Ihre Wohnung ändern. Hier ist Brot und Wasser und dort im Winkel Stroh. Gute Nacht!«.

Ehe Dantes noch den Mund auftun konnte, hatte der Wächter die Lampe genommen und die Tür von außen verriegelt.

So stand der Unglückliche allein in der Finsternis und in einer Stille, die so stumm und schauerlich war wie diese Gewölbe, die eine eisige Kälte auf seine glühende Stirn herabwehten.

Als die ersten Strahlen des Tages diese Höhle ein wenig erhellt hatten, kehrte der Gefangenwärter mit dem Befehl zurück, daß der Eingekerkerte da zu verbleiben habe, wo er eben war. Dantes war gar nicht von seinem Platz gewichen, eine eiserne Hand schien ihn an eben diese Stelle geheftet zu haben, wo er tags zuvor gestanden hatte. So hatte er die ganze Nacht stehend zugebracht, ohne einen Augenblick zu schlafen.

Der Gefängniswächter näherte sich und ging um ihn herum; aber Dantes schien ihn nicht zu sehen. Er klopfte ihm auf die Schulter, Dantes erbebte und schüttelte den Kopf.

»Haben Sie denn nicht geschlafen?« fragte der Gefängniswächter.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Dantes.

Der Wächter blickte ihn mit Verwunderung an.

»Haben Sie keinen Hunger?« fuhr er fort.

»Ich weiß nicht«, entgegnete Dantes wieder.

»Wünschen Sie etwas?«

»Ich wünsche den Gouverneur zu sehen.«

Der Gefängniswächter zuckte die Achseln und ging fort; Dantes folgte ihm mit den Augen und streckte seine Hände gegen die halb geöffnete Tür aus; aber die Tür schloß sich. Dann schien seine Brust ein Schluchzen zu zerreißen. Die Tränen, die seine Augenlider aufschwellten, rieselten wie Bäche; er schlug mit der Stirn gegen die Erde, betete lange Zeit, durchging in seinem Geiste sein ganzes verflossenes Leben und befragte sich, was er, noch so jung, für ein Verbrechen begangen habe, das eine so grausame Strafe verdiente? So verlief der Tag; er aß kaum einige Bissen Brot, trank kaum einige Tropfen Wasser. Bald saß er in Gedanken verloren, bald kreiste er wie ein wildes Tier in seinem Käfig.

Am nächsten Morgen trat der Kerkermeister zur selben Stunde wieder ein.

»He,« sagte er, »sind Sie heute vernünftiger als gestern?«

Dantes antwortete nicht.

»Wenn Sie irgendeinen Wunsch haben, sagen Sie es doch.«

»Ich wünsche mit dem Gouverneur zu sprechen.«

»Ich sagte Ihnen schon gestern, daß das unmöglich ist.«

»Warum ist es unmöglich?«

»Weil es nach den Vorschriften einem Gefangenen nicht erlaubt ist, darum zu bitten.«

»Was ist denn hier erlaubt?« fragte Dantes.

»Eine bessere Kost, wenn man bezahlt, ein Spaziergang und zuweilen Bücher.«

»Ich brauche keine Bücher, habe nicht Lust, spazieren zu gehen, und finde meine Kost gut; ich will nur eins: den Gouverneur sehen.«

»Wenn Sie mich mit Ihrem Eigensinn quälen,« sagte der Gefängniswächter, »werde ich Ihnen nichts mehr zu essen bringen.«

»Auch gut,« versetzte Dantes, »wenn du mir nichts mehr zu essen bringst, werde ich verhungern.«

Der Ton, mit dem Dantes diese Worte aussprach, bewies dem Gefängniswächter, daß sein Gefangener glücklich wäre, wenn er sterben könnte. Da jeder Gefangene seinem Wärter täglich ungefähr zehn Sous einträgt, so berechnete er den Verlust, der ihm aus Dantes Tod erwüchse, und fuhr deshalb mit sanfterer Stimme fort:

»Was Sie verlangen, ist ganz unmöglich; der Gouverneur begibt sich niemals zu den Gefangenen. Seien Sie also vernünftig. Man wird Ihnen den Spaziergang gestatten, und so kann es eines Tages geschehen, daß der Gouverneur vorüberkommt. Dann mögen Sie ihn fragen. Ob er Ihnen antworten will, hängt von ihm ab.«

»Wie lange aber kann ich warten,« fragte Dantes, »bis sich dieser Zufall fügt?«

»Mein Gott,« entgegnete der Schließer, »einen Monat, drei Monate, sechs Monate, vielleicht ein Jahr.«

»Das ist zu lange,« sagte Dantes, »ich muß ihn sofort sehen.«

»Ach,« sprach der Gefangenwärter, »verrennen Sie sich nicht in diesen unmöglichen Wunsch, sonst sind Sie vor vierzehn Tagen noch ein Narr.«

»He, du glaubst das?« rief Dantes.

»Ja, auf solche Weise fängt die Narrheit immer an. Wir haben hier ein Beispiel: ein Abbé, der dem Gouverneur ohne Unterlaß eine Million anbot, wenn man ihn in Freiheit setzte.«

»Seit wann hat er dieses Zimmer verlassen?«

»Vor zwei Jahren.«

»Hat man ihn in Freiheit gesetzt?«

»Nein, man brachte ihn in einen Kerker.«

»Höre,« sprach Dantes, »ich bin kein Abbé, ich bin kein Narr, vielleicht werde ich's, aber unglücklicherweise bin ich noch bei Sinnen; ich mache dir einen andern Vorschlag.«

»Welchen?«

»Ich biete dir keine Million, denn ich könnte sie dir nicht geben, aber ich biete dir hundert Taler, wenn du zu den Katalanern gehst und einem jungen Mädchen namens Mercedes nicht etwa einen Brief, sondern nur zwei Zeilen einhändigen willst.«

»Wenn ich diese zwei Zeilen überbrächte und würde entdeckt, so verlöre ich meinen Platz, der jährlich tausend Livres einträgt, ohne die Nebenvorteile und die Kost zu rechnen. Sie sehen also, daß ich ein großer Tor wäre, wenn ich es täte.«

»Wohlan,« versetzte Dantes, »höre und merke es gut: Wenn du dich weigerst, den Gouverneur zu benachrichtigen, daß ich ihn zu sprechen wünsche, wenn du dich weigerst, zwei Zeilen zu Mercedes zu tragen oder ihr mindestens zu melden, daß ich hier bin, so erwarte ich dich eines Tages hinter meiner Tür und will dir in dem Augenblick, wo du eintrittst, mit diesem Schemel den Kopf zerschmettern.«

»Das sind Drohungen!« rief der Schließer, indem er einen Schritt zurückwich. »Es wirbelt offenbar schon in Ihrem Kopfe; der Abbé hat ebenso angefangen wie Sie. Glücklicherweise gibt es in If noch Kerker.«

Dantes nahm den Schemel und schwenkte ihn wild.

»Gut, gut,« sprach der Gefangenwärter, »ich werde es dem Gouverneur melden.« Er ging fort und kehrte ein Weilchen darauf mit vier Soldaten und einem Korporal zurück.

»Auf Befehl des Gouverneurs,« sprach er, »führt den Gefangenen um ein Stockwert tiefer hinab.«

»Also in den Kerker?« fragte der Korporal.

»Ja, in den Kerker, man muß die Narren zu den Narren sperren.«

Die vier Soldaten ergriffen Dantes, der in eine Art Stumpfsinn verfiel und ihnen ohne Widerstand folgte. Man ließ ihn fünfzehn Stufen hinabsteigen und öffnete die Tür eines Kerkers, wo er eintrat und die Worte murmelte: »Er hat recht, man muß die Narren zu den Narren sperren!«

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo