Herr und Frau von Saint-Méran waren bei Villefort zum Besuch gewesen. Auf der Rückreise jedoch erkrankte

Herr und Frau von Saint-Méran waren bei Villefort zum Besuch gewesen. Auf der Rückreise jedoch erkrankte Herr von Saint-Méran ganz plötzlich und verstarb, ehe noch Hilfe herbeigeholt werden konnte. Aufgelöst vor Jammer und Schmerz kehrte die alte Dame zum Schwiegersohn zurück, legte sich zu Bett und begann im Fieber von einer Geistererscheinung zu reden, die aus dem Zimmer der Frau von Villefort gekommen sei und ihr einen Trank bereitgestellt habe.

Nun müsse auch sie dahinscheiden, sagte die Kranke, ließ einen Notar kommen und vermachte das große Vermögen der Mérans einzig der geliebten Enkelin und flehte ihren Schwiegersohn an, damit sie in Frieden die Augen schließen könne, noch rasch an ihrem Sterbebette die Vermählung Valentinens mit Herrn von Epinay zu vollziehen. Villefort tat alles, um diesen Wunsch zu erfüllen.


Inzwischen kam der Arzt. Valentine ging ihm entgegen.

»Nicht wahr, Sie wissen schon von dem Unglück, das uns betroffen hat?«

»Ich weiß nichts«, entgegnete Herr d'Avrigny.

»Ach,« sprach Valentine, indem sie ihr Schluchzen unterdrückte, »mein Großvater ist gestorben.«

»Herr von Saint-Méran?«

»Ja.«

»Plötzlich?«

»An einem Schlagfluß.«

»An einem Schlagfluß?« wiederholte der Arzt.

»Ja. Und nun bildet sich meine Großmutter ein, daß ihr Gemahl, den sie niemals verlassen, sie rufe, und daß sie bald mit ihm vereinigt sein werde. Oh, Herr d'Avrigny, nehmen Sie sich meiner armen Großmutter an.«

»Wo ist sie?«

»In ihrem Zimmer, mit dem Notar.«

»Und Herr Noirtier?«

»Er ist sich immer gleich; sein Geist ist vollkommen hell, doch bleibt die Unbeweglichkeit und Stummheit dieselbe.«

»Und auch seine Liebe für Sie bleibt dieselbe, nicht wahr, mein Kind?«

»Ja,« entgegnete Valentine seufzend, »er hat mich recht lieb.«

»Wer sollte Sie nicht liebhaben?«

Valentine lächelte trübselig.

»Und was fehlt Ihrer Großmutter?«

»Sie hat eine seltsame Aufregung der Nerven, einen bewegten, sonderbaren Schlaf; diesen Morgen gab sie vor, daß ihre Seele während des Schlummers über ihrem Körper schwebe; das ist doch Delirium. Auch behauptet sie, daß sie ein Phantom in das Zimmer treten sah und ein Geräusch vernahm, das der vorgebliche Geist verursachte, als er ihr Glas berührte.«

»Das ist seltsam«, sprach der Doktor, »ich wußte nicht, daß Frau von Saint-Méran solchen Wallungen unterworfen sei.«

»Auch ich habe sie zum ersten Male so gesehen,« versetzte Valentine, »und diesen Morgen hat sie mir große Angst gemacht, denn ich hielt sie für verrückt; und mein Vater, Sie kennen doch den ernsten Geist meines Vaters, nun, Herr d'Avrigny, mein Vater selbst schien davon erschüttert.«

»Wir wollen sehen,« entgegnete Herr d'Avrigny, »was Sie mir da sagen, kommt mir sonderbar vor.«

Der Notar ging fort, man benachrichtigte Valentine, daß ihre Großmutter allein sei.

»Gehen Sie hinauf«, sprach sie zu dem Doktor.

»Und Sie?«

»Oh, ich wage es nicht, denn sie verbot mir, Sie holen zu lassen; dann bin ich, wie Sie sagten, selbst bewegt, fieberhaft, unpäßlich; ich will, um mich zu erholen, einen Gang in den Garten machen.«

Sie ging bis zum Ende des Gartens, wo an einer Stelle der Gitterzaun nicht mit Büschen bepflanzt war. Sie war noch nicht bis dahin gelangt, als sie sich bereits beim Namen rufen hörte.

Es war Morrel, der Valentine hier erwartete und der sich in keiner geringen Aufregung befand.

Valentine wußte aber nichts von dem Warten Morrels, auch war es nicht die Stunde, wo er gewöhnlich kam, und so schien es ein bloßer Zufall oder, wenn man lieber will, eine glückliche Sympathie, die sie in den Garten geführt hatte.

Als sie herankam, rief Morrel sie, und sie lief zum Gitter.

»Sie sind hier zu dieser Stunde?« sagte sie.

»Ja, arme Freundin!« entgegnete Morrel. »Ich komme, um schlimme Nachrichten zu holen und zu bringen.«

»Unser Haus ist wahrlich eine Unglücksstätte«, sagte Valentine. »Doch sprechen Sie, Maximilian, ich will's ertragen, wenn auch die Summe der Schmerzen schon groß genug ist.«

»Geliebte Valentine,« versetzte Morrel, indem er sich selbst zu fassen suchte, »ich bitte Sie, sagen Sie mir, um welche Zeit beabsichtigt man, Sie zu verheiraten?«

»Ich will Ihnen nichts verhehlen, Maximilian! Diesen Morgen sprach man von meiner Verheiratung, und meine Großmutter, auf die ich zu meinen Gunsten rechnete, erklärte sich nicht nur für diese Heirat, sondern wünscht sogar ganz entschieden, daß nur die Zurückkunft des Herrn d'Epinay sie verzögert, und daß gleich am Tage nach seiner Ankunft der Vertrag in Richtigkeit gebracht wird.«

Ein schmerzvoller Seufzer rang sich aus der Brust des jungen Mannes, er starrte das junge Mädchen lange und traurig an, worauf er mit tiefer Stimme sprach:

»Ach, es ist doch entsetzlich, wenn man sagen hört: 'Der Augenblick deiner Hinrichtung ist festgesetzt, sie findet in wenigen Stunden statt.' Aber gleichviel, es muß so sein, und ich werde mich meinerseits gar nicht widersetzen. Also, da man nur noch auf Herrn d'Epinay wartet, wie Sie sagen, um den Vertrag zu unterfertigen, und da Sie am Tage nach seiner Ankunft ihm zugehören, so werden Sie morgen schon Herrn d'Epinays Gattin sein, denn er kehrte diesen Morgen nach Paris zurück.«

Valentine stieß einen Schrei aus.

»Ich war vor einer Stunde bei dem Grafen von Monte Christo,« sagte Morrel; »wir redeten zusammen, er von dem Schmerze Ihres Hauses, ich von Ihrem Leide, als plötzlich ein Wagen in den Hof fuhr. Ich glaubte nie an Ahnungen, allein jetzt, Valentine, muß ich meine Ansicht ändern; beim Rollen dieses Wagens ergriff mich ein Schauer; bald darauf vernahm ich Tritte auf der Stiege; die dröhnenden Schritte des Gouverneurs haben Don Juan nicht so sehr erschreckt, als mich dieser Gang erschreckte. Endlich ging die Tür auf, Albert von Morcerf trat zuerst ein, ich zweifelte an mir selber und glaubte mich zu irren, als hinter ihm ein anderer junger Mann vorschritt und der Graf ausrief: ›Ah, Baron Franz d'Epinay!‹ Ich nahm alle Kraft und Festigkeit meines Herzens zusammen, um mich zu fassen. Ich war vielleicht blaß und vielleicht zitterte ich, doch blieb ein Lächeln auf meinen Lippen; aber fünf Minuten darauf ging ich fort, ohne ein Wort von dem gehört zu haben, was inzwischen gesprochen wurde, denn ich war vernichtet.«

»Armer Maximilian!« seufzte Valentine,

»Hier steh' ich nun, Valentine, antworten Sie mir jetzt wie einem Manne, dem Ihre Antwort Tod oder Leben gibt: was werden Sie tun?«

Valentine neigte den Kopf, sie war niedergeschmettert.

»Valentine,« sagte Morrel, »es ist nicht das erste Mal, daß Sie an die Lage denken, in der wir uns befinden; sie ist schwierig, sie ist dringlich, es steht alles auf dem Spiele; ich glaube nicht, daß es an der Zeit ist, sich einem nutzlosen Grame hinzugeben, das mögen die tun, die nach ihrem Gefallen dulden, nach Muße ihre Tränen vergießen mögen. Es gibt solche Leute, und Gott wird ihnen gewiß im Himmel diese Resignation auf Erden anrechnen; allein wer den Willen hat, zu kämpfen, verliere die kostbare Zeit nicht und gebe dem Schicksal unmittelbar den Schlag zurück, den er empfangen hat. Ist es nun Ihr Wille, sich gegen das feindliche Schicksal aufzulehnen? Valentine, sprechen Sie, denn ich kam, Sie darum zu fragen.«

Valentine zitterte und starrte Morrel mit großen, verlorenen Augen an. Der Gedanke, sich ihrem Vater, ihrer Großmutter und der ganzen Familie zu widersetzen, war ihr nie in den Sinn gekommen.

»Was sagen Sie mir, Maximilian,« fragte Valentine, »und was nennen Sie Kampf? Nennen Sie es Verbrechen. Wie, ich sollte ankämpfen wider den Befehl meines Vaters, wider den Wunsch meiner sterbenden Großmutter? Das ist unmöglich!«

Morrel machte eine Bewegung, und sie fuhr fort: »Sie haben ein zu edles Herz, um mich etwa nicht zu verstehen, und verstehen mich so gut, lieber Maximilian, daß Sie schweigen. -- Ich kämpfen? Gott bewahre mich! Nein, nein! Ich bewahre alle meine Kraft, um wider mich selbst zu kämpfen und meine Tränen zu trinken, wie Sie sagen; nie werde ich meinen Vater betrüben, nie die letzten Augenblicke meiner Großmutter stören!«

»Sie haben völlig recht«, entgegnete Morrel gelassen.

»Mein Gott, wie Sie das sagen!« rief Valentine verletzt.

»Ich sage Ihnen das, mein Fräulein, wie ein Mann, der Sie bewundert«, versetzte Maximilian.

»Mein Fräulein,« rief Valentine, »mein Fräulein! Oh, der Egoist! Er sieht mich in Verzweiflung und tut, als verstände er mich nicht.«

»Sie irren; im Gegenteil, ich verstehe Sie vollkommen. Sie wollen Herrn von Villefort nicht erzürnen, Sie wollen nicht unfolgsam gegen die Marquise sein und werden morgen den Vertrag unterschreiben, der Sie mit Ihrem Gemahl verbinden soll.«

»Aber, mein Gott, kann ich denn anders handeln?«

»Sie müssen in dieser Angelegenheit, wo ich ein schlechter Richter bin, nicht mich anrufen, mein Fräulein, denn mein Egoismus würde mich verblenden«, erwiderte Morrel, dessen dumpfe Stimme und geballte Hände die zunehmende Gemütsbewegung anzeigten.

»Was werden Sie mir also raten, Morrel, wenn Sie mich geneigt fänden, Ihren Vorschlag anzunehmen? Nun, antworten Sie doch, hier gilt es nicht, zu sagen: ›Sie machen die Sache schlecht,‹ hier muß man auch guten Rat erteilen.«

»Sagen Sie mir das im Ernst, Valentine? Soll ich Ihnen diesen Rat geben?«

»Allerdings, Maximilian, wenn er gut ist, will ich ihn befolgen, Sie wissen doch, daß ich in meiner Zuneigung beharrlich bin.«

»Valentine,« sprach Morrel, indem er ein loses Brett gänzlich beiseite schaffte, »reichen Sie mir Ihre Hand zum Beweise, daß Sie mir meinen Zorn vergeben; Sie sehen, mein Kopf ist ganz verwirrt, und seit einer Stunde haben die tollkühnsten Pläne mein Hirn durchspukt. Oh, im Falle Sie meinen Rat verwerfen würden...«

»Nun, dieser Rat?«

»Hören Sie, Valentine!«

Das junge Mädchen erhob die Augen gen Himmel und stieß einen Seufzer aus.

»Ich bin Herr für mich,« sagte Maximilian, »ich bin reich genug für uns beide; ich schwöre Ihnen zu Gott: Sie werden meine Gemahlin sein, ehe noch meine Lippen sich auf Ihre Stirn pressen.«

»Wie denken Sie sich das?« fragte das Mädchen.

»Folgen Sie mir,« fuhr Morrel fort, »ich führe Sie zu meiner Schwester, die würdig ist, Ihre Schwester zu sein; wir schiffen uns nach Algier, nach England oder nach Amerika ein, wenn Sie sich nicht lieber mit mir in eine Provinz zurückziehen wollen, wo wir abwarten könnten, bis unsere Freunde den Widerstand Ihrer Familie überwunden haben, um dann wieder nach Paris zurückzukehren.«

Valentine schüttelte den Kopf.

»Das habe ich vorausgesehen, Maximilian,« entgegnete sie, »das ist der Rat eines Wahnsinnigen, und ich wäre noch betörter als Sie, wenn ich Sie nicht alsogleich mit dem einzigen Worte zurückwiese: ›Unmöglich, Morrel! Unmöglich!‹«

»Sie folgen also Ihrem Schicksal, wie es immer kommen mag, ohne dagegen anzukämpfen?« fragte Morrel finster.

»Ja, sollte ich auch dabei sterben.«

»Nun, Valentine,« versetzte Morrel, »ich wiederhole Ihnen abermals, daß Sie recht haben. Wahrhaftig, ich bin verrückt, und Sie beweisen mir, daß die Leidenschaft die gerechtesten Geister verblendet. Meinen Dank also, da Sie ohne Leidenschaft urteilen. Es ist also eine entschiedene Sache: morgen werden Sie mit Herrn d'Epinay versprochen, und zwar nicht nur durch jene Komödienförmlichkeit, die man Unterschrift heißt, sondern durch Ihren eigenen Willen!«

»Maximilian, Sie bringen mich zur Verzweiflung«, versetzte Valentine. »Was würde wohl Ihre Schwester zu dem Rat sagen, den Sie mir da geben?«

»Mein Fräulein!« entgegnete Morrel mit einem bitteren Lächeln. »Ich bin ein Egoist, wie Sie gesagt haben, und als solcher denke ich nicht an das, was andere sagen könnten. Es ist ein Jahr her, daß ich Sie kenne. Seit dem ersten Tage, da ich Sie gesehen, liebe ich Sie. Alles, was mir das Leben hold machen könnte, liegt für mich in Ihrer Person. Ich glaubte, den Himmel zu gewinnen -- und hab' mir die Hölle erkoren. Ja... es kommt wohl oft genug vor, daß ein Spieler nicht nur das verliert, was er besitzt, sondern auch das, was er nicht besitzt.«

Morrel sprach diese Worte mit einer vollkommenen Ruhe; Valentine blickte ihn ein Weilchen mit ihren großen, prüfenden Augen an.

»Was aber wollen Sie tun?« fragte sie.

»Ich werde mir erlauben, Ihnen Lebewohl zu sagen, mein Fräulein, und wünsche Ihnen, dafür sei Gott mein Zeuge, der meine Worte hört und im Grunde meiner Seele liest, ich wünsche Ihnen ein so ruhiges, so glückliches und reichgesegnetes Leben, daß es in seiner Fülle nicht einmal mehr Raum für mein Andenken hat!«

»Oh!« seufzte Valentine.

»Leben Sie wohl, Valentine!« sprach Morrel und verneigte sich.

»Wohin gehen Sie?« rief das Mädchen, indem sie ihre Hand durch das Gitter streckte und Maximilian am Rock festhielt, aus der eigenen Gemütsverfassung schließend, daß seine Ruhe keine wirkliche sein könne. »Wohin gehen Sie?«

»Ich will trachten, keine neue Störung mehr in Ihre Familie zu bringen, und ein Beispiel geben, das alle ehrbaren und demutsvollen Menschen nachahmen mögen, die sich in meiner Lage befinden.«

»Ehe Sie mich verlassen, Maximilian, sagen Sie mir, was Sie tun wollen?«

Der junge Mann lächelte trübsinnig.

»Sagen Sie es mir, oh, sagen Sie!« rief Valentine. »Ich flehe Sie an!«

»Haben Sie Ihren Entschluß geändert, Valentine?«

»Ich kann ihn leider nicht ändern, das wissen Sie«, erwiderte das Mädchen.

»Nun, so leben Sie wohl, Valentine.«

Valentine rüttelte mit solcher Kraft am Gitter, als wolle sie es niederreißen, und als Morrel wegging, streckte sie beide Arme durch das Gitter, faltete und rang die Hände und schrie: »Was wollen Sie tun, ich muß es wissen, wohin gehen Sie?«

»Oh, seien Sie beruhigt,« sagte Maximilian, indem er drei Schritt vor der Tür stillestand; »meine Absicht ist es nicht, einen andern Menschen für die Härte, die das Schicksal mir erweist, verantwortlich zu machen. Ein anderer würde Ihnen drohen, daß er Franz aufsuchen, herausfordern und sich mit ihm schlagen werde, das alles wäre unsinnig. Was hat Franz bei der ganzen Sache zu tun? Er sah mich diesen Morgen zum ersten Male; er hat es schon vergessen, daß er mich gesehen; er wußte nicht einmal um meine Existenz, als Ihre zwei Familien übereinkamen, daß eins dem andern angehören sollte. Ich habe es also keineswegs mit Herrn Franz zu tun, und ich schwöre es Ihnen, daß ich ihm durchaus nicht zu nahe treten werde.«

»An wen wollen Sie sich halten? An mich?«

»An Sie, Valentine? Oh, bewahre mich Gott, die Frau ist unantastbar; die Frau, die man liebt, ist heilig.«

»Also an Sie selbst, Unglücklicher, an Sie selbst?«

»Weil ich der Schuldige bin, nicht wahr?«

»Maximilian!« sagte das Mädchen. »Maximilian! Kommen Sie her, ganz nahe zu mir.«

Maximilian trat mit einem sanften Lächeln näher, und seine Blässe abgerechnet, konnte man glauben, er befinde sich ganz so wie gewöhnlich.

»Hören Sie mich, meine teure, meine angebetete Valentine!« sprach er mit seiner ernsten, klangvollen Stimme, »Menschen wie wir, die nie einen Gedanken faßten, worüber sie vor der Welt, vor den Verwandten, vor Gott hätten erröten müssen; Menschen wie wir können einander im Herzen lesen wie in einem offenen Buch. Ich spielte nie den Romanhelden, war kein Manfred, kein Antony, sondern habe ohne Wort, ohne Beteuerungen, ohne Schwüre mein Leben ganz auf Sie gesetzt; Sie geben mich auf, und Sie haben recht, so zu handeln, ich habe es oft gesagt und wiederhole es Ihnen; allein Sie geben mich auf, und so ist mein Leben verloren. Von dem Augenblick an, Valentine, wo Sie sich von mir entfernen, stehe ich allein da in der Welt. Meine Schwester ist glücklich bei ihrem Gatten. Ihr Gatte aber ist bloß mein Schwager, das heißt ein Mann, den nur die soziale Übereinkunft an mich knüpft, es bedarf also niemand auf Erden meines Daseins, das nutzlos geworden ist. Nun sehen Sie, was ich tun werde: Ich warte bis zur letzten Sekunde Ihrer Verheiratung, denn ich will nicht einen Schatten von jenen unerwarteten Wechselfällen verlieren, die uns der Zufall bisweilen vorbehält, indem bis dahin Herr Franz d'Epinay schließlich sterben kann; ja, in dem Moment, wo Sie zum Altar treten, kann der Blitz auf ihn niederschlagen. Demjenigen, der zum Tode verurteilt ist, wird alles glaublich, und die Wunder treten für ihn in die Klasse des Möglichen, wenn es sich um das Heil seines Lebens handelt. Ich werde somit bis zum letzten Moment warten, sage ich, und wenn mein Unglück gewiß ist, ohne Abhilfe, ohne Hoffnung, so werde ich einen Brief an meinen Schwager, einen zweiten an den Polizeipräfekten schreiben, um ihnen meinen Vorsatz zu melden, und in irgendeinem Winkel des Waldes, am Rande eines Grabens oder am Gestade eines Flusses will ich mir die Hirnschale zerschmettern, so wahr ich der Sohn des ehrbarsten Mannes bin, der jemals in Frankreich gelebt hat.«

Ein heftiges Zittern befiel Valentinens Glieder; sie ließ das Gitter los, das sie mit den Händen gefaßt hatte, ihre Arme sanken an ihrer Seite herab, und über die Wangen perlten ihr zwei schwere Tränen. Der junge Mann blieb vor ihr stehen, düster und entschlossen.

»Oh, Mitleid und Erbarmen?« schluchzte sie. »Nicht wahr, Sie werden am Leben bleiben?«

»Nein, auf Ehre, das werde ich nicht tun,« versetzte Maximilian; »doch was liegt Ihnen daran? Sie taten Ihre Pflicht, und das gute Gewissen wird Ihnen bleiben.«

Valentine sank auf die Knie und drückte ihre Hände auf das Herz. »Maximilian!« rief sie. »Maximilian, mein Freund, der du in Wahrheit allein mein Gatte bist, folge meinem Beispiel: trage das Schicksal mit Mut und Geduld. Vielleicht kommt doch noch ein Tag, der uns vereint.«

»Leben Sie wohl, Valentine!« wiederholte Morrel.

»Mein Gott!« schrie Valentine, indem sie ihre Hände zum Himmel hob. »Du siehst, ich habe alles getan, was ich vermochte, um eine ergebene Tochter zu sein, ich habe gebeten, gefleht, geschworen. Er aber achtet meine Bitten nicht, hört nicht auf mein Flehen. Gut!« fuhr sie fort, indem sie ihre Tränen trocknete und ihre Festigkeit wiedergewann. »Gut! Ich will nicht an Gewissensbissen sterben. Sie werden leben, Maximilian, denn ich will keinem andern als Ihnen angehören. Zu welcher Stunde? In welchem Augenblick? Etwa auf der Stelle? Reden, gebieten Sie, ich bin bereit!« Morrel, der sich aufs neue einige Schritte weit entfernt hatte, kehrte wieder zurück und reichte vor Freude und mit wonnetrunkenem Herzen Valentine seine beiden Hände durch das Gitter.

»Valentine,« sprach er, »Geliebte! Sie müssen nicht derart mit mir reden, oder Sie töten mich. Warum sollte ich Sie der Gewalt verdanken, wenn Sie mich lieben, wie ich Sie liebe? Nötigen Sie mich nur aus Menschlichkeit zum Leben zurück? In diesem Falle sterbe ich lieber.«

»Ach,« seufzte Valentine, »wer liebt mich denn in der Welt? Du, du ganz allein. Wer ist die Hoffnung, die einzige Freude meines Lebens? Du, und nochmals du, Maximilian! So gibt's denn keine Wahl mehr für mich. Ja, ich werde dir folgen, ich werde das väterliche Haus und alles verlassen. Oh, wie bin ich undankbar!« rief sie schluchzend aus. »Alles, selbst meinen guten Großvater, den ich vergessen habe.«

»Nein,« sagte Maximilian, »du wirst ihn nicht verlassen. Wie du gesagt hast, schien Herr Noirtier Sympathie für mich zu haben. Entdecke ihm alles, ehe wir entfliehen, seine Zustimmung wird dir ein Trost vor Gott sein. Sobald wir dann vermählt sind, kommt er zu uns und hat zwei Kinder statt des einen. Du hast mir gesagt, wie er mit dir spricht und wie du ihm antwortest; ich werde recht bald diese rührende Zeichensprache erlernen. Oh, ich schwöre es dir, Valentine, statt der Verzweiflung erwartet uns ein namenloses Glück.«

»Oh, sieh nur, Maximilian, was für eine Gewalt du über mich hast: du läßt mich beinahe das glauben, was du sagst, und doch ist es Wahnsinn, denn mein Vater wird mir fluchen, ich kenne ihn. Sein unbeugsames Herz wird mir nie verzeihen. Aber höre, Maximilian, wenn ich durch einen Kunstgriff, durch Bitten, durch einen Zufall -- was weiß ich -- kurz, durch irgendein Mittel die Vermählung verzögern kann, nicht wahr, so wirst du warten?«

»Ja, ich schwöre es dir, wie du es mir schwörst, daß diese schreckliche Heirat nie zustande kommen wird und daß du stets ›Nein!‹ sagen willst, ob man dich auch vor den Magistrat oder den Priester schleppen sollte.«

»Ich schwöre es dir, Maximilian, bei dem, was mir in der Welt das Heiligste ist, bei meiner Mutter.«

»Wir warten also«, sagte Morrel.

»Ja, wir warten,« wiederholte Valentine, die bei diesem Worte tief Atem holte; »es gibt ja so viele Dinge, die Unglückliche, wie wir es sind, zu retten vermögen.«

»Ich verlasse mich auf dich, Valentine,« sagte Morrel; »was du immer tun magst, es ist wohlgetan. Wenn man aber gegen deine Bitten taub bleibt, wenn dein Vater, wenn Frau von Saint-Méran fordern, daß Herr d'Epinay gerufen wird, um morgen den Vertrag zu unterfertigen...«

»So hast du mein Wort, Morrel!«

»Anstatt zu unterschreiben...«

»Eile ich zu dir, und wir entfliehen; allein bis dahin, Morrel, laß uns Gott nicht versuchen; auch wollen wir uns nicht sehen; denn es ist ein Wunder der Vorsehung, daß wir noch nie überrascht worden sind; würde man uns belauschen, wüßte man, daß wir zusammenkommen, wäre uns alles zerstört.«

»Du hast recht, Valentine, doch wie erfahren wir...«

»Durch den Notar, Herrn Deschamps.«

»Ich kenne ihn.«

»Und durch mich selbst. Sei versichert, ich werde dir schreiben. Mein Gott, diese Heirat ist mir doch ebenso schrecklich wie dir, Maximilian.«

»Ich danke dir, meine angebetete Valentine! Nun ist alles abgemacht; sowie ich die Stunde erfahre, fliege ich hierher; du steigst über diese Mauer in meine Arme, es wird dir leicht werden; ein Wagen erwartet uns an der Tür der Umzäunung. Du steigst mit mir ein, und ich führe dich zu meiner Schwester; unbekannt, wenn du willst, mit Geräusch, wenn du es wünschest, werden wir dort das Bewußtsein unserer Kraft und unseres Willens haben und uns nicht hinschlachten lassen wie das Lamm, das keine andere Verteidigung hat als seine Seufzer.«

»So sei es, und ich erwidere dir: Was du tust, Maximilian, das ist wohlgetan.«

»Bist du mit deinem Weibe zufrieden?« sprach traurig das Mädchen.

»Meine angebetete Valentine, hier ›ja‹ sagen, hieße sehr wenig sagen.«

»Sag' es immerhin!«

Valentine näherte sich, oder vielmehr ihre Lippen, dem Gitter, und ihre Worte glitten mit ihrem duftigen Hauch zu Morrels Lippen, der von der andern Seite der kalten, unerbittlichen Scheidewand seinen Mund näherte.

»Auf Wiedersehen!« rief Valentine, indem sie sich dieser Wonne entriß. »Auf Wiedersehen!«

»Ich werde von dir einen Brief erhalten?«

»Ja.«

»Dank, Geliebte, auf Wiedersehen!«

Der junge Mann kehrte nach Hause zurück und harrte den Rest dieses Abends und den ganzen folgenden Tag, ohne einen Brief zu bekommen. Am zweiten Tage endlich, gegen zehn Uhr früh, als er eben zu dem Notar Deschamps gehen wollte, erhielt er durch die Post ein kleines Briefchen, das er sogleich als von Valentine kommend erkannte, wiewohl er noch niemals ihre Handschrift gesehen.

Es war folgenden Inhalts:

»Nichts haben Tränen, Bitten und Beschwörungen vermocht. Gestern war ich in der Kirche Saint-Philipp-du-Roule und betete zwei Stunden lang zu Gott aus dem Grunde meiner Seele; Gott ist unempfindlich wie die Menschen, und die Unterfertigung des Vertrags ist auf neun Uhr abends festgesetzt worden.

Ich habe nur ein Wort, Morrel, wie ich nur ein Herz habe, und dieses Wort ist Dir verpfändet, wie das Herz Dein eigen ist.

Diesen Abend also um drei Viertel auf neun Uhr am Gitter.

Deine treue Valentine de Villefort.

P. S. Mit meiner Großmutter geht es immer schlimmer; gestern wurde ihre Aufregung fast Delirium, heute ist ihr Delirium beinahe Wahnsinn.

Du wirst mich recht innig lieben, nicht wahr, Morrel? Damit Du mich vergessen machest, daß ich sie in diesem Zustande verließ. Wie es mich dünkt, verhehlt man dem Großvater Noirtier meine bevorstehende Vermählung.«

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo