Dem armen Reeder schien in dem Augenblick, wo er es am wenigsten erwartete, jener von dem Geschäftsträger

Dem armen Reeder schien in dem Augenblick, wo er es am wenigsten erwartete, jener von dem Geschäftsträger des Hauses Thomson & French bewilligte Aufschub einer von jenen Glücksfällen, welche dem Menschen anzeigen, daß das Geschick endlich müde sei, ihn zu verfolgen. An demselben Tage erzählte er seiner Frau, seiner Tochter und seinem künftigen Schwiegersohn, was ihm widerfahren, und wenn auch nicht Ruhe, so kehrte doch Hoffnung in die Familie zurück. Aber unglücklicherweise hatte Morrel nicht bloß mit dem Hause Thomson & French Geschäfte abzutun, welche sich für ihn so günstig erwiesen. Wie er es gesagt hatte: im Handel hat man wohl Korrespondenten, aber keine Freunde. Als er darüber nachsann, begriff er nicht einmal jenes edelmutige Benehmen der Herren Thomson & French und erklärte sich dasselbe nicht anders, als vermittels jener egoistisch vernünftigen Betrachtungen, welche dieses Haus angestellt haben mußte. Besser ist es, einen Menschen, der uns bei dreihunderttausend Franken schuldig ist, zu unterstützen und nach drei Monaten diese dreihunderttausend Franken zu besitzen, als seinen Untergang zu beschleunigen und nur sechs oder acht Prozent des Kapitals zu erhalten. Unglücklicherweise, war es nun aus Haß oder Blindheit, stellten nicht alle Korrespondenten Morrels dieselbe Betrachtung an, und einige taten gerade das Gegenteil. Die von Morrel unterzeichneten Wechsel wurden also bei der Kasse mit gewissenhafter Genauigkeit präsentiert, und man verdankte es dem von dem Engländer bewilligten Aufschübe, daß der Kassierer sie auszahlen konnte. So merkte niemand, wie es in Wahrheit stand, nur Morrel allein sah mit Schrecken, daß er, wenn er am Fünfzehnten die hunderttausend Franken des Herrn von Boville und am Dreißigsten die zweiunddreißigtausend Franken, für die er, sowie für die Schuld an den Gefangnisverwalter, einen Aufschub hatte, auszahlen müßte, er von diesem Monat an ein zugrunde gerichteter Mann sei.

Unter den Handelsleuten von Marseille war die Meinung vorherrschend, Morrel könne sich unter den rasch aufeinanderfolgenden Unglücksfällen, die über ihn hereinstürmten, nicht halten. Groß war also das Erstaunen, als man seinen Monatsabschluß mit der gewöhnlichen Genauigkeit erfüllt sah. Indes kehrte deshalb das Vertrauen noch nicht in die Gemüter zurück, und man verschob einstimmig die Bilanzniederlegung des unglücklichen Kaufherrn auf den nächsten Monatsschluß.


Der ganze Monat verging unter unerhörten Anstrengungen von seiten Morrels, um alle seine Mittel zu vereinigen. Ehemals nahm man, ohne sich weiter zu erkundigen, seine Papiere zutrauensvoll, mochte das Datum irgendwie lauten. Morrel versuchte, mit Wechseln auf neunzig Tage Geschäfte zu machen, aber alle Kassen verschlossen sich ihm. Glücklicherweise hatte Morrel selbst einige Einkünfte, worauf er rechnen konnte; diese Einkünfte kamen. Nochmals befand sich also Morrel in der Lage, seinen Geschäften Genüge zu leisten, als das Ende des Monats Juli herbeikam. Übrigens hatte man den Geschäftsträger des Hauses Thomson & French zu Marseille nicht wieder gesehen. Am ersten oder zweiten Tage nach dem bei Morrel gemachten Besuche verschwand er; da er nun zu Marseille nur mit dem Maire, Herrn Morrel und dem Gefängnisverwalter zu tun gehabt, so hatte seine Anwesenheit keine andere Spur hinterlassen als das verschiedene Andenken, das diese drei Männer von ihm bewahrten. Was die Matrosen des »Pharaon« betrifft, so schien es, daß sie irgendwo in Dienst getreten seien, denn auch sie waren verschwunden. Der Monat August verging mit stets wiederholten Versuchen von seiten Morrels, seinen früheren Kredit wiederzuerlangen oder sich neuen zu erwerben. Man wußte zu Marseille, daß er am 20. August einen Platz auf der Briefpost genommen, und flüsterte sich demnach in die Ohren, es wäre also gegen Ende des laufenden Monats, wo er die Bilanz niederlegen werde, und Morrel sei im voraus abgereist, um bei diesem traurigen Geschäft, welches er ohne Zweifel seinem ersten Kommis Emanuel und Corles überlassen, nicht zugegen zu sein. Aber wider alle Erwartung wurde die Kasse am 31. August wie gewöhnlich geöffnet. Corles erschien hinter dem Gitter, ruhevoll wie der Gerechte des Horaz, prüfte mit derselben Aufmerksamkeit die Papiere, welche man ihm präsentierte, und zahlte von Anfang bis zu Ende alles mit derselben Genauigkeit aus. Man wußte nicht mehr, was man davon halten sollte, und man verschob mit der übelweissagenden Propheten eigentümlichen Hartnäckigkeit den Konkurs auf das Ende des Monats September.

Am Ersten kam Morrel an; mit großer Angst ward er von seiner ganzen Familie erwartet; von dieser seiner Reise nach Paris hing sein letztes Heil ab. Morrel hatte an Danglars, heute Millionär und ehemals ihm verschuldet, gedacht, da auf Morrels Anempfehlung Danglars in den Dienst des spanischen Bankiers getreten war, bei dem er den Grund zu seinem ungeheuren Vermögen gelegt hatte. Wie es hieß, besaß Danglars jetzt fünf bis sechs Millionen als Eigentum und einen unbegrenzten Kredit; Danglars konnte Morrel retten, ohne nur einen Taler aus der Tasche zu nehmen; er durfte nur für ein Darlehn bürgen, und Morrel war gerettet. Seit lange schon hatte Morrel an Danglars gedacht; aber es gibt eine so instinktmäßige Scheu, deren man nicht Meister werden kann. Morrel hatte solange als möglich gezaudert, zu diesem letzten Mittel seine Zuflucht zu nehmen. Und Morrel hatte recht gehabt, denn er war von der Schmach einer Abweisung erniedrigt zurückgekehrt.

Auch hörte man von ihm bei seiner Rückkehr nicht die geringste Klage oder Gegenbeschuldigung. Weinend umarmte er seine Frau und Tochter, reichte Emanuel die Freundeshand, schloß sich in sein Kabinett im zweiten Stock ein und ließ seinen treuen Kassierer rufen.

»Diesmal«, sagten beide Frauen, »sind wir verloren.« Dann kam man in einer kurzen unter ihnen gehaltenen Beratung überein, daß Julie ihrem Bruder, der zu Nimes in Garnison stand, schreiben sollte, alsogleich hier einzutreffen. Die armen Frauen fühlten, daß sie ihrer ganzen Kraft bedurften, um den Schlag auszuhalten, der sie bedrohte. Übrigens hatte Maximilian, obgleich erst zweiundzwanzig Jahre alt, schon großen Einfluß auf seinen Vater. Er war ein gesetzter und gerader Junge. Als es galt, eine Laufbahn zu wählen, wollte ihm sein Vater nicht von vornherein seine Zukunft aufbürden und überließ dies Maximilians Neigung. Dieser hatte demzufolge erklärt, er wolle in Waffendienste treten; demgemäß machte er vorzügliche Studien, besuchte die polytechnische Schule und kam als Unterleutnant in das 53. Linienregiment. Seit einem Jahre bekleidete er diese Charge und hatte Hoffnung, bei der ersten Gelegenheit zum Leutnant ernannt zu werden. Im Regiment war Maximilian als strenger Beobachter nicht nur aller dem Soldaten, sondern auch aller dem Menschen auferlegten Pflichten bekannt, und man nannte ihn nie anders als den Stoiker. Freilich wiederholten viele, die ihm den Beinamen gaben, diesen nur dem Hörensagen nach und wußten nicht einmal, was er bedeute. Dies war der junge Mann, den Mutter und Tochter in der traurigen Lage, in der sie sich befanden, zu Hilfe riefen. Sie hatten sich ihre traurige Stellung nicht verhehlt, denn bald nachdem Herr Morrel mit seinem Kassierer, dem alten, treuen Torles, in sein Kabinett gegangen war, sah Julie den letzteren bleich, zitternd und mit verstörtem Gesicht wieder herausgehen. Als er an ihr vorüberging, wollte sie ihn fragen, aber der wackere Mann ging mit rascher Eile die Stiege hinab, was sonst nie seine Gewohnheit war, und begnügte sich, mit himmelwärts gestreckten Armen auszurufen:

»Oh, mein Fräulein! Mein Fräulein! Welch gräßliches Unglück! Und wer hätte das je geglaubt!« Einen Augenblick später sah ihn Julie mit zwei oder drei großen Registern, einer Brieftasche und einem Geldsack hinaufsteigen. Morrel untersuchte die Register, öffnete die Brieftasche und zählte das Geld. Alle seine Mittel beliefen sich auf sechs- oder achttausend Franken, was höchstens einen Aktivbestand von vierzehntausend Franken ausmachte, um einem Wechsel von zweihundertsiebenundachtzigtausendfünfhundert Franken Genüge zu leisten. Es war nicht möglich, einen solchen Abschlag zu bieten.

Indessen schien Herr Morrel, als er zum Speisen herabkam, ziemlich beruhigt. Diese Ruhe erschreckte die beiden Frauen mehr, als es die tiefste Niedergeschlagenheit hätte tun können. Nachmittags pflegte Herr Morrel auszugehen; er trank seinen Kaffee im Zirkus der Pheräer und las den »Sémaphore«; an jenem Tage ging er nicht aus und kehrte in sein Schreibzimmer zurück.

Torles schien gänzlich erschöpft. Einen Teil des Tages über hielt er sich im Hofe auf, bei einer Hitze von dreißig Grad mit unbedecktem Haupt auf einem Stein sitzend.

Emanuel suchte die Frauen zu beruhigen, war aber selbst beunruhigt. Der junge Mann war zu sehr in die Geschäfte des Hauses eingeweiht, um nicht zu ahnen, daß der Familie Morrel eine große Katastrophe bevorstand. Die Nacht kam; die beiden Frauen hatten gewacht, in der Hoffnung, Morrel werde, wenn er von seinem Kabinett herabkäme, bei ihnen eintreten; aber sie hörten ihn an ihrer Tür vorbeigehen, indem er leise auftrat, ohne Zweifel aus Furcht, gerufen zu werden. Sie horchten, er kehrte auf sein Zimmer zurück und schloß seine Tür von innen zu.

Frau Morrel schickte ihre Tochter zu Bett; dann, nach einer halben Stunde, nachdem sich Julie zurückgezogen, stand sie auf, zog ihre Schuhe aus und schlich in den Gang, um durch das Schlüsselloch zu sehen, was ihr Gemahl tue. Im Gange bemerkte sie einen Schatten, der zurückwich. Julie war's, die, selbst unruhig, ihrer Mutter zuvorgekommen war. Das Mädchen ging auf Frau Morrel zu.

»Er schreibt«, sprach sie.

Beide Frauen errieten gegenseitig ihre Worte.

Wirklich schrieb Morrel; was aber ihre Tochter nicht bemerkte, das bemerkte Frau Morrel, nämlich, daß ihr Mann auf gestempeltem Papier schreibe. Es kam ihr der schreckliche Gedanke, er mache sein Testament; sie schauderte am ganzen Leibe, und dennoch hatte sie noch Kraft genug, kein Wort zu sagen.

Am andern Tage schien Herr Morrel ganz ruhig; er hielt sich wie gewöhnlich in seiner Schreibstube auf und kam wie gewöhnlich zum Frühstück herab; nur nach dem Mittagsmahl ließ er seine Tochter neben sich setzen, nahm des Kindes Kopf in die Arme und hielt ihn lange an seine Brust gepreßt. Abends sagte Julie zu ihrer Mutter, daß sie, obgleich ihr Vater scheinbar ganz ruhig war, bemerkt habe, wie sein Herz heftig schlug. Die beiden Tage vergingen auf fast gleiche Weise. Am Abend des 4. September begehrte Herr Morrel den Schlüssel des Kabinetts von seiner Tochter zurück.

Julie schauderte bei diesem Wunsch, der ihr unheilvoll schien. Warum verlangte der Vater jenen Schlüssel von ihr, den sie immer gehabt und den man ihr in ihrer Kindheit nur dann wegnahm, wenn man sie strafen wollte. Das junge Madchen betrachtete Herrn Morrel.

»Was habe ich denn getan, mein Vater, daß Sie mir diesen Schlüssel wegnehmen?« sprach sie.

»Nichts, mein Kind,« antwortete der unglückliche Morrel, dem diese einfache Frage Tränen in die Augen trieb, »nichts, ich brauche ihn nur.«

Julie tat, als suche sie den Schlüssel.

»Ich werde ihn auf meinem Zimmer gelassen haben«, sprach sie.

Und sie ging hinaus; anstatt aber auf ihr Zimmer zu gehen, stieg sie hinab und lief zu Emanuel, um ihn um Rat zu fragen.

»Geben Sie diesen Schlüssel Ihrem Vater nicht,« sprach dieser, »und morgen früh, wenn es möglich ist, gehen Sie ihm nicht von der Seite.«

Sie drang in Emanuel, aber dieser wußte entweder nicht mehr oder wollte nicht mehr sagen.

Während der ganzen Nacht vom 4. auf den 5. September verharrte Frau Morrel in Angst und Sorgen. Bis drei Uhr morgens hörte sie ihren Mann heftig auf und ab schreiten; um drei Uhr erst warf er sich auf sein Bett. Die beiden Frauen verbrachten die Nacht beisammen. Seit gestern abend erwarteten sie Maximilian. Um acht Uhr trat Herr Morrel in ihr Zimmer; er war ruhig, aber auf seinem aufgeregten und verstörten Gesicht sah man die Spuren der durchwachten Nacht. Die Frauen wagten es nicht, ihn zu fragen, ob er wohl geruht. Morrel war weicher gegen seine Frau und väterlicher gegen seine Tochter als je; er konnte sich nicht satt an seinem armen Kinde sehen, er konnte es nicht genug umarmen.

Julie vergaß Emanuels Auftrag nicht und wollte ihrem Vater, als er hinausging, folgen, aber dieser sprach, sie sanft zurückhaltend:

»Bleib bei deiner Mutter.«

Julie wollte darauf bestehen.

»Ich will es so«, sprach Morrel.

Dies war das erstemal, daß Morrel zu seiner Tochter sagte: »Ich will es so«, aber er sprach es in einem so von väterlicher Milde durchdrungenen Tone, daß Julie keinen Schritt vorwärts wagte. Sie blieb auf derselben Stelle aufrecht, unbeweglich und stumm stehen. Kurz darauf ging die Tür auf, und sie fühlte zwei Arme, die sie umfaßten, und zwei Lippen, die sich an ihre Stirn preßten. Sie schlug die Augen auf, stieß einen Schrei der Freude aus und rief: »Maximilian! Mein Bruder!«

Auf diesen Schrei kam Frau Morrel und warf sich ihrem Sohne in die Arme.

»Mutter!« sprach der junge Mann, abwechselnd Frau Morrel und ihre Tochter betrachtend. »Was gibt es denn und was geht hier vor? Ihr Brief entsetzte mich und ich eilte hierher.«

»Julie,« sprach Frau Morrel, dem jungen Mann winkend, »gehe und sage deinem Vater, daß Maximilian hier ist.«

Das junge Mädchen eilte aus dem Zimmer, aber auf der ersten Stiegenstufe traf sie einen Mann, der einen Brief in der Hand hielt.

»Sind Sie nicht das Fräulein Julie Morrel?« sprach jener Mann mit merklich italienischem Akzent.

»Ja, mein Herr«, antwortete Julie stotternd. »Aber was wollen Sie von mir, ich kenne Sie nicht.«

»Lesen Sie«, sprach der Mann, ihr einen Brief reichend. Julie zauderte.

»Es handelt sich darin um Ihres Vaters Heil«, sprach der Überbringer.

Das Mädchen riß ihm den Brief aus den Händen, erbrach ihn rasch und las:

»Begeben Sie sich alsogleich in die Alleen von Meillan; gehen Sie in das Haus Nr. 15; begehren Sie von dem Hausmeister den Schlüssel des fünften Stockwerks; nehmen Sie von der Kaminecke eine rotseidene genetzte Börse und bringen Sie diese Börse Ihrem Vater. Es ist dringend, daß er sie vor elf Uhr erhält. Sie haben mir versprochen, mir blind zu gehorchen, ich erinnere Sie daran. Sindbad, der Seefahrer.«

Das junge Mädchen stieß einen Schrei der Freude aus, erhob die Blicke, suchte den Mann, der ihr den Brief überbracht hatte, um ihn zu befragen, er war aber schon verschwunden. Hierauf betrachtete sie wieder den Brief, um ihn zum zweiten Male zu lesen, und bemerkte, daß eine Nachschrift angehängt war; sie las:

»Es ist wichtig, daß Sie persönlich und allein diesen Auftrag vollziehen; kämen Sie in Begleitung oder käme ein anderer, so würde der Hausmeister antworten, er wisse nicht, ob es dann seine Richtigkeit habe.«

Diese Nachschrift war für die Freude des jungen Mädchens eine wirksame Abkühlung, hatte sie nichts zu befürchten? War es nicht irgendeine Falle, die man ihr stellte? Ihre Harmlosigkeit ließ nicht zu, daß sie an die Gefahren dachte, welche ein Mädchen in ihrem Alter laufe; sogar eines muß noch bemerkt werden, daß gerade unbekannte Gefahren den größten Schrecken verursachen. Julie zögerte, sie faßte den Entschluß, um Rat zu fragen, aber ein sonderbares Gefühl trieb sie, nicht bei ihrem Bruder, nicht bei ihrer Mutter sich Rat zu holen, sondern bei Emanuel. Sie ging hinab, erzählte ihm, was ihr an dem Tage, als der Geschäftsträger des Hauses Thomson & French zu ihrem Vater gekommen war, begegnet sei; sie erzählte ihm die Szene auf der Stiege, wiederholte ihm ihr gemachtes Versprechen und zeigte ihm den Brief.

»Sie müssen hingehen, Fräulein«, sprach Emanuel.

»Hingehen?« flüsterte Julie.

»Ja, ich werde Sie begleiten.«

»Haben Sie denn nicht gelesen, daß ich allein sein soll«, sprach sie.

»Sie werden es auch sein,« antwortete der junge Mann, »aber ich werde Sie an der Ecke der Museumstraße erwarten, und wenn Sie so lange ausbleiben sollten, daß ich für Sie fürchten müßte, dann werde ich mich zu Ihnen begeben, und ich stehe Ihnen dafür: Wehe denen, über die Sie sich zu beklagen haben.«

»Also, Emanuel,« versetzte das Mädchen zaudernd, »sind Sie der Meinung, ich solle diesem Winke folgen?«

»Ja. Hat Ihnen der Überbringer nicht gesagt, es handle sich um Ihres Vaters Heil?«

»Aber was für eine Gefahr läuft er denn?« fragte das Mädchen.

Emanuel zauderte einen Augenblick, doch der Wunsch, das Mädchen auf einmal und ohne Zeitverlust zu bewegen, riß ihn fort.

»Hören Sie,« sprach er zu ihr, »heute ist der 5. September?«

»Ja.«

»Heute um elf Uhr muß Ihr Vater beinahe dreihunderttausend Franken auszahlen.«

»Ja, wir wissen es.«

»Nun denn,« sprach Emanuel, »er hat kaum vierzehntausend Franken in der Kasse.«

»Was wird da geschehen?«

»Wenn Ihr Vater heute vor elf Uhr nicht jemanden findet, der ihm behilflich ist, so wird er um zwölf Uhr fallieren müssen.«

»Oh, kommen Sie!« rief das jugendliche Mädchen, den jungen Mann mit sich fortziehend.

Indessen hatte Frau Morrel ihrem Sohn alles erzählt. Wohl wußte der junge Mann, daß nach den aufeinanderfolgenden Unglücksfällen, die seinen Vater betrafen, bedeutende Einschränkungen in den Hausausgaben gemacht wurden, aber das wußte er nicht, daß es schon so weit gekommen. Er blieb wie vernichtet; dann eilte er plötzlich aus dem Zimmer, sprang die Stiege hinauf, denn er glaubte, sein Vater sei im Kabinett, aber er klopfte vergeblich an. Als er an der Kabinettstür war, hörte er die Zimmertür öffnen; er wandte sich um und sah seinen Vater. Anstatt geradeswegs in sein Kabinett hinaufzugehen, war Herr Morrel in sein Zimmer gegangen und kam erst jetzt heraus. Herr Morrel stieß einen Schrei der Überraschung aus, als er Maximilian sah. Unbeweglich blieb er an derselben Stelle stehen, mit seiner linken Hand etwas haltend, das er unter seinem Rock versteckte. Maximilian stieg schnell die Stiege hinab und hing sich seinem Vater an den Hals; aber plötzlich wich er zurück, bloß seine rechte Hand auf Morrels Brust drückend.

»Mein Vater,« sprach er, bleich wie der Tod, »warum verbergen Sie denn ein Paar Pistolen unter Ihrem Rock?«

»Oh, das war's, was ich befürchtete!« sprach Morrel.

»Mein Vater, mein Vater, um des Himmels willen, wozu diese Waffen?« rief der junge Mann.

»Maximilian,« erwiderte Morrel, starr seinen Sohn ansehend, »du bist ein Mann und ein Ehrenmann, komm, ich werde es dir sagen.«

Und festen Schrittes ging Morrel in sein Kabinett hinauf, während Maximilian ihm wankend folgte. Morrel öffnete die Tür und verschloß sie hinter seinem Sohn, dann ging er durch das Vorzimmer, näherte sich dem Schreibzimmer, legte seine Pistolen auf den Tisch nieder und zeigte seinem Sohn mit dem Finger ein offenes Register. Auf diesem Register stand genau der Zustand seiner Lage verzeichnet: in einer halben Stunde sollte Morrel zweihundertsiebenundachtzigtausendfünfhundert Franken bezahlen. Im ganzen aber besaß er nur fünfzehntausendzweihundertsiebenundfünfzig Franken.

»Lies«, sprach Morrel.

Der junge Mann las und war einen Augenblick lang wie zerschmettert. Morrel sprach kein Wort; was hätte er sagen können, das der unerbittlichen Zeugenschaft der Ziffern widersprochen hätte?

»Und Sie haben alles getan, mein Vater,« sprach darauf der junge Mann, »um diesem Unglück zu begegnen?«

»Ja«, antwortete Morrel.

»Sie haben auf gar keine Einkunft zu hoffen?«

»Auf keine.«

»Sie haben alle Ihre Hilfsquellen erschöpft?«

»Alle.«

»Und in einer halben Stunde«, fügte Maximilian hinzu, »ist unser Name entehrt?«

»Das Blut wäscht die Schmach ab«, sprach Morrel.

»Sie haben recht. Vater, und ich verstehe Sie«, sagte er. Dann nach den Pistolen langend, sprach er: »Eine für mich und eine für Sie!« Morrel hielt seine Hand zurück.

»Und deine Mutter... und deine Schwester... wer wird sie ernähren?«

Ein Schauer durchbebte den ganzen Leib des jungen Mannes.

»Mein Vater,« sprach er, »bedenken Sie auch, daß Sie mich leben heißen?«

»Ja, ich heiße es dich,« versetzte Morrel, »denn es ist deine Pflicht; du hast ein ruhiges und starkes Gemüt, Maximilian, du bist kein gewöhnlicher Mensch, ich befehle dir nichts, ich verbinde dich zu nichts, nur sage ich dir: Prüfe die Lage, als ob du ihr fremd wärest, und urteile selber.«

Der junge Mann sann eine Weile nach, dann flammte in seinen Blicken ein Ausdruck erhabener Ergebung empor; nun legte er langsam und traurig seine Epaulette und Kontreepaulette, die Zeichen seines Ranges, ab.

»Gut,« sprach er, Morrel die Hand reichend, »sterben Sie in Frieden, Vater, ich werde leben.«

Morrel machte eine Bewegung, als wollte er sich seinem Sohne zu Füßen werfen. Maximilian zog ihn an seine Brust, und diese beiden edlen Herzen schlugen einen Augenblick aneinander.

»Du weißt, daß ich nichts dafür kann«, sprach Morrel.

Maximilian lächelte.

»Ich weiß, mein Vater, daß Sie der ehrenhafteste Mann sind, den ich je kannte.«

»Gut, alles ist aus; kehre jetzt zu deiner Mutter und Schwester zurück.«

»Vater,« sprach der junge Mann niederkniend, »segnen Sie mich!«

Morrel nahm den Kopf seines Sohnes in beide Hände, zog ihn an sich, und mehrmals seine Lippen auf seine Stirn pressend, sprach er: »O ja, ja! Ich segne dich in meinem Namen und im Namen dreier Geschlechter von unbescholtenen Männern. Höre denn, was sie dir, aus meinem Munde redend, sagen: Das Gebäude, das das Unglück zusammenstürzt, kann die Vorsehung wieder aufbauen. Wenn sie mich eines solchen Todes werden haben sterben sehen, werden die Härtesten Mitleid für mich fühlen; dir gestattet man vielleicht die Frist, die man mir verweigerte; dann sieh, daß das Wort ›ehrlos‹ nicht gesagt werde; geh ans Werk, arbeite, junger Mensch, kämpfe heiß und mutig; lebt, du, deine Mutter und Schwester, lebt von dem Allnotwendigsten, damit sich mit jedem Tage das Gut derer, denen ich schuldig bin, vermehre und in deinen Händen fruchtbar werde. Bedenke, daß es ein großer, feierlicher, schöner Tag sein wird, jener Tag der Wiedereinsetzung, der Tag, wo du in derselben Schreibstube sagen wirst: ›Mein Vater starb, weil er nicht tun konnte, was ich heute tue, aber er starb ruhig und still, weil er im Tode wußte, daß ich es tun werde!‹«

»O mein Vater! Wenn Sie dennoch leben könnten?« rief der junge Mann.

»Wenn ich lebe, ist alles verloren; wenn ich lebe, wird das Interesse zum Zweifel, das Mitleid zur Verfolgung; wenn ich lebe, bin ich nichts als ein Mann, der sein Wort gebrochen, der seine Verpflichtungen nicht erfüllt hat, bin ich nichts weiter als ein Bankrotteur. Sterbe ich im Gegenteil, Maximilian, bedenke, so ist mein Leichnam doch wenigstens der eines unglücklichen Ehrenmannes. Wenn ich lebe, so fliehen meine besten Freunde mein Haus, sterbe ich, so folgt mir ganz Marseille weinend zu meiner letzten Behausung. Lebe ich, so mußt du über meinen Namen erröten, sterbe ich, so trägst du frei dein Haupt einher und sagst: ›Ich bin der Sohn desjenigen, der sich das Leben nahm, weil er zum ersten Male gezwungen war, sein Wort zu brechen.‹«

Der junge Mann seufzte, schien aber nachgiebig. Zum zweiten Male durchdrang die Überzeugung nicht sein Herz, aber seinen Geist.

»Und jetzt«, sprach Morrel, »laß mich allein und suche die Frauen fernzuhalten.«

»Wollen Sie meine Schwester nicht wiedersehen?« fragte Maximilian. Eine letzte und dumpfe Hoffnung lag in diesem Wiedersehen für den jungen Mann verborgen, daher schlug er es vor.

Herr Morrel schüttelte den Kopf.

»Ich sah sie heute morgen«, sprach er, »und sagte ihr Lebewohl.«

»Haben Sie mir keine besonderen Aufträge zu geben, mein Vater?« fragte Maximilian mit erregter Stimme.

»Ja, mein Sohn, einen unverbrüchlichen Auftrag.«

»Reden Sie, Vater!«

»Das Haus Thomson & French ist das einzige, das sich aus Barmherzigkeit, Egoismus vielleicht -- doch mir steht es nicht zu, in den Herzen der Menschen zu lesen -- meiner erbarmte. Des Hauses Geschäftsträger, derselbe, der sich in zehn Minuten präsentieren wird, um den Betrag von zweihundertsiebenundachtzigtausendfünfhundert Franken zu fordern, hat mir die Frist von drei Monaten, ich sage nicht bewilligt, sondern angeboten; dieses Haus werde zuerst bezahlt, mein Sohn, dieser Mann sei geheiligt für dich.«

»Ja, mein Vater«, sprach Maximilian.

»Und jetzt nochmals Lebewohl,« sprach Morrel, »geh, geh, ich muß allein sein, im Sekretär meines Schlafzimmers wirst du mein Testament finden.«

Der junge Mann stand aufrecht und regungslos da, nur eine Kraft besitzend: die des Willens, nicht aber der Tat.

»Höre mich, Maximilian,« sprach der Vater, »nimm an, ich wäre Soldat wie du, ich hätte Befehl erhalten, eine Redoute zu nehmen, und du wüßtest, ich müsse sterben, indem ich sie nehme; würdest du mir nicht sagen, was du mir soeben sagtest: ›Gehen Sie, Vater, Sie entehrten sich, wenn Sie blieben, und besser ist der Tod als die Schande!‹«

»Ja ja.« sprach der junge Mann, »ja.«

Und krampfhaft Morrel mit den Armen umschlingend, sprach er: »Gehen Sie, mein Vater.«

Und er verließ das Kabinett.

Als sein Sohn draußen war, blieb Morrel einen Augenblick stehen und heftete die Blicke auf die Tür, dann streckte er die Hand aus, ergriff eine Glockenschnur und läutete. Augenblicklich kam Corles. Der war nicht mehr derselbe Mensch, diese drei Tage der Gewißheit hatten ihn gebrochen. Dieser Gedanke: das Haus Morrel wird seine Zahlungen einstellen, drückte ihn mehr zu Boden, als es zwanzig andere über seinen Scheitel gehäufte Jahre getan hätten.

»Mein guter Corles,« sprach Morrel in einem Tone, dessen Ausdruck sich unmöglich beschreiben läßt, »du wirst im Vorzimmer bleiben. Wenn jener Herr, der schon vor drei Monaten hier war, kommt, du weißt doch, der Geschäftsträger des Hauses Thomson & French, so melde ihn an.«

Corles gab keine Antwort; er nickte bloß mit dem Kopf, setzte sich im Vorzimmer nieder und wartete. Morrel fiel auf seinen Stuhl zurück, seine Blicke schauten nach der Uhr; es blieben ihm noch sieben Minuten, nicht mehr; der Zeiger ging mit unglaublicher Schnelligkeit; es schien ihm, als sähe er ihn gehen. Was dann und in diesem letzten Moment in dem Gemüt dieses Menschen vorging, der noch rüstig, infolge einer vielleicht falschen, aber scheinbar richtigen Schlußreihe, im Begriff war, sich von allem loszureißen, was er auf der Welt geliebt, und das Leben verließ, das ihm alle sanften Freuden des Familienlebens bot, ist unmöglich zu schildern. Man hätte es sehen müssen, um sich einen Begriff davon zu machen, man hätte seine schweißbedeckte und doch ergebene Stirn, seine tränenfeuchten und dennoch himmelan gewendeten Augen sehen müssen.

Der Zeiger schritt immer weiter vor; die Pistolen waren geladen; er streckte die Hand aus, nahm eine und flüsterte den Namen seiner Tochter; dann legte er wieder die tödliche Waffe weg, nahm eine Feder und schrieb einige Worte. Da schien es ihm dann, als hätte er von seinem geliebten Kinde nicht genug Abschied genommen; dann wandte er sich wieder um und schaute auf die Uhr -- nicht nach Minuten zählte er mehr, sondern nach Sekunden. Er ergriff die Waffe mit halboffenem Munde und nach der Uhr starrenden Blicken; dann erbebte er selber vor dem Geräusch, das er machte, indem er den Hahn spannte. In diesem Augenblick rann ihm noch kälterer Schweiß über die Stirn, noch tödlichere Angst schnürte ihm das Herz zusammen; er hörte die Treppentür in ihren Angeln knarren, dann die seines Kabinetts aufspringen; die Uhr war auf dem Punkte, elf zu schlagen.

Morrel wandte sich nicht um, er erwartete die Worte des Corles: »Der Geschäftsträger des Hauses Thomson & French«, und er hielt die Waffe an den Mund ... Plötzlich hörte er einen Schrei ... es war der seiner Tochter ... Er wandte sich um und sah Julie -- die Pistole entfiel seinen Händen.

»Mein Vater!« rief das Mädchen außer Atem und fast sterbend vor Freude: »Gerettet! Sie sind gerettet!«

Und sie warf sich ihm in die Arme, eine aus roter Seide genetzte Börse in die Höhe haltend.

»Gerettet, mein Kind?« sprach Morrel. »Was willst du sagen?«

»Ja, gerettet! Sehen Sie, sehen Sie«, sprach das Mädchen.

Morrel nahm die Börse und erbebte, denn eine unbestimmte Erinnerung erwachte in ihm, als hätte diese Börse einst ihm gehört. Auf der einen Seite war der Wechsel, auf die zweihundertsiebenundachtzigtausendfünfhundert Franken lautend -- er war bereits bezahlt; auf der andern war ein Diamant von der Größe einer Haselnuß, mit folgenden zwei auf ein Stück Pergament geschriebenen Worten:

»Juliens Mitgift.«

Morrel fuhr mit der Hand über seine Stirn; er glaubte zu träumen. In diesem Augenblick schlug die Uhr elf. Der Glockenschlag ertönte ihm, als ob jeder Schlag des Stahlhammers sein eigenes Herz träfe.

»Laß sehen, mein Kind,« sprach er, »und sage mir, wo fandest du diese Börse?«

»In einem Hause in den Alleen von Meillan, Nummer 15, in einem armseligen Zimmer auf dem Kamin.«

Morrel drehte die Börse hin und her, und seine Brust hob und senkte sich schwer.

»Herr Morrell« rief eine Stimme auf der Treppe. »Herr Morrell Der ›Pharaon‹! Der ›Pharaon‹! Herr, man signalisiert den ›Pharaon‹! Der ›Pharaon‹ läuft in den Hafen ein!«

Herr Morrel sank auf seinen Stuhl zurück, die Kräfte versagten ihm; sein Verstand vermochte nicht, all diese unglaublichen, fabelhaften Ereignisse zu fassen.

»Herr, du mein Gott!« rief er fassungslos. »Geschehen denn noch Wunder?«

Bald aber befand er sich, von den Seinen begleitet, auf der Cannabière. Eine große Menschenmenge drängte zum Hafen. Ehrerbietig machte man Herrn Morrel Platz.

»Der ›Pharaon‹, der ›Pharaon‹!« schrie alles durcheinander.

In der Tat: gegenüber dem Turme St. Johann lief ein Schiff ein, groß und stattlich. Vorn prangte in weißer Schrift: »Der Pharaon, Morrel & Sohn in Marseille.« An Bord aber grüßte die alte Mannschaft, die Morrel hatte entlassen müssen. Und dieser »Pharaon« war wie der andere mit Cochenille und Indigo befrachtet. Morrel stand mit gefalteten Händen. Träumte er, so träumten die zehntausend Menschen um ihn herum mit ihm. Als Morrel und sein Sohn sich auf dem Hafendamm, unter dem Jubel der ganzen Stadt, in die Arme fielen, betrachtete ein Mann, dessen Gesicht zur Hälfte ein schwarzer Bart verdeckte und der hinter dem Schilderhause einer Wache verborgen war, diese Szene und murmelte: »Lieber, prächtiger Mann du, sei gesegnet für all das Gute, das du geübt hast und noch üben wirst, und möge meine Dankbarkeit in Dunkel gehüllt bleiben wie deine Wohltaten.«

Darauf wandte er sich und stieg eine der kleinen Anlegetreppen hinab und rief dreimal: »Jacopo! Jacopo! Jacopo!«

Hierauf näherte sich eine Schaluppe, nahm ihn an Bord und trug ihn zu einer reich besegelten Jacht, auf deren Deck er mit der Leichtigkeit eines Matrosen hinaufsprang; von da aus schaute er nochmals zu Morrel hinüber, der es nicht vermochte, alle Händedrücke zu erwidern, und mit feuchtem Blicke jenem unbekannten Wohltäter dankte, den er im Himmel zu suchen schien.

»Und jetzt«, sprach der Unbekannte, »lebt wohl, Güte, Menschenliebe, Dankbarkeit; lebt wohl, all ihr Gefühle, die ihr das Herz beglückt! Jetzt stehe mir der Rachegott bei, die Bösen zu strafen.«

Bei diesen Worten gab er ein Zeichen, und als ob die Jacht nur dies Signal erwartet hätte, stach sie sogleich in See.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo