Benedetto saß längst wieder hinter Schloß und Riegel. Mit der ihm eigenen Frechheit blieb er guten Mutes,

Benedetto saß längst wieder hinter Schloß und Riegel. Mit der ihm eigenen Frechheit blieb er guten Mutes, da er auf den mächtigen Beschützer baute.

Eines Tages wurde er ins Sprechzimmer geführt, wo Bertuccio seiner harrte.


»Benedetto! Dein Schicksal ruht in mächtiger Hand. Sei vernünftig und tue, wie man es dich heißt.«

Dann sprach Bertuccio noch ein Weile leise und eindringlich mit ihm und verließ das Gefängnis wieder.

Der Tag der Gerichtsverhandlung brach herein.

Villefort hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Erst gegen Morgen war er eingeschlafen. Die verglimmende Lampe weckte ihn durch ihr Knistern. Er sah seine Hände feucht und rot, als wären sie in Blut getaucht.

»Heute muß es sein! Das Schwert der Gerechtigkeit wird alle treffen, die schuldig sind, ohne Ausnahme.«

Dann klingelte er nach seinem Diener.

»Bestellen Sie der gnädigen Frau, daß ich sie in einer halben Stunde zu sprechen wünsche.«

Sorgfältig schwarz gekleidet, ein Bündel Akten unter dem Arm, stand er dann vor seiner Gattin, die ihn verwundert ansah.

»Madame,« sagte er kalt und ohne Umschweife, »Sie haben von dem Gift, dessen Sie sich zu bedienen pflegten, sicher noch den köstlichsten Tropfen aufgehoben. Bitte, diesen Tropfen sofort für sich zu verwenden.«

Frau von Villefort stieß einen Schrei aus, der wie ein Röcheln klang, und fiel in die Knie.

»Erbarmen, Erbarmen!« wimmerte sie.

»Wie,« rief der Prokurator, »Sie hatten den Mut, vier Menschenleben zu vernichten, und jetzt, wo es gilt, den letzten Rest von Ehre zu retten, da zeigen Sie sich feig? Ha, wahrlich! Giftmischer sind immer feig. Seit dem Tode der Frau von Saint-Méran wußten wir, daß wir einen Giftmischer im Hause hatten. Der Verdacht fiel -- Gott sei's geklagt -- auf einen Engel. Jetzt, nach Valentinens Heimgang, gibt's keinen Zweifel mehr. Da ich aber nicht will, daß Sie auf dem Blutgerüst enden, lasse ich Ihnen bis Mittag Zeit. Ich gehe jetzt, das Todesurteil über einen Mörder zu verhängen; treffe ich Sie bei meiner Rückkehr noch lebend an, so werden Sie die heutige Nacht im Kerker verbringen.«

»Spricht dies mein Gatte zu mir?« schrie die unglückselige Frau und wich voller Entsetzen mit hocherhobenen Armen zurück.

»Ihr Richter, Madame«, sagte Villefort eisig, verließ das Zimmer und schloß die Tür hinter sich ab.

Dann ging er, um unbestechlich weiter seines Amtes zu walten. Auf erhöhtem Platze saß er da, und aller Augen wandten sich ihm zu. Jetzt wurde der Angeklagte hereingeführt. Keck und unbekümmert begann er der Reihe nach alle Anwesenden zu mustern, und selbst Herrn von Villeforts strenger Blick vermochte es nicht, ihn dahin zu bringen, daß er die Augen niederschlug.

Nachdem die Anklage verlesen, fragte der Präsident: »Wie ist Ihr Vor- und Zuname, Angeklagter?«

»Verzeihung, Herr Präsident, wenn ich in einer etwas anderen Reihenfolge Ihre Fragen beantworte; Sie werden später begreifen, warum.

In einigen Tagen werde ich einundzwanzig Jahre alt sein, da ich in der Nacht vom 27. zum 28. September 1817 geboren bin.«

Herr von Villefort blickte unruhig auf.

»Wo wurden Sie geboren?«

»In Auteuil bei Paris.«

Herr von Villefort sah zum zweitenmal Benedetto an, als habe er ein Medusenhaupt erblickt.

»Ihr Gewerbe?« fuhr der Präsident fort.

»Erst war ich Falschmünzer, dann Dieb, und zuletzt wurde ich Mörder.«

Ein Sturm des Unwillens erhob sich im Saal.

»Werden Sie nun endlich Ihren Namen nennen?«

»Meinen Namen weiß ich nicht, wohl aber den meines Vaters.«

»Wer ist also Ihr Vater?«

»Mein Vater ist königlicher Prokurator«, versetzte Andrea ruhig.

»Königlicher Prokurator?« rief der Präsident stutzend.

»Ja, und er heißt Villefort.«

Ein Ausbruch des Zorns erhob sich im Saale, bis der Präsident mit lauter Stimme rief:

»Angeklagter! Sie treiben Ihren Spott mit der Justiz und erfrechen sich, hier ein Schauspiel zu geben.«

Zehn Personen drängten sich zu dem königlichen Prokurator, der gebrochen in seinem Lehnstuhl saß, und boten ihm Trost und Teilnahme.

Andrea hatte währenddessen sein Antlitz lächelnd der Versammlung zugekehrt; anmutig stützte er die Hand auf das Geländer des Anklageabteils und sprach:

»Da sei Gott vor, meine Herren, daß ich mir so etwas erlauben sollte. Man fragt mich nach meinem Namen; ich weiß ihn nicht. Was aber den Namen meines Vaters anbelangt, so heißt er Villefort.«

Die Worte des Angeklagten hatten eine Gewißheit, die erdrückend wirkte.

»Wollen Sie noch die näheren Umstände bei meinem Erscheinen in der Welt erfahren?« fuhr Benedetto fort. »Ich wurde geboren im ersten Stockwerk des Hauses Nr. 30, Rue de la Fontaine, in einem Zimmer, das mit rotem Damast ausgeschlagen ist. Mein Vater nahm mich in seine Arme, indem er zu meiner Mutter sagte, ich wäre tot und wickelte mich in eine Serviette, die mit einem H und einem N gezeichnet war; dann trug er mich in den Garten, wo er mich lebendig begrub.«

Ein Schauer durchrieselte alle Anwesenden, als sie sahen, daß die Sicherheit des Angeklagten mit dem Entsetzen des Herrn von Villefort zunahm.

»Woher wissen Sie alle diese Einzelheiten?« fragte der Präsident.

»Herr Präsident, ich will es Ihnen sagen. In jener Nacht hatte sich ein Mensch in den Garten geschlichen, der meinen Vater tödlich haßte und ihm auflauerte, um Blutrache an ihm zu vollziehen. Dieser Mann war in einem Gebüsch versteckt; er sah, wie mein Vater eben ein Kistchen in die Erde verscharrte, und versetzte ihm während dieser Arbeit einen Messerstich. Da er wähnte, das Kistchen enthalte einen Schatz, öffnete er die Grube und fand mich noch am Leben; dieser Mann trug mich nach dem Findelhause, wo man mich unter Nr. 37 einschrieb. Drei Monate darauf machte seine Frau, um mich zu holen, eine Reise von Rogliano nach Paris, reklamierte mich als ihren Sohn und trug mich fort. Sie sehen nun, daß ich in Auteuil geboren, doch in Korsika erzogen bin.«

Einen Augenblick lang herrschte ein so tiefes Stillschweigen, daß man den Saal für leer halten konnte.

»Und Ihre Mutter?« fragte der Präsident.

»Meine Mutter glaubte mich tot, sie ist nicht schuldig; ich verlangte ihren Namen nicht zu erfahren und weiß ihn nicht.«

In diesem Moment ertönte ein lauter Schrei, der in heißem Schluchzen endigte.

Eine Frau brach infolge eines heftigen Nervenanfalls zusammen und wurde aus dem Gerichtssaal getragen; während des Forttragens verschob sich der dichte Schleier, der ihr Gesicht verhüllte, und man erkannte Madame Danglars.

Auch Herr von Villefort hatte ungeachtet der Lähmung seiner Sinne, ungeachtet der Art Wahnsinn, der sein Ohr durchbrauste, jene Frau erkannt und sich emporgerichtet.

»Angeklagter, haben Sie für alle diese furchtbaren Beschuldigungen Beweise?«

»Beweise?« entgegnete Benedetto lächelnd. »Sie wollen Beweise? Blicken Sie dort Herrn von Villefort an.«

Alles sah zum königlichen Prokurator hin, der in den Kreis des Tribunals wankte.

Ein Murmeln ging durch den Saal.

»Man begehrt Beweise von mir, mein Vater,« sagte Benedetto, »soll ich sie geben?«

»Nein, nein!« stammelte Herr von Villefort mit gedämpfter Stimme. »Nein, es ist nicht nötig.«

»Nicht nötig?« fragte der Präsident. »Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich will damit sagen,« erwiderte der königliche Prokurator, »daß ich in der Hand Gottes, des Rächers bin. Es bedarf keiner Beweise; es ist wahr, was dieser junge Mann gesagt hat, und ich stelle mich in meinem Hause dem königlichen Prokurator zur Verfügung, der mein Nachfolger sein wird.«

Als er diese Worte mit dumpfer, fast erstickender Stimme sprach, schritt er wankend der Tür zu, die ihm der Türhüter diensteifrig öffnete.

Die ganze Versammlung blieb wie betäubt zurück. Der Präsident hob die Sitzung auf, da der Prozeß neu eingeleitet werden mußte.

Andrea, immer gleich ruhig, verließ den Saal unter dem Geleit der Gendarmen, die ihm unfreiwillig einige Rücksicht bezeigten.

»Dem werden mildernde Umstände bewilligt werden«, hörte man eine Stimme sagen. Andrea sah sich um und lächelte.

In einem bedauernswerten Zustande wankte Villefort durch die Korridore. Es trieb ihn zu seiner Frau. Eiligst öffnete er die Tür zu ihrem Zimmer. Da stand seine Gattin -- bleich, mit verzerrten Zügen -- und starrte ihm in furchtbarer Not entgegen.

»Um Gottes willen! Heloise, was ist geschehen?«

»Was du wolltest -- nun ist's vorbei«, antwortete die Frau mit schauerlich röchelnder Stimme und stürzte der Länge nach zu Boden.

Villefort kniete neben ihr und griff nach ihrer Hand, deren Finger krampfhaft ein kristallenes Fläschchen umklammert hielten.

Frau von Villefort war tot.

Halb von Sinnen vor Entsetzen sah Villefort die Leiche an, dann sprang er auf.

»Wo ist mein Sohn? Eduard! Eduard!«

Niemand wußte es zu sagen. Er rannte wieder zurück, um im Boudoir seiner Frau nachzusehen. Der Leichnam seines Weibes lag quer vor dem Eingang des Boudoirs, und es schien, als hielte er Wache an dieser Tür mit offenen, starren Augen und einer schauerlichen Ironie auf den Lippen.

Villefort mußte darüber hinweg, denn er sah durch den Vorhang sein Kind auf dem Diwan liegen.

Schlief es? War es tot? Der verzweifelte Vater nahm es in seine Arme, rief es an, drückte, schüttelte es. Vergeblich; es war kein Leben mehr in ihm. Da sah er einen Zettel an Eduards Bluse. Er las ihn in gieriger Hast.

»Aus Liebe zu meinem Sohn wurde ich zur Verbrecherin. Eine gute Mutter geht nicht ohne ihr Kind.«

Da brüllte der Unglückliche auf wie ein verwundetes Tier und eilte trostsuchend zum Vater, der mit friedlicher Miene auf die Worte hörte, die der Abbé Busoni zu ihm sprach.

Villefort sah den Geistlichen an, als müsse er sich besinnen, wen er vor sich habe.

»Ah, ich weiß: der Abbé Busoni. Sie spüren wohl aufs neue die Nähe des Todes?«

»Nein,« sprach der Abbé, sich hoch aufrichtend, »mich treibt heut ein anderes Verlangen. Ich komme, Ihnen zu sagen, daß Ihre Schuld nun gesühnt ist, und ich Gott bitten will, er möge es sich an dem Geschehenen genügen lassen, wie ich dies tun will.«

»Um Gott!« schrie Villefort auf. »Diese Stimme ... sie gehört nicht dem Abbé Busoni.«

»Nein!« erwiderte der Angeredete, riß die falsche Tonsur ab und schüttelte sein volles schwarzes Haar.

»Der Graf von Monte Christo!« keuchte Villefort.

»Auch der nicht, suche weiter und weiter.«

»Wer sind Sie denn?«

»Der Schatten eines Unglücklichen, den du in die Kerkernacht von Schloß If begraben hast. Diesem aus dem Grabe wieder erstandenen Schatten hat Gott die Maske des Grafen von Monte Christo verliehen und ihn mit Reichtümern überschüttet, auf daß du ihn nicht früher erkennen solltest.«

»Großer Gott! Jetzt begreife ich! Du bist Edmond Dantes.«

Damit packte Villefort den Grafen beim Arm, zog ihn mit sich fort und rief unermüdlich: »Komm, komm! Edmond Dantes!«

Endlich blieb er in dem Zimmer seiner Gattin stehen.

»Sieh! Edmond Dantes, sieh! Bist du zufrieden?«

Monte Christo stand tief ergriffen vor der Furchtbarkeit dieses Schicksalsschlages und fühlte mit Beben, daß er die Rechte seiner Rache überschritten hatte und nicht mehr sagen konnte: »Gott ist für mich und mit mir.«

Angstvoll neigte er sich über das Kind, nahm es auf seine Arme und trug es in die Wohnung Noirtiers, um noch Rettungsversuche anzustellen. Villefort, der ihn davongehen sah, schrie verzweifelt auf: »Mein Kind! Mein Kind! Er raubt mir mein Kind!«

Er wollte ihm nachstürzen, dann aber wurzelten seine Füße am Boden; er konnte sie nicht heben. In seinem Gehirn drehte und wälzte sich eine Masse von Leid und Schrecken, bis sie krachend zersprang. Da brach er in ein unsinniges Gelächter aus.

Monte Christo hatte sich vergeblich bemüht, das Kind ins Leben zurückzurufen. So kam er denn und legte die kleine Leiche beinahe demütig neben die tote Mutter hin. Dann fragte er nach Herrn von Villefort. Man wies ihn in den Garten. Da stand der Unglückliche mit einem Spaten in der Hand und grub -- und grub.

Monte Christo ging zu ihm und sagte mit leiser, schöner Stimme:

»Mein Herr, Sie haben Ihren Sohn verloren ....«

»Ah,« lachte Villefort, »ich werde ihn schon finden, und sollte ich graben bis zum Jüngsten Tag.«

Monte Christo wich entsetzt zurück: »Großer Gott! Er ist wahnsinnig!«

Dann eilte er hinweg, als hätte er zu befürchten, daß die Mauern dieses verruchten Hauses einstürzen und auch ihn zerschmettern könnten.

»Oh, genug, genug jetzt der Rache! Suchen wir den letzten zu retten.«

Als Monte Christo nach Hause kam, empfing ihn Morrel, der nun ganz bei dem Grafen wohnte.

»Maximilian, morgen verlassen wir Paris.«

»Haben Sie hier nichts mehr zu tun?« fragte der junge Mann.

»Nein.« erwiderte der Graf, »wollte Gott, ich hätte nicht schon zuviel getan.«

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Der Graf von Monte Christo