Herr Noirtier saß in seinem Rollstuhl, in den er morgens hineingesetzt und abends wieder herausgehoben wurde.

Herr Noirtier saß in seinem Rollstuhl, in den er morgens hineingesetzt und abends wieder herausgehoben wurde. Ein großer Spiegel stand vor ihm, in dem er mühelos alles beobachten konnte, was um ihn herum geschah, Herr Noirtier war starr und unbeweglich wie eine Leiche. Nur Gesicht und Gehör belebten gleich zwei Funken den sonst so leblosen Körper, und der Blick seiner schwarzen Augen war heut noch so machtvoll wie sein starker Geist. Er befahl mit den Augen, er dankte mit ihnen. Er schien eine Statue mit zwei lebendigen Augen zu sein, und nichts war schrecklicher anzusehen, als wenn diese Augen in Zorn entflammten oder sich vor Freude verklärten. Valentine hatte sich die Aufgabe gestellt, die Gedanken des Greises zu erraten und ihm die ihrigen mitzuteilen, und dank ihres Eifers vermochten sie sich vorzüglich zu verständigen.

Der alte Diener, der seit fünfundzwanzig Jahren bei ihm war, kannte so genau alle seine Gewohnheiten, daß Noirtier nur selten etwas zu sagen hatte.


Heute nun waren Herr und Frau von Villefort bei Noirtier erschienen, um ihm mitzuteilen, daß sie gedächten, ihre Tochter Valentine mit Herrn Franz von Epinay zu verheiraten. Der Greis war außer sich, er verlangte einen Notar, mit dem er sich dank Valentinens Vermittlung zu verständigen wußte, und enterbte seine Enkelin für den Fall dieser Heirat. Sein Vermögen von neunhunderttausend Franken sollte alsdann den Armen zufallen.

Herr von Villefort, bebend vor Zorn, erklärte trotz allem, daß er seinen Entschluß nicht zu ändern gedenke. Als der Notar sowie Herr und Frau von Villefort wieder gegangen waren, kam Valentine, warf sich dem geliebten Großvater zu Füßen und dankte ihm unter Tränen, daß er versucht habe, sie vor der verhaßten Heirat zu bewahren. Sie weinte bitterlich und gestand, daß sie einen andern Mann, Maximilian Morrel, liebe, der ein Freund von Albert Morcerf, Kapitän sei und voll innigster Treue an ihr hinge. Sie schilderte dem Großvater dessen vornehmen, trefflichen Charakter und flehte den alten Mann um Schutz und Rettung an.

Der Greis gab ihr zu verstehen, daß er die Macht habe, sie zu schützen. Mit grenzenloser Liebe blickte er auf seinen Liebling herab.

Valentine umarmte den Großvater und fühlte sich durch sein Versprechen vollkommen beruhigt.

Als Herr und Frau von Villefort wieder unten in ihrer Wohnung waren, fanden sie den Grafen von Monte Christo im Salon vor. Obgleich Herr von Villefort einer geradezu fabelhaften Selbstbeherrschung fähig war, vermochte er seinen Unmut doch nicht sogleich zu verscheuchen, und so kam es, daß er sich dem Grafen gegenüber in betreff dieser Sache äußerte. Immer und immer wieder war es dieser Vater, der ihm Steine in den Weg warf.

»Also Herr von Noirtier enterbt Ihre Fräulein Tochter für den Fall, daß sie den Baron von Epinay heiratet?«

»So ist's.«

»War Ihr Herr Vater Bonapartist?«

»Er war vor allem Jakobiner«, rief Villefort unbesonnen aus.

»Ah -- Ja! Richtig -- jetzt besinne ich mich: General von Epinay wurde ja ermordet, als er eines Abends einen bonapartistischen Klub verließ.«

Voller Entsetzen sah Villefort zu Monte Christo auf. Dieser aber hatte sich in liebenswürdiger Weise Madame von Villefort zugewandt.

»Verehrte Frau, ich wollte nur daran erinnern, nicht zu vergessen, mich am Sonnabend mit Ihrer Gegenwart zu beehren.«

»Wir freuen uns, Ihr entzückendes Landhaus näher kennenzulernen«, sagte Frau von Villefort.

»Wo liegt es doch?« fragte der Gatte.

»In Auteuil, Rue de la Fontaine Nr. 30.«

Villeforts Antlitz verzerrte sich: »Rue de la...«

»Ich lasse keine Absage gelten«, scherzte der Graf.

»Natürlich, natürlich,« stotterte Villefort, »wir werden nicht verfehlen...«

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo