Dantes machte alle Stadien der Verzweiflung durch, in die ein Mensch, der auf so furchtbare Art seiner Freiheit beraubt wird,

Dantes machte alle Stadien der Verzweiflung durch, in die ein Mensch, der auf so furchtbare Art seiner Freiheit beraubt wird, verfallen muß.

Zuerst hielt ihn sein Stolz aufrecht, das Bewußtsein der völligen Schuldlosigkeit. Er klammerte sich krampfhaft an die Hoffnung und wartete Stunden, Tage Wochen, Monate in heißem Ringen. Raserei und Wutanfälle wechselten mit innigster Gottergebenheit. Dann begann er an seinem Verstande zu zweifeln und ersehnte den Tod. Standhaft verweigerte er alle Nahrung und lag nun bereits erschöpft im halben Dämmerzustand auf seinem harten Lager, der Erlösung harrend.


Plötzlich hörte er ein merkwürdiges Geräusch in der Wand, an der sein Bett stand. Eine unsinnige Freude überfiel den Kranken, in dem alle Lebensgeister aufs neue erwachten. Er hob den Kopf, um besser horchen zu können. Da er fühlte, wie schwach er bereits war, nahm er gierig einige Bissen zu sich.

Er hatte sich nicht getäuscht: es klang wie das Kratzen einer ungeheuren Klaue, wie ein Scharren mit einem breiten Instrument.

Edmond schlug das Herz bis zum Halse. »Ha,« frohlockte er, »ich will Antwort geben. Ist's ein Arbeiter, so wird er ein Weilchen aufhorchen, weshalb und woher die Klopfzeichen kommen. Ist's ein Gefangener, so wird er erschrecken und vielleicht erst des Abends wieder beginnen.«

Vorsichtig nahm er einen durch die Feuchtigkeit losgelösten Stein aus der Mauer und schlug damit dreimal gegen die Wand, an der das Geräusch am vernehmbarsten gewesen. Wie auf ein Zauberwort verstummte das Geräusch.

»Das ist ein Gefangener?« jauchzte Edmond in unaussprechlicher Freude. Er brachte die Nacht schlaflos zu, doch es erfolgte nichts weiter. Drei Tage hindurch blieb alles still, dann ließ sich von neuem ein kaum merkliches Gerausch vernehmen.

Diesmal war's kein Scharren; der Gefangene mochte sich wohl aus Furcht vor Entdeckung eines anderen Instrumentes bedienen. Wie gern würde er ihm zu Hilfe kommen! Aber auf welche Art? Da kam ihm ein guter Gedanke.

Der Wächter pflegte ihm stets in einer eisernen Kasserolle das Mittagsmahl zu bringen, um es in den für ihn bestimmten irdenen Suppennapf zu schütten. Nun stellte Edmond den Napf so nahe an die Tür, daß der Wächter beim Kommen dagegenstieß und ihn zerschlug. So war er denn gezwungen, ihm die Kasserolle zu lassen, falls er sich nicht die Mühe machen wollte, eine neue Schüssel zu holen. Mit dem Stiel dieser Kasserolle begann Edmond mit größtem Eifer, die Wand hinter seinem Bett zu bearbeiten. Plötzlich stieß er auf ein Hindernis und erkannte, daß es ein Balken war. Dieser Balken versperrte das ganze Loch, das Dantes eingegraben hatte. An solch ein Hindernis hatte der unglückliche junge Mann nicht gedacht.

»O Mein Gott? Mein Gott!« rief er. »Ich habe dich so inbrünstig gebeten und gehofft, daß du mich erhören werdest. O Gott! Nachdem du mir die Freiheit des Lebens, die Ruhe des Todes genommen und mich wieder ins Dasein zurückgerufen hast, mein Gott, habe doch Mitleid mit mir und laß mich nicht in Verzweiflung sterben.«

»Wer spricht zu gleicher Zeit von Gott und von Verzweiflung«, sprach eine Stimme, die wie aus dem Grab zu kommen schien.

Edmond fühlte, daß sich ihm die Haare auf dem Kopf sträubten.

»Ach,« stammelte er, »ich höre einen Menschen sprechen. In des Himmels Namen, sprechen Sie weiter, obwohl mich Ihre Stimme erschreckte. Wer sind Sie?«

»Wer sind Sie denn?« fragte die Stimme.

»Ein unglücklicher Gefangener!« erwiderte Dantes.

»Ihr Name?«

»Edmond Dantes, ein Seemann.« --

»Wie lange sind Sie schon hier?«

»Seit dem 28. Februar 1815.«

»Ihr Vergehen?«

»Ich bin schuldlos.«

»Doch wessen wurden Sie beschuldigt?«

»Für die Rückkehr des Kaisers konspiriert zu haben.«

»Wie? Ist also der Kaiser nicht mehr auf dem Thron?«

»Er hat 1814 zu Fontainebleau abgedankt und wurde auf die Insel Elba verwiesen. Seit wann aber sind Sie hier, daß Sie all das nicht wissen?«

»Seit 1811.«

Dantes schauderte; dieser Mann war vier Jahre länger als er im Gefängnis.

»Es ist gut, graben Sie nicht weiter,« versetzte die Stimme lebhaft; »nur sagen Sie mir, auf welcher Höhe befindet sich die Öffnung, die Sie hier gemacht haben?«

»Mit dem Boden gleichlaufend.«

»Wie ist sie verborgen?«

»Hinter meinem Bett.«

»Hat man Ihr Bett niemals abgerückt, seit Sie im Gefängnis sind?«

»Niemals.«

»Wo hinaus geht Ihr Zimmer?«

»Nach einem Korridor.«

»Und dieser Korridor?«

»Mündet im Hofe.«

»Ach!« seufzte die Stimme.

»O mein Gott! Was ist es denn?« rief Dantes.

»Ich habe mich geirrt; die Unvollkommenheit meiner Zeichnung betrog mich, der Mangel eines Kompasses war mein Verderben; ich habe die Mauer, die Sie durchgraben, für die der Festung gehalten.«

»Dann wären Sie aber an das Meer gekommen.«

»Das ist's, was ich wollte.«

»Und wenn es Ihnen gelungen wäre?«

»So hätte ich schwimmend eine der Inseln erreicht, die Schloß If umgeben, und -- ich wäre gerettet.«

»Hätten Sie so weit zu schwimmen vermocht?«

»Gott hätte mir die Kraft dazu gegeben, doch jetzt ist alles verloren.«

»Alles?«

»Ja. Verstopfen Sie wieder vorsichtig das Loch, arbeiten Sie nicht weiter und erwarten Sie von mir Nachricht.«

»Wer sind Sie, sagen Sie mir doch, wer Sie sind?«

»Ich bin... ich bin Nummer 27.«

»Sie trauen mir nicht?« fragte Dantes.

Edmond glaubte ein bitteres Lachen durch das Gewölbe zu vernehmen.

»Oh, ich bin ein guter Christ,« beteuerte er, da er fühlte, dieser Mensch wolle ihn verlassen; »ich schwöre es Ihnen bei Christus, daß ich mich eher umbringen ließe, als daß unsere Henker auch nur einen Schatten der Wahrheit bemerken sollten; aber in des Himmels Namen: entziehen Sie mir nicht Ihre Gegenwart, nicht Ihre Stimme, oder, ich schwöre es Ihnen, ich zerschlage meinen Kopf an der Mauer, und Sie haben dann meinen Tod auf dem Gewissen.«

»Wie alt sind Sie?« fragte der Unbekannte wieder. »Ihre Stimme scheint die eines jungen Mannes zu sein.«

»Ich weiß mein Alter nicht, denn ich habe die Zeit nicht gemessen, seit ich hier bin. Ich weiß nur so viel, daß ich neunzehn Jahre alt war, als ich am 28. Februar 1815 verhaftet wurde.«

»Noch nicht ganz fünfundzwanzig Jahre«, murmelte die Stimme, »Ha, in diesem Alter ist man noch kein Verräter.«

»O nein, nein! Ich schwöre es Ihnen!« versetzte Dantes. »Ich sagte es schon und wiederhole es: eher ließe ich mich in Stücke zerhauen, als daß ich Sie verriete!«

»Sie taten wohl daran, mit mir zu sprechen und mich zu bitten,« erwiderte die Stimme, »denn ich war dabei, einen andern Plan zu entwerfen und mich von Ihnen zu trennen. Allein Ihr Alter beruhigt mich, ich werde wiederkommen, harren Sie meiner.«

Mit größter Vorsicht deckte Edmond nun das Loch wieder zu und schob sein Bett davor. Dann überließ er sich ganz dem Gefühl seiner Freude. Vielleicht schlug nun die Rettungsstunde, und wenn nicht, so hatte er doch einen Gefährten: geteiltes Leid ist halbes Leid.

Tagsüber ging er voller Unruhe im Kerker auf und ab. Auch in der Nacht vernahm er kein Geräusch; dagegen am folgenden Morgen, als er eben sein Bett von der Wand gerückt hatte, vernahm er drei Schläge in gleichen Zwischenräumen und fiel auf seine Knie.

»Sind Sie es?« sagte er. »Ich bin bereit.«

»Ist Ihr Wärter schon fort?« fragte die Stimme.

»Ja,« antwortete Dantes, »er kommt erst abends wieder. Wir haben zwölf Stunden Zeit.«

Auf einmal schien ein Teil der Erde unter Dantes zu weichen, worauf er, halb in der Öffnung steckend, beide Hände stützte. Danach sah er im Grunde eines dunkeln Loches, dessen Tiefe er nicht ermessen konnte, einen Kopf, Schultern und endlich einen Menschen, der aus der Höhlung mit großer Beweglichkeit hervorstieg.

Dantes schloß den neuen Freund in die Arme und zog ihn zur Fensterluke hin, um ihn besser betrachten zu können. Er war von kleiner Statur, hatte graue Haare und einen langen, schwarzen Bart. Das kühngeschnittene Gesicht wie das kluge Auge verrieten, daß dieser Mann sich zeitlebens mehr geistigen Interessen hingegeben hatte denn anderen Dingen. Er schien ungefähr ein Alter von fünfundsechzig Jahren zu haben, obgleich seine Beweglichkeit etwas noch Jugendliches an sich hatte. Er dankte Edmond für alle Herzlichkeit, trotzdem seine Enttäuschung groß war, statt der ersehnten Freiheit einen zweiten Kerker zu finden.

»Lassen Sie uns fürs erste sorgfältig die Spuren meines Durchbruchs vertilgen. Unsere ganze Ruhe für die Zukunft hängt davon ab.«

Er betrachtete die Wand.

»Dieser Stein wurde sehr unachtsam abgelöst,« sagte er, den Kopf schüttelnd, »Sie haben keine Werkzeuge?«

»Haben Sie denn welche?« fragte Dantes erstaunt.

»Ich habe mir einige gemacht. Außer einer Feile habe ich alles, was ich bedarf: einen Meißel, eine Zange, einen Hebel.«

»Oh, ich wäre sehr neugierig, die Produkte Ihrer Geduld und industriellen Geschicklichkeit zu sehen«, sagte Dantes.

»Hier sehen Sie zuvörderst einen Meißel.«

Er zeigte ihm eine starke, scharfe Klinge mit einem Heft aus einem Stück Buchenholz.

»Womit haben Sie das gemacht?« fragte Dantes.

»Mit einem von den Bandnägeln meines Bettes. Mit diesem Werkzeug grub ich mir den Weg bis hierher; etwa fünfzig Fuß.«

»Fünfzig Fuß!« rief Dantes mit einer Art Schrecken.

»Ja, so weit sind wir voneinander getrennt. All meine Mühe ist nun leider umsonst gewesen, denn jener Korridor führt auf einen Hof, der voller Wachen ist.«

»Das ist wahr,« entgegnete Dantes, »allein dieser Korridor läuft nur an einer Seite meines Zimmers hin, und mein Zimmer hat vier.«

»Allerdings! Doch die nächste hier besteht aus Felsen, und jene andere muß rückwärts bis an die Wohnung des Gouverneurs reichen: wir würden da in den Keller fallen und wären gefangen. Die andere Seite geht -- warten Sie -- wohin geht die andere Seite?«

An dieser Wand befand sich die Fensterluke, mit Eisengittern versehen. Der Fremde schob den Tisch darunter und sagte zu Dantes:

»Steigen Sie auf.«

Dantes gehorchte, und die Absichten seines Gefährten erratend, reichte er ihm beide Hände. Dieser kletterte behender, als es sein Alter vermuten ließ, auf den Tisch, dann auf die Hände Edmonds und schließlich auf dessen Schultern. So vermochte er es, durch die Luke zu sehen. Einen Augenblick danach sprang er wieder herab.

»Oh, ich hab's vermutet!«

»Was haben Sie vermutet?« fragte Edmond.

»Daß die Außenwand eine Art Rundgang umgibt, auf dem die Patrouillen auf und ab gehen.«

»Haben Sie sich davon überzeugt?«

»Ja, ich sah einen Tschako und die Spitze eines Gewehrlaufs. Es ist also unmöglich, aus diesem Kerker zu entfliehen. Also geschehe Gottes Wille.«

Mit Rührung blickte Dantes dem Alten ins Gesicht.

»Wollten Sie mir nicht sagen, wer Sie sind?«

»O mein Gott, ja, wenn Ihnen etwas daran liegt, trotzdem ich Ihnen nicht nützen kann.«

»Oh, Sie können mich trösten und aufrichten, denn Sie scheinen ein Starker unter den Starken zu sein.«

Der Alte lächelte trübselig und sagte:

»Ich bin der Abbé Faria und seit 1811 im Schloß If gefangen. Drei Jahre vorher hab' ich in der Festung Fenestrelles gesessen. Im Jahre 1811 brachte man mich von Piemont nach Frankreich. Damals war Napoleon auf der Höhe seines Glanzes, und ich vermutete nicht, daß dieser Riese gestürzt werden könnte. Wer regiert denn jetzt in Frankreich?«

»Ludwig XVIII.«

»Ludwig XVIII., der Bruder Ludwigs XVI.? Die Beschlüsse des Himmels sind seltsam und geheimnisvoll! Welche Absichten hatte die Vorsehung, als sie den Mann erniedrigte, den sie erhoben, und den erhob, den sie erniedrigt hatte?«

Dantes fühlte Bewunderung für den Mann, der im Augenblick sein eigenes Schicksal vergaß, um sich mit den Geschicken der Welt zu beschäftigen.

»Weshalb hat man Sie gefangengenommen?«

»Weil ich davon träumte, daß es Napoleon gelingen würde, ein einiges Italien zu schaffen an Stelle all der kleinen Fürstentümer mit ihren Tyrannen.«

Dantes begriff dergleichen nicht und fragte nun schüchtern: »Sind Sie nicht der Priester, den man -- -- für krank hält?«

»Den man für verrückt hält, wollen Sie sagen, nicht wahr?« Dantes bewahrte ein verlegenes Schweigen.

»Ja, ja,« fuhr Faria mit einem bittern Lachen fort, »ja, ich gelte für einen Narren; ich unterhalte seit langer Zeit schon die Gäste dieses Gefängnisses und würde kleine Kinder belustigen, wenn es hier am Ort des Grauens Kinder gäbe.«

Dantes blieb einen Augenblick stumm und regungslos.

»Sie verzichten also auf die Flucht?«

»Ich halte sie für unmöglich; es hieße sich gegen Gott auflehnen, wollte man versuchen, was Gott nicht erfüllt wissen will.«

Dantes senkte den Kopf. Er freute sich so, einen Kameraden zu haben, daß er den Fehlschlag nicht mitzuempfinden vermochte. Er selber hatte niemals an Flucht gedacht; sie kam ihm ganz unmöglich vor. Da er nun aber diesen alten Mann geradezu hatte Beispielloses vollbringen sehen, wie sollte er mit seiner jungen Kraft sich nicht zu Ähnlichem entschließen können? Er sann einen Augenblick nach, dann sagte er:

»Ich hab' einen guten Einfall.«

Der Alte sah ihn fragend an.

»Der Korridor, den Sie durchgraben haben, um von Ihnen zu mir zu gelangen, geht in derselben Richtung wie die äußere Galerie, nicht wahr? Er kann nur etwa fünfzig Schritte davon entfernt sein.«

»Das höchstens.«

»Gut, wir graben gegen die Mitte des Korridors einen Weg wie den Arm eines Kreuzes; wir münden dann bei der äußern Galerie, töten die Wache und ergreifen die Flucht. Zum Gelingen dieses Planes bedarf es nur des Muts, den haben Sie, und ich will ihn gern beweisen.«

»Mein lieber, junger Freund.« sagte der Abbé, »von welcher Art mein Mut ist, will ich Ihnen sagen. Wohl liegt mir alles daran, meine Freiheit wiederzugewinnen, und keine Mühe und Beschwerde soll mir dafür zu groß sein. Aber -- um schuldlose Menschen anzugreifen und sie gar zu töten, ihnen Unrecht zu tun, wie man mir Unrecht getan, sehen Sie, dazu fehlt es mir an Mut.«

Dantes schwieg beschämt.

»Übrigens,« fuhr der Alte fort, »wenn man an alle berühmten Befreiungsversuche denkt, so waren es allemal die sorgsam vorbereiteten und nicht die gewaltsamen, die Erfolg hatten. Oft ist's ein glücklicher Zufall, der sie veranlaßt, und das sind die besten.«

»Warten wir also auf den glücklichen Zufall«, sagte Edmond leise.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo