Herr von Noirtier war ein guter Prophet, die Angelegenheiten nahmen einen raschen Gang, wie er es gesagt hatte.

Herr von Noirtier war ein guter Prophet, die Angelegenheiten nahmen einen raschen Gang, wie er es gesagt hatte. Jedermann kennt die seltsame und wunderbare Zurückkunft von der Insel Elba, die in der Vergangenheit ohne Beispiel ist und für die Zukunft wahrscheinlich ohne Nachahmung bleiben wird. Ludwig XVIII. machte nur schwache Versuche, um diesen harten Schlag von sich abzuwenden; sein geringes Vertrauen zu den Menschen raubte ihm auch das Vertrauen zu den Ereignissen. Das Königtum zitterte auf der unsicheren Grundlage, und eine einzige Bewegung des Kaisers bewirkte den Einsturz dieses Gebäudes, das nichts als ein Durcheinander von alten Vorurteilen und neuen Ideen war. Villefort hatte also von seinem König einen Dank, der für den Augenblick nicht bloß nutzlos, sondern sogar gefährlich war, und er war so klug, jenes Offizierskreuz der Ehrenlegion niemandem zu zeigen, obwohl ihm Herr von Blacas sorgfältig das Diplom ausfertigen ließ, wie es ihn der König geheißen hatte. Napoleon hätte Villefort ohne Noirtiers Schutz gewiß abgesetzt. Sonach hat der Girondist von 1793 und der Senator von 1806 denjenigen beschützt, der vorher ihn beschützt hatte. Die ganze Macht Villeforts hat sich also während dieser kurzen Berufung des Kaiserreichs, von dem sich übrigens gar leicht der zweite Sturz voraussehen ließ, darauf beschränkt, das Geheimnis zu unterdrücken, das Dantes hätte preisgeben können.

Kaum war indes die Kaisergewalt wieder hergestellt, das heißt, kaum bewohnte der Kaiser wieder die Tuilerien, die Ludwig XVIII. eben verlassen hatte, als Marseille der Stellung seiner Beamten ungeachtet zu fühlen anfing, daß sich die Brände des Bürgerkrieges, die im Süden nur schlecht erloschen waren, wieder aufs neue entzündeten. Es hat wenig gefehlt, so wären die Repressalien noch über einige Katzenmusiken gegangen, womit man die in ihren Häusern eingeschlossenen Royalisten belagerte, und noch über die öffentlichen Beschimpfungen, womit man diejenigen verfolgte, die den Mut hatten, auszugehen. Der würdige Reeder, Herr Morrel, stand nun auch mit seinen Anschauungen in einem anderen Lichte und konnte es unter diesen Umständen getrost wagen, zu Dantes' Gunsten sein Wort zu erheben.


Villefort, der sich trotz des Sturzes seiner Vorgesetzten gehalten hatte, schob seine Heirat zunächst für eine günstigere Zeit hinaus. Wenn sich der Kaiser auf dem Throne behauptete, so bedurfte Gerard einer anderen Verbindung, für die sein Vater gesorgt hätte. Brächte eine zweite Restauration Ludwig XVIII. wieder nach Frankreich zurück, so vergrößerte sich der Einfluß des Herrn von Saint-Méran ebenso wie der seinige, und so würde die beabsichtigte Verbindung wünschenswerter als je werden. Der Substitut des königlichen Prokurators war also gegenwärtig der erste Beamte von Marseille, als sich eines Morgens die Tür öffnete und Herr Morrel gemeldet wurde.

Herr Morrel war der Meinung, Villefort niedergeschlagen zu finden; er fand ihn so, wie er ihn vor sechs Wochen gesehen hatte, das heißt: ruhig, fest und voll jener kalten Höflichkeit, die als unübersteigliche Schranke den höhern Menschen von dem geringeren scheidet. Er tat außerdem so, als könne er sich nur schwer auf den Reeder besinnen.

»Herr Morrel, wenn ich nicht irre.«

»Ja, mein Herr«, entgegnete der Reeder.

»Treten Sie näher«, fuhr der Beamte fort. »Was verschafft mir die Ehre?«

»Mein Herr!« sagte der Reeder, der allmählich mehr Sicherheit gewann und Halt fand in der Gerechtigkeit seiner Sache wie in der Parteilosigkeit seiner Stellung. »Sie erinnern sich wohl, daß ich einige Tage vorher, als die Landung Seiner Majestät bekannt wurde, zu Ihnen kam und um Nachsicht bat für einen unglücklichen jungen Seemann, den Kapitän an Bord meiner Brigg. Man hat ihn beschuldigt, daß er in Verbindung mit der Insel Elba stehe; diese Verbindungen, die damals ein Verbrechen waren, gelten jetzt als ein Verdienst. Sie dienten dem König Ludwig XVIII. und schonten seiner nicht, mein Herr, es war Ihre Amtspflicht, heute dienen Sie Napoleon und müssen ihn beschützen, das ist abermals Ihre Amtspflicht. Ich komme nun, zu fragen, was aus ihm geworden ist.«

Villefort nahm sich zusammen und entgegnete:

»Wie heißt der Mann? Seien Sie so gut, mir seinen Namen zu nennen.«

»Edmond Dantes.«

Villefort schlug ein dickes Register auf, das in einer Lade lag, und suchte darin.

»Sind Sie ganz gewiß, mein Herr, daß Sie sich nicht irren?«

»Nein, mein Herr, ich irre mich nicht,« sprach Morrel, »außerdem kenne ich den Jungen schon seit zehn und beschäftige ihn seit vier Jahren.«

»Halt, hier ist's! Ja... er war Seemann, wollte eine Katalanerin heiraten ... Ja, ja, ich erinnere mich; die Sache war schwierig und ernst.«

»Wie das?«

»Er kam ins Gefängnis des Justizpalastes.«

»Ja. und dann?«

»Dann machte ich meinen Bericht nach Paris und schickte die bei ihm vorgefundenen Papiere dahin; es war meine Amtspflicht, und acht Tage nach seiner Verhaftung wurde der Gefangene weggeführt.«

»Weggeführt?« rief Morrel. »Was kann man mit dem armen Jungen getan haben?«

»Oh, beruhigen Sie sich, man wird ihn nach Fenestrelles, nach Pignerol oder auf die Sankt-Margareten-Inseln gebracht haben, was man in der Amtssprache: in die Ferne schicken nennt, und an einem schönen Morgen werden Sie ihn zurückkommen und sein Schiffskommando übernehmen sehen.«

»Was das betrifft, so wird mein Haus ihm immer offenstehen. Warum ist er aber nicht schon gekommen? Mich dünkt, die erste Sorge der Kaiserregierung hätte es sein sollen, diejenigen freizulassen, die der royalistischen Justiz zum Opfer fielen.«

»Urteilen Sie nicht zu hart, Herr Morrell« entgegnete Villefort. »Man muß in allen Dingen gesetzlich zu Werke gehen. Der Befehl zur Einkerkerung kam von oben, es muß also auch von oben der Befehl zur Freilassung kommen. Nun sind es aber kaum vierzehn Tage, daß Napoleon zurückkehrte, und so kann auch der Begnadigungsbrief noch nicht ausgefertigt sein.«

»Herr von Villefort,« sagte Morrel, »was kann ich tun, um die Rückkehr des armen Dantes zu beschleunigen?«

»Verfassen Sie eine Bittschrift an den Justizminister.«

»Ach, mein Herr, Sie wissen recht gut, was Bittschriften zu bedeuten haben; der Minister erhält täglich zweihundert und liest davon nicht vier.«

»Ja,« erwiderte Villefort, »er wird aber eine Bittschrift lesen, die von mir abgeschickt, erörtert und unmittelbar adressiert sein wird.«

»Wie schreibt man an den Minister?«

»Setzen Sie sich, Herr Morrell« sagte Villefort. »Ich werde Ihnen diktieren. Verlieren wir keine Zeit, wir haben ohnedies schon zuviel verloren.«

Villefort schauderte bei dem Gedanken, wie ihm der Gefangene in der Stille und Dunkelheit fluchen möge, er war aber schon zu weit gegangen, um zurückweichen zu können. So diktierte er nun ein Bittgesuch, in dem er den Patriotismus des Dantes und seine der bonapartistischen Sache geleisteten Dienste mit Übertreibung schilderte. Nach dieser Bittschrift wäre Dantes einer der tätigsten Agenten für Napoleons Rückkehr gewesen. Es war wohl anzunehmen, daß sie nicht ohne Wirkung bleiben würde. Villefort überlas sie mit lauter Stimme.

»So ist's recht,« sprach er, »und nun bauen Sie auf mich.«

»Wird das Gesuch bald abgehen, mein Herr?«

»Heute noch!«

»Von Ihnen befürwortet?«

»Ich will tun, mein Herr, was ich vermag, und alles das bekräftigen, was Sie darin sagen.«

Villefort setzte sich gleichfalls nieder und schrieb an einer Ecke der Bittschrift sein Zertifikat.

»Und was soll ich beginnen, mein Herr?« fragte Morrel.

»Warten«, entgegnete Villefort. »Ich bürge für alles.«

Diese Zusicherung erweckte in Morrel Hoffnung; er war über den Substituten des königlichen Prokurators entzückt, als er ihn verließ, und kündigte sogleich dem alten Vater Dantes' an, er werde seinen Sohn bald wiedersehen. Statt daß aber Villefort diese Bittschrift nach Paris schickte, verwahrte er sie sorgfältig, denn während sie Dantes für die Gegenwart retten konnte, gefährdete sie ihn furchtbar für die Zukunft bei Eintreffen eines Ereignisses, das sich bereits voraussehen ließ: nämlich eine zweite Restauration. Dantes blieb also gefangen, verloren in der Tiefe seines Kerkers; er hörte nichts von dem Sturz des Thrones Ludwigs XVIII., nichts von dem furchtbaren Zusammenkrachen des Kaiserreichs.

Allein Villefort beobachtete alles mit einem wachsamen Auge, hörte alles mit einem aufmerksamen Ohr. Während dieses kurzen kaiserlichen Auftrittes, den man die hundert Tage nennt, war Morrel zweimal zu Villefort gekommen und drang auf Dantes' Freilassung, allein dieser beschwichtigte ihn jedesmal mit Versprechungen und Hoffnungen. Endlich kam es zur Schlacht bei Waterloo. Herr Morrel zeigte sich nicht wieder bei Villefort. Der Reeder hatte für seinen jungen Freund alles getan, was menschlicherweise für ihn zu tun möglich gewesen. Neue Versuche unter dieser zweiten Restauration machen, hieß sich selbst in Gefahr setzen. Ludwig XVIII. bestieg abermals den Thron. Villefort, dem Marseille voll von Erinnerungen war, die ihm zu Gewissensbissen wurden, bewarb sich um die erledigte Stelle eines königlichen Prokurators in Toulouse und erhielt sie auch. Vierzehn Tage nach seiner Installierung heiratete er Fräulein Renée von Saint-Méran, deren Vater jetzt bei Hofe noch besser angeschrieben war als vorher. Somit war Dantes während der hundert Tage und nach der Schlacht bei Waterloo im Kerker geblieben, vergessen von den Menschen, wenn auch nicht von Gott.

Danglars, der nicht einen Augenblick seine Ruhe verloren hatte, befiel bei Napoleons Wiederkehr namenlose Furcht. Wenn jetzt Dantes auftauchen sollte, so konnte er dessen Rache sicher sein. So beschloß er denn, den Seedienst aufzugeben, und ließ sich durch Herrn Morrel an einen spanischen Handelsmann empfehlen, bei dem er gegen Ende März als Kommis eintrat, etwa zehn oder zwölf Tage nach Napoleons Rückkehr in die Tuilerien. Anders Fernand: Dantes war abwesend, das war ihm genug. Was aus dem Unglücklichen geworden, begehrte er nicht zu erfahren.

Während dieser so bewegten und traurigen Ereignisse verkündete das Kaiserreich den letzten Heerbann, und alle waffenfähigen Männer folgten dem Ruf des Herrschers. Fernand ging mit den andern; er verließ seine Hütte und Mercedes, gefoltert von dem finstern Gedanken, daß mittlerweile sein Nebenbuhler zurückkommen und die Geliebte heiraten werde. Die treue Ergebenheit, die er dem unglücklichen Mädchen bewies, rührte schließlich ihr Herz. In den ersten Wochen, da Mercedes halb sinnlos vor Jammer und Schmerz von einem zum andern geeilt war, um Hilfe und Beistand zur Befreiung Dantes anzuflehen, war er nicht von ihrer Seite gewichen und hatte mit doppelter Treue zu ihr gehalten, je mehr man der Braut des »politischen Verbrechers« mit eisiger Kälte und Mißtrauen begegnete.

Nur Herr Morrel blieb ihr stets derselbe liebevolle Beschützer, und mit dem Vater Edmonds verband sie das gleiche namenlose Leid. Der beklagenswerte Greis vermochte es nicht lange zu ertragen: fünf Monate nach der Trennung von seinem Sohn hauchte er sein Leben in Mercedes' Armen aus. Herr Morrel bestritt alle Kosten der Beerdigung und bezahlte auch die armseligen kleinen Schulden, die der Greis während seiner Krankheit gemacht hatte. Es war dies mehr als bloße Wohltätigkeit, es gehörte Mut dazu, um so zu handeln; der Süden stand in Flammen, und es war ein Verbrechen, dem Vater eines so gefährlichen Bonapartisten, wie Dantes war, selbst noch auf dem Sterbebett Beistand zu leisten.

Die arme Mercedes aber wurde einsamer von Tag zu Tag, und sie gewöhnte sich daran, ihr Leid vor fremden Augen zu verschließen, so sehr es auch zum Himmel schrie. Sie wäre aber nicht der vornehme Charakter gewesen, der sie war, wenn sie Fernands zarte, stille Fürsorge nicht dankbar empfunden hätte.

Als er nun Abschied nahm, um in den Krieg zu ziehen, sagte sie weinend zu ihm: »Mein Bruder, mein einziger Freund, Gott gebe, daß ich nicht auch Sie noch verlöre!«

Diese Worte ließen bei Fernand die Hoffnung wieder neu aufflammen, daß er fast mit einem Glücksgefühl an Caderousses Seite ins Feld hinauszog.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo