In fieberhafter Unruhe verbrachte Dantes die Zeit bis zur Abfahrt.

In fieberhafter Unruhe verbrachte Dantes die Zeit bis zur Abfahrt.

Man segelte unter einem azurnen Himmel, wo auch Gott seine Leuchttürme nach und nach anzündete, deren jeder eine Welt ist. Dantes erklärte, alle könnten zur Ruhe gehen, er übernehme das Steuer. Wenn der Malteser (so nannte man Dantes) eine solche Erklärung getan, so genügte es, und jeder ging ruhig zu Bett. Dies geschah manchmal. Da Dantes aus der Einsamkeit plötzlich in die Welt zurückgekehrt war, so fühlte er von Zeit zu Zeit das dringende Bedürfnis nach Einsamkeit. Welche Einsamkeit ist aber unendlicher und poetischer als die eines im Dunkel der Nacht, im Schweigen der Unermeßlichkeit auf dem Meer dahingleitenden Schiffes?


Als der Patron aufwachte, ging das Schiff unter vollen Segeln; kein Lappen Leinwand war, den der Wind nicht blähte, man legte in einer Stunde mehr als dritthalb Meilen zurück. Die Insel Monte Christo kam näher und näher. Edmond übergab das Schiff nun wieder seinem Herrn, um sich in seine Hängematte zu legen; aber er konnte kein Auge schließen. Gegen fünf Uhr abends sah man schon die ganze Insel.

Edmond verschlang fast mit den Augen jene Felsenmasse, die in allen Farben der Dämmerung spielte. Nie hatte ein Spieler, dessen ganzes Vermögen gesetzt ist, so heftige Beklemmungen gefühlt, als Dantes in seinem Hoffnungsfieber. Es ward Nacht. Um zehn Uhr landete man. Die »junge Amalia« war die erste bei dem Stelldichein. Dantes mußte sich ordentlich Gewalt antun, um seine Unruhe zu meistern. Als er ans Land sprang, hätte er am liebsten gleich Brutus die Erde geküßt.

Ganz früh am nächsten Morgen nahm Dantes seine Flinte, um angeblich eine wilde Ziege zu schießen.

Am Strande entlang gehend, ließ er seine Blicke schweifen, auf daß ihnen nichts entginge. Da entdeckte er seltsame Einschnitte in den Felsen, die sich fortlaufend wiederholten. Eiligst ging er diesen Zeichen nach.

Inzwischen hatten die Schiffer ihre Arbeit erledigt und sich ein leckeres Mahl zubereitet. Sehnsüchtig schauten sie nun nach Edmond aus.

Da sahen sie ihn, leicht wie eine Gemse, von Abhang zu Abhang über die Felsen springen. Plötzlich strauchelte er, stieß einen Schrei aus und kollerte zwölf bis fünfzehn Fuß in eine Schlucht hinab.

Die Gefährten eilten ihm zu Hilfe, allen voran Jacopo.

Sie fanden ihn lang hingestreckt, blutend und fast bewußtlos. Man flößte ihm Rum ein, und wieder mit bestem Erfolg. Edmond schlug die Augen auf und klagte über einen heftigen Schmerz am Knie und in den Lenden.

Man versuchte es, ihn aufzuheben und zum Schiff zu bringen; allein Dantes erklärte, lieber sterben zu wollen, als die gräßlichen Schmerzen zu ertragen.

»Laßt mir einige Tage Ruhe, und alles ist wieder gut.«

Die Kameraden berieten untereinander.

»Das ist eine verteufelte Sache«, sagte der Patron. »Wir müssen machen, daß wir weiterkommen, und hierlassen kann man ihn doch auch nicht.«

»Ihr könnt mich unbesorgt hier zurücklassen. Gebt mir etwas Brot, eine Flinte, Pulver und Blei und für alle Fälle auch noch eine Hacke. Wenn Ihr dann nach einigen Tagen wiederkommt, holt Ihr mich ab.«

Man ging schließlich darauf ein; nur dem treuen Jacopo wollte die Sache nicht gefallen. Dantes hatte Mühe, ihn fortzuschicken. Er schleppte noch alles mögliche heran, um ihm die Verlassenheit zu erleichtern.

Nicht lange danach segelte das Schiff von dannen und war bald den Blicken des Verwundeten entschwunden.

Kaum wußte Dantes sich völlig unbeobachtet, als er flink und behend aufsprang, zum Gewehr und der Hacke griff und sich wieder auf den Weg begab, den die merkwürdigen Zeichen in den Felsen ihn geführt hatten. Sie endigten in einer Bucht, die nur so breit war, daß ein kleines Fahrzeug sich darin verstecken konnte.

»Ein guter Landungsplatz für Schätze«, dachte Dantes. »Wo ist aber die Grotte?« Er schaute sich um und um. Da fiel ihm ein kugelrunder Fels auf, der so aussah, als wäre sein Standort ihm von Menschenhand angewiesen. Eine viereckige Steinplatte lag unter ihm, und man hatte sie durch kleine Steine und Erde zu verdecken gesucht. Gras, Moos und Myrtenschößlinge wuchsen daraus empor. Dantes war überzeugt, daß er hier zu seinem Ziel gelangen müsse. Wie aber den Fels beiseite schieben?

Da fiel sein Blick auf ein mit Pulver gefülltes Horn, das ihm sein Freund Jacopo zurückgelassen hatte. Er lächelte: »Mög' mir die höllische Erfindung dienen.«

Mit seiner Hacke grub er nun zwischen dem oberen Fels und der untenliegenden Steinplatte eine Art Minengang, dann zupfte er Fäden aus seinem Taschentuch, tauchte sie in Salpeter und machte eine Lunte daraus. Nun legte er Feuer an und entfernte sich schnell. Die Explosion ließ nicht lange auf sich warten. Der obere Fels geriet ins Wanken, und seiner Stütze beraubt, rollte er polternd ins Meer. Dantes stieß einen Freudenschrei aus. Rasch trat er näher. Die Steinplatte war zum Teil zertrümmert. Ein Eisenring war in der Mitte als Griff angebracht. Mit schier übermenschlichen Kräften faßte Dantes den Ring und hob den Rest der Steinplatte hoch. Auf die Knie niederfallend, sah er eine steile, schmale Treppe, die in die Tiefe einer unterirdischen Grotte führte.

Ehe Dantes die Stiegen hinabging, wandelte ihn eine Art von Schwäche an. So dicht vor dem Ziel... wenn er nun doch nichts fände? -- Er legte die Hand an die eiskalte Stirn und zauderte. Er murmelte das letzte Wort aller menschlichen Weisheit: »Vielleicht...« und trat den Weg der Hoffnung an.

Statt tiefe Dunkelheit und dumpfe Grabesluft zu finden, umfing ihn sanftes, bläuliches Licht -- durch kaum merkliche Felsspalten einfallend -- und seltsame Wohlgerüche. Die Treppe führte in eine große geräumige Felsengrotte aus Granit. Er wiederholte die Worte des Testaments, das er auswendig kannte:

»Im entferntesten Winkel der zweiten Öffnung...«

Dies war nun aber die erste Grotte; jetzt galt's, den Eingang zur zweiten zu finden.

Er klopfte ringsum die Wände ab und fand nach langem Suchen eine Stelle, die nicht aus natürlichem Gestein bestand, sondern eine künstlich hergestellte Mauer von übereinandergelegten Steinen war. Unter unsäglicher Mühe gelang es ihm, einen der Steine zu lockern. Er jauchzte laut auf, als er zu Boden fiel. Nun folgten die andern bald nach, und Dantes sah die zweite Grotte vor sich liegen. Er schaute suchend umher. Wenn der Schatz wirklich existierte, so lag er in jener dunkeln Ecke vergraben. Die Stunde der Erfüllung war gekommen -- oder die der bittersten Enttäuschung. Mit fiebernder Hast griff Dantes nun das Erdreich an. »Zwei Fuß tief...« murmelte er. Nachdem er eine Weile gearbeitet hatte, geriet er auf Widerstand und erkannte bald, daß es eine große eichene Truhe, mit Eisenbändern beschlagen, war. In der Mitte des Deckels sah er das Wappen der Familie »Spada« auf silbernem Grunde. Nun hackte, schaufelte und grub er mit Feuereifer, um den Deckel der Truhe freizubekommen und auch die Schlösser. Endlich war auch das getan; jedoch die schweren Schlösser waren treue Hüter und ließen niemand an die Schätze heran, die Truhe selber aber war so schwer, daß sie nicht von der Stelle zu rücken war.

Es blieb Dantes nichts anderes übrig, als die Schneide seiner Hacke zwischen Truhe und Deckel zu stemmen. Ein Krach -- und der Deckel sprang auf. Dantes taumelte zurück, rieb sich die Augen, sah -- und sah...

Das war ja gar nicht möglich! Gold, Diamanten, Perlen, Rubine -- -- War er dem Wahnsinn nahe?

»O Faria! Faria!«

Die Truhe hatte drei Abteilungen. In der obersten befanden sich Goldtaler, in der zweiten Goldbarren, je zwei bis drei Pfund schwer. An der dritten aber funkelte es von Edelsteinen der köstlichsten Art. Dantes wühlte mit den Händen darin und wußte nicht, ob er wachte oder träumte. Er empfand eine Freude, die fast dem Schmerze gleichkam. Er hätte schreien mögen. Nun begann er sein Vermögen zu zählen; es war unmöglich: die Zahlen reichten nicht aus.

Der Tag ging zu Ende. Dantes überfiel die Furcht, man könnte ihm die Schätze rauben. Er ging mit der Flinte in der Hand wieder die Treppe hinauf, rückte den Stein zurecht, bedeckte die schadhafte Stelle mit Reisig und Laub und legte sich darauf zum Schlafe nieder. Diese Nacht war eine jener köstlichen und schrecklichen zugleich, wie der junge Mann sie in seinem bewegten Leben schon zwei- oder dreimal verbracht hatte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo